Zum Inhalt:
Unterstützen Sie Manova mit einer Spende
Unterstützen Sie Manova
Der gescheiterte Utopist

Der gescheiterte Utopist

Der Begründer der Sowjetunion Wladimir Iljitsch Lenin liegt nun seit 100 Jahren einbalsamiert in einem Moskauer Mausoleum. Noch heute werden ihm zu Unrecht die Verwerfungen in der UdSSR angelastet.

Rache für den großen Bruder und eine Partei neuen Typs

Wladimir Iljitsch kommt nicht aus armen Verhältnissen. Seine Eltern waren kultivierte Bildungsbürger in der Provinz. Zartere Gefühle konnte er hier durchaus ausleben. Mit achtzehn Jahren wurde er Zeuge, wie sein älterer Bruder Alexander zum Tode verurteilt wurde. Der große Bruder hatte versucht, seinen Namensvetter, den Zaren Alexander III. mit Dynamit umzubringen, war dabei aber schon vorher von der Polizei abgefangen worden. Eindringliche Appelle und Gnadengesuche nützten nichts. Der Bruder wurde gehängt.

Lenin tat ab jetzt alles, um das verhasste Zarentum loszuwerden. In der Tat waren die sozialen Ungleichheiten zu jener Zeit enorm. Reformen wären dringend notwendig gewesen, wurden aber konsequent vermieden. Die immer deutlicher zutage tretenden Spannungen wurden kanalisiert. Als Blitzableiter mussten die Juden herhalten. Der zaristische Geheimdienst Ochrana übte härteste Repression gegen Kritiker der führenden Familien aus. Immerhin bildete sich so langsam unter widrigen Umständen eine sozialdemokratische Partei heraus. Daneben gab es anarchistische Strömungen. Oftmals verbunden mit einem romantischen Kult um die Bauern und das naturbelassene einfache Leben auf dem Lande.

Lenin scharte in der sozialdemokratischen Partei Russlands Marxisten um sich. Das Vorbild für die russischen Sozialdemokraten war die deutsche SPD. Damals die größte Arbeiterpartei Europas. Ein Machtfaktor in Deutschland, an dem sich selbst der langjährige Alleinherrscher Otto von Bismarck die Zähne ausgebissen hatte und deswegen vom jungen Kaiser Wilhelm II. in die brandenburgische Wüste gejagt wurde (1). Doch war auch von außen nicht zu übersehen, dass es sich die deutschen Sozialdemokraten schon damals ganz komfortabel im System eingerichtet hatten. Vornehmlich Facharbeiter, die sogenannte „Arbeiter-Aristokratie“, übernahmen politische Ämter und arrangierten sich mit den konservativen oder reaktionären Mächtigen in ihrer Stadt und begannen, mit diesen zu kungeln. Heinrich Mann hat diese Kungelei zwischen dem Monarchisten Dietrich Hessling und dem Sozialdemokraten Napoleon Fischer in seinem Roman „Der Untertan“ anschaulich geschildert (2).

Die Sozialdemokraten waren eigentlich angetreten, um im Sinne von Karl Marx und Friedrich Engels den Kapitalismus durch einen Sozialismus abzulösen. In der Praxis ging es aber zunehmend nur noch darum, das Leben der Arbeiter im Kapitalismus ein bisschen angenehmer zu gestalten. Hier mal etwas mehr Lohn, dort den Aufbau einer Einkaufsgenossenschaft. Die Sozialdemokratie als dialektischer Gegenpart zu den Kapitalisten sorgte eigentlich eher dafür, die Betriebsblindheit der von unersättlicher Profitgier angetriebenen Kapitalisten aufzuheben und die Zuspitzung des Klassengegensatzes durch ungebremste Kapitalkonzentration zu verhindern. Karl Marx ging ja davon aus, dass die Kapitalkonzentration zu einer zunehmenden Verelendung der unteren Schichten führen würde.

Eine Revolution würde sodann zur Diktatur des Proletariats führen. Und sodann zur Auflösung jeder Klassenherrschaft. Genau das verhinderten nun die Sozialdemokraten, indem sie der Verelendung durch soziale Reformen entgegensteuerten.

Wir sehen heute, dass solche Errungenschaften der Arbeiterbewegung nicht in Stein gemeißelt sind. Vielmehr versucht die herrschende Klasse immer wieder, diese Errungenschaften rückgängig zu machen.

Das waren auch Lenins Bedenken. Was tun, fragte sich Lenin und schrieb im Jahre 1902 ein Buch mit eben diesem Titel (3). Seine Hauptthese: die Arbeiter würden immer nur gewerkschaftliche Forderungen und Ziele formulieren („Trade-Unionismus“ heißt das im Original). Das Proletariat entwickele aus sich selbst heraus keine geschichtliche Perspektive. Die Arbeiter würden immer nur höhere Löhne oder eine Humanisierung der Arbeitswelt fordern. Es bedarf sozusagen gefallener Engel aus der Oberschicht, die ihre akademische Bildung mitbringen und den Kämpfen der Arbeiter erst eine Langzeitperspektive vermitteln oder quasi aufpfropfen. Die revolutionär gewendeten Akademiker würden den Arbeitern erst das Bewusstsein vermitteln, dass ihr alltäglicher Kampf nur einen Sinn hat, wenn er dazu führt, dass die bürgerliche Klasse von der Arbeiterklasse gestürzt und entmachtet wird.

Folglich ist Basisdemokratie hier fehl am Platz. Vielmehr müssen die großräumigen Strategien zur Überwindung des Kapitalismus von außen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden. Das kann nur eine ultra-elitäre „Partei neuen Typs“ bewerkstelligen. Folgerichtig bestimmt ein Zentralkomitee aus überlegener Intellektualität heraus, wer für Leitungsaufgaben geeignet ist. Zeitungen und Bücher sollen sagen, wo es lang geht. Redner und Agitatoren tragen die langfristige geschichtsphilosophische Perspektive in den alltäglichen Daseinskampf hinein. Nur so kann langfristig der Kapitalismus überwunden werden. Und nicht mit vorgeblich „systemüberwindenden Reformen“ (4). Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Und das galt auch für den Umgang mit der russischen Sozialdemokratie. Lenin und seine Mitstreiter bildeten eine eigene Gruppe innerhalb der Sozialdemokratie. Da sich Lenins Sympathisanten in der Sozialdemokratischen Partei Russlands in der Mehrheit befanden, nannten sie sich Bolschewiken, also auf Deutsch in etwa: die Leute von der Mehrheitsfraktion. Sie grenzten sich ab gegen die Minderheitsfraktion, die Menschewiki. Kompromissloser als bisher kämpften jetzt die Mehrheitssozialisten gegen das verhasste Zaren-Regime. Das hatte zur Folge, dass auch Lenin sich bisweilen in der sibirischen Verbannung wiederfand oder auch mal einige Jahre ins Exil nach Deutschland oder die Schweiz gehen musste. Was auch zeigt, wie gut die Arbeiterbewegung damals international vernetzt war. Denn Lenin fand in all diesen Ländern Menschen, die ihm und seiner Frau Wohnungen und Geld zum Überleben verschafften. In Zürich wurde Lenin sogar eine Wohnung besorgt, die sich in komfortabler Nähe zur Bibliothek befand.

Wir wollen nicht unerwähnt lassen, dass die Exil gewährenden Staaten sich stets aufs Neue ein gewisses Reservoir an Dissidenten aus anderen Ländern bereitgehalten haben, um in anderen Ländern immer mal wieder einen Regime Change inszenieren zu können. So hatte auch Großbritannien schon dem deutschen Revolutionär Karl Marx großzügig Asyl gewährt, um im Falle des Konflikts mit Deutschland Marx quasi als Regime Change-Waffe einsetzen zu können. Wir werden noch lesen, wie Lenin von Deutschland als Waffe gegen den russischen Zaren eingesetzt wurde.

Walter Lippmann als „Schüler“ Lenins

Doch zunächst ein paar Worte zum demokratiefreien Elite-Konzept Lenins. Die linke Opposition zum kapitalistischen Establishment hat immer wieder eben jenes Establishment gezwungen, seine eigenen Positionen und Strategien zu überdenken. Ohne dieses linke Korrektiv wäre der Kapitalismus wahrscheinlich längst implodiert. Die Sozialdemokratie zwang die Kapitalisten dazu, den Arbeitern immer mehr Zugeständnisse zu machen. Und damit, wie gesagt, die marxistische Verelendungstheorie in der Praxis zu widerlegen. Die Fabian Society in Großbritannien und mächtige Kreise in den USA kopierten das sozialdemokratische Modell und brachten nun selber soziale Reformen auf den Weg, die den Untergang des Kapitalismus durch allzu krasse soziale Ungleichheiten verhindern sollten.

Doch auch Lenins elitäres Parteikonzept fand seine kapitalistischen Nachahmer. Der Lenin des US-Kapitalismus heißt Walter Lippmann. Lippmann war als junger Akademiker ein Anhänger sozialistischer Ideen. Später jedoch verabschiedete sich Walter Lippmann konsequent von linkem Gedankengut. Lenins Elitekonzept adaptierte Lippmann allerdings auf den US-Kapitalismus. In seinem enorm einflussreichen Buch „Die Öffentliche Meinung“ aus dem Jahre 1922 vertritt Lippmann Thesen, die strukturell entlehnt sind aus Lenins Buch „Was tun?“, das genau zwanzig Jahre zuvor erschienen war (5). Lippmann sagt: Das einfache Volk kann gar nicht wissen und beurteilen, was für eine sinnvolle Politik nützlich und hilfreich ist.

Auch die gewöhnlichen Parlamentarier haben immer nur die Interessen ihres Wahlkreises im Sinn. Eine geschichtliche Perspektive kann so nicht entstehen, ganz zu schweigen von einer intelligenten, strategisch angelegten Politik. Die Grundzüge der Politik können nur hoch qualifizierte Experten bestimmen, die die Regierung beraten und lenken. Dem Volk muss alles so vorgekaut werden, dass die Menschen draußen im Lande nur noch mit „ja“ oder „nein“ abstimmen können. Aber auch diese Mehrheitsmeinung muss bereits vorher in erlauchten diskreten Kreisen hergestellt worden sein („maufacturing consent“).

Lippmanns Lenin-Plagiat führte zu einer atemberaubenden Effizienzsteigerung der kapitalistischen Regierungskunst („Governance“). Bis dahin hatten die Mächtigen mehr aus dem Bauch heraus regiert. Jetzt wurden die besten Akademiker zusammengebracht, die langfristige Strategien für ihre Auftraggeber entwickelten. Medienleute, Hochschullehrer und Verbandsfunktionäre verbreiteten nun diese von unsichtbaren Eliten hergestellten Strategien und Meinungen in der Bevölkerung. Es entstand in diesem Sinne ein international agierendes Netzwerk angloamerikanischer Eliten, das konzentrisch um den New Yorker Council on Foreign Relations organisiert war und immer noch in Ansätzen ist (6). Und während der sowjetische Elitismus in seiner zunehmenden Erstarrung der Stalin-Ära implodiert ist, feierte bis vor Kurzem die elitäre Governance der USA weltweit beeindruckende Erfolge. Eine bittere Ironie des Leninismus.

Doch zurück zu Lenins Werdegang! Der Erste Weltkrieg ist für Europa eine schmerzhafte Zäsur. Die zuvor beinahe allmächtigen Führungsnationen Europas zerfleischen sich gegenseitig. Und verschulden sich dabei hoffnungslos bei den großen Finanzhäusern der USA, allen voran beim Bankenkonsortium unter der Führung von JP Morgan. Die sozialistischen Parteien Europas sind sehr besorgt, dass sich hier Arbeiter und Bauern der Krieg führenden Länder gegenseitig in der offenen Feldschlacht niedermetzeln. In der Schweiz treffen sich die Vertreter der europäischen Nationen, um im Zimmerwalder Manifest den sofortigen Friedensschluss und die Selbstbestimmung der Völker zu fordern. Auch wird in diesen Kreisen diskutiert, ob man nicht durch die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa zukünftig kriegerische Konflikte vermeiden kann. Bei dieser Gelegenheit tritt Lenin mit einem kurzen Aufsatz in Erscheinung, in dem er die Idee einer europäischen Staatengemeinschaft verwirft. Es sei nicht damit getan, als Voraussetzung eines geeinten friedlichen Europas in erster Linie die Abschaffung der Monarchien in Deutschland, Österreich und Russland zu fordern. Kriege entstünden aus dem unterschiedlichen Entwicklungstempo der kapitalistischen Staaten. Und da habe sich in den letzten Jahrzehnten einiges getan:

„Es kann nicht anders geteilt werden als ‚entsprechend der Macht‘. Die Machtverhältnisse ändern sich aber mit dem Gang der ökonomischen Entwicklung. Nach 1871 erstarkte Deutschland etwa drei- bis viermal so rasch wie England und Frankreich, Japan annähernd zehnmal so rasch wie Rußland. Um die tatsächliche Macht eines kapitalistischen Staates zu prüfen, gibt es kein anderes Mittel und kann es kein anderes Mittel geben als den Krieg. Der Krieg steht in keinem Widerspruch zu den Grundlagen des Privateigentums, er stellt vielmehr eine direkte und unvermeidliche Entwicklung dieser Grundlagen dar. Unter dem Kapitalismus ist ein gleichmäßiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung einzelner Wirtschaften und einzelner Staaten unmöglich. Unter dem Kapitalismus gibt es keine anderen Mittel, das gestörte Gleichgewicht von Zeit zu Zeit wieder herzustellen, als Krisen in der Industrie und Kriege in der Politik.“ (7)

Daran hat sich offenkundig bis heute nichts geändert, wie man am Konflikt zwischen den USA und China sehen kann. Eine europäische Union ist also nach Lenins Meinung keine geeignete Vorsorge gegen Kriege. Das kann schon deswegen nicht mehr der Fall sein, weil Europa im Jahr 1915 nicht mehr der einzige Global Player ist.

Wenn erst einmal das Proletariat in einzelnen Ländern die Herrschaft an sich reißt, dann würden die Beziehungen zu noch kapitalistischen Ländern von dieser Systemkonkurrenz geprägt sein. Das ganze Szenario spielt sich dann sowieso auf globaler Bühne ab.

Lenin als Theoretiker des Imperialismus

Damit kommen wir zu Lenins theoretischer Leistung, die bis heute nichts an Aktualität verloren hat. In der friedvollen Schweizer Metropole Zürich kann der russische Revolutionär im Jahre 1916 sein Buch „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ in aller Ruhe niederschreiben (8). Seit den Lebzeiten von Karl Marx und Friedrich Engels hatte sich die Welt radikal verändert. Die Industrieunternehmen hatten sich rasch zu großen Konzernen erweitert. Banken und Börsen wurden immer wichtiger. Und diese Einrichtungen arbeiteten an der Bildung von Kartellen. Und vor allem geschah diese Kartellbildung immer rascher auf internationaler Bühne. Kapital wurde beweglich und der Kapitalexport wurde zunehmend wichtiger.

Während früher die europäischen Großmächte sich die Rosinen anderer Kontinente ungestört herauspicken konnten, sind die kolonialen Claims zu Lebzeiten Lenins bereits vollständig abgesteckt. Wer jetzt noch kolonialen Besitz erwerben will, kann das nur noch auf Kosten anderer Kolonialmächte tun. Das heißt also, kriegerische Raubzüge. Lenin ist redlich genug zu markieren, was er von dem deutschen sozialdemokratischen Theoretiker Rudolf Hilferding übernommen hat, und wo er selber weitergedacht hat. Lenins Theorie über den modernen Imperialismus ist bis auf den heutigen Tag gültig.

Und während Lenin unter sehr bescheidenen Verhältnissen in Zürich seinen Update des Marxismus vornimmt, kommt ausgerechnet der Generalstab der deutschen Streitkräfte unter der Leitung von Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff auf die glorreiche Idee, die Bolschewisten und ihren charismatischen Anführer Lenin für einen Regime Change im zaristischen Russland einzusetzen. Denn Deutschland führt zu jener Zeit einen unheilvollen Zwei-Fronten-Krieg. Im Westen schlägt man sich mit Frankreich, Großbritannien und Italien herum. Im Osten müssen sich die deutschen Streitkräfte mit den Truppen Russlands auseinandersetzen. Und Deutschland hat als vermeintliche Verbündete zwei Invalide mitzuschleppen. Österreich-Ungarn ist ein heterogenes Völkergemisch mit zweifelhafter Loyalität seiner diversen Staatsbürger. Und das Osmanische Reich wird eh schon verspottet als der „Alte Mann vom Bosporus“.

Es liegt also nahe, sich der Front im Osten zu entledigen. Deswegen soll der Bolschewik Lenin die Zaren stürzen und dann einen Frieden mit Deutschland auf den Weg bringen. Die Kontaktanbahnung verläuft behutsam. Währenddessen hat Lenin noch Zeit, in der Stille der finnischen Wälder sein Buch „Staat und Revolution“ zu schreiben (9). In diesem Buch betont er noch einmal die Unvermeidlichkeit der Diktatur des Proletariats, die auf die Diktatur der Bourgeoisie folgen soll. Der Staat, so Lenin, ist immer das Instrument, durch das die herrschende Klasse ihre Herrschaft organisiert und befestigt. Das kommt zwar im Gewand der Demokratie daher, dient aber nur dazu, die Interessen der herrschenden Klasse zu bedienen. Erst wenn auf der ganzen Welt die Diktatur des Proletariats durchgesetzt ist, wird der Staat ganz von selber absterben.

Staatliche Organe wie Polizei und Militär sind dann überflüssig, weil es keine relevanten Unterschiede mehr gibt im Besitz. Der Staat ist also zunächst unverzichtbar, um die Herrschaft der Arbeiterklasse zu sichern. Und um den Kapitalismus endgültig auszumerzen, braucht man auch nicht zimperlich zu sein. Dann entwickele sich die klassenlose Gesellschaft quasi naturwüchsig:

„Schließlich macht allein der Kommunismus den Staat völlig überflüssig, denn es ist niemand niederzuhalten, ‚niemand‘ im Sinne einer *Klasse, im Sinne des systematischen Kampfes gegen einen bestimmten Teil der Bevölkerung. Wir sind keine Utopisten und leugnen durchaus nicht die Möglichkeit und Unvermeidlichkeit von Ausschreitungen einzelner Personen und ebenso wenig die Notwendigkeit, solche Ausschreitungen zu unterdrücken. Aber erstens bedarf es dazu keiner besonderen Maschine, keines besonderen Unterdrückungsapparates; das wird das bewaffnete Volk selbst mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit bewerkstelligen, mit der eine beliebige Gruppe zivilisierter Menschen sogar in der heutigen Gesellschaft Raufende auseinanderbringt oder eine Frau vor Gewalt schützt. Zweitens wissen wir, daß die soziale Grundursache der Ausschreitungen, die eine Verletzung der Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens bedeuten, in der Ausbeutung der Massen, ihrer Not und ihrem Elend zu suchen ist. Mit der Beseitigung dieser Hauptursache werden die Ausschreitungen unvermeidlich ‚abzusterben‘ beginnen. Wir wissen nicht, wie rasch und in welcher Folge das geschehen wird, aber wir wissen, daß sie absterben werden. Mit dem Absterben der Ausschreitungen wird auch der Staat absterben.“* (10)

Lenin als Akteur eines Regime Change

Die erzreaktionäre deutsche Generalität macht es möglich, dass Lenin jetzt von der Theorie zur Praxis übergehen kann. Die deutschen Militärs verfrachten Lenin und seine Entourage in einem verplombten Zug aus der Schweiz quer durch Deutschland nach Strahlsund. Dort steigt Lenin, begleitet von seiner Frau, seiner Schwiegermutter und seiner aktuellen Geliebten, sowie seinen politischen Mitstreitern und zugestiegenen internationalen Sympathisanten auf eine Fähre. Und weiter geht es im Zug über Schweden und Finnland in die Heimat. Die russische Hauptstadt Sankt Petersburg heißt jetzt seit dem Frühjahr Petrograd. Der Zar hatte abgedankt, und eine Koalitionsregierung unter dem Fürsten Georgi Jewgenjewitsch Lwow führt gewisse bürgerliche Freiheiten ein, öffnet die Straflager und Gefängnisse. Die nach Sibirien verbannten Revolutionäre strömen jetzt zurück in die Städte.

Der Krieg Russlands gegen die Mittelmächte wird indes mit unverminderter Härte fortgeführt. Amerikanische Bankenkonsortien schaufeln Geld in das republikanische Russland. Antideutsche Propaganda soll nach dem Vorbild des US-amerikanischen Council on Public Information die russische Bevölkerung gestimmt machen für weitere Kriegsanstrengungen. Da beginnt die deutsche Wunderwaffe Lenin zu wirken. Denn der Bolschewist stellt in seinen Aprilthesen klar, dass der Krieg sofort beendet werden und die Macht an die Arbeiterräte übergeben werden muss. Lenin steht jetzt sehr viel Geld zur Verfügung. Zeitungen, Flugblätter und Agitatoren bearbeiten die Massen im Sinne Lenins.

Bis heute ist nicht einwandfrei geklärt, woher die Bolschewisten plötzlich solche üppigen Geldmittel bekommen hatten. Aber alles spricht dafür, dass das Geld aus Deutschland gekommen ist. Und es ist wahrlich kein großes Kunststück, die kriegsmüden Russen für den Friedensschluss mit Deutschland zu gewinnen. Und so ist die Oktoberrevolution ohne größere Anstrengungen leicht zu bewerkstelligen. Im Gegensatz zu dem heterogenen Block um Regierungschef Alexander Fjodorowitsch Kerenski haben die Bolschewisten eine klare Agenda.

Von nun an geht aber so ziemlich alles schief, was schief gehen kann. Bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk bilden sich die deutschen Militärs ein, sie könnten den Bolschewisten ganz kackfrech unerträgliche Maximalforderungen aufoktroyieren. Doch Hochmut kommt vor dem Fall. Denn schon im Herbst 1918 muss Deutschland vor den Westmächten kapitulieren. Jetzt attackieren die Westmächte von allen Seiten her das bolschewistisch gewendete Russland, zum Teil auch mit Rest-Personal aus den deutschen Streitkräften. Es entbrennt ein grausamer Krieg mit äußerst heterogenen Kriegsparteien. Dass schließlich die Bolschewisten diesen Krieg für sich entscheiden können, hat sicher damit zu tun, dass die Mehrheit der Russen mit den Bolschewisten sympathisiert und die Gegner kein klar definiertes Kriegsziel haben, untereinander zutiefst zerstritten sind, und die Korruption jede Disziplin untergraben hat.

Übrig bleibt ein rauchender Trümmerhaufen, da wo sich vorher Russland befand. Der Wiederaufbau gestaltete sich äußerst kompliziert. Lenin, nunmehr unangefochtener Herr der Lage, erkennt, dass er das Land mit rigorosen Enteignungen nicht aus dem Elend herausführen kann. Er verkündet die Neue Ökonomische Politik. Jetzt ist unternehmerische Initiative gefragt. Die Bauern können ihre Produkte wieder unreguliert vermarkten – was eben auch das Potential erneuter sozialer Ungleichheiten in sich birgt. Eine Gold gedeckte Währung wird eingeführt. Und die neu gegründete Ruskombank lädt internationales Kapital ein, in der Sozialistischen Russischen Föderation zu investieren.

Ja. Die internationale kapitalistische Staatenwelt hat jetzt erkannt, dass die Bolschewisten als regionaler Ordnungsfaktor gar nicht so schlecht sind. Hauptsache, es ist ein verlässlicher Ansprechpartner vor Ort, der für geordnete Lieferung billiger Rohstoffe zuständig ist.

Und die USA brauchen dringend billige Rohstoffe, um die neue Mobilität mit Automobilen, die von fossilen Kraftstoffen angetrieben werden, auf den Weg zu bringen. In den USA entbrennt ein erbitterter Kampf der Konsortien um das sowjetische Öl. Sinclair Oil, das zunächst den Vertrag mit der kommunistischen Ölförderfirma Azneft bekommen soll, wird durch eine schmutzige Intrige, der sogar der US-Präsident Warren G. Harding zum Opfer fällt, vom Rockefeller-Clan verdrängt (11). Der Wall Street-Unternehmer Averell Harriman beutet Mangan aus, und Henry Ford baut Autos im bolschewistischen Russland. Deutschland schließt mit den Kommunisten den Vertrag von Rapallo (12).

Damit sind wir wieder am Anfang unserer Erzählung. Denn Lenin wurde bereits im Jahre 1918 Opfer eines Attentats. Eine basisdemokratische Aktivistin hatte drei Schüsse auf Lenin, der Personenschutz bis dahin ablehnte, abgefeuert. Eine Kugel durchdrang ohne größeren Schaden die Haut. Doch zwei weitere Kugeln blieben in Lenins Rücken stecken. Lenin wollte nicht im Krankenhaus operiert werden. Es wurde sogar spekuliert, dass sich in den Gewehrkugeln giftige Substanzen befanden. Zunächst jedoch erholte sich Lenin schnell wieder und kehrte zur Arbeit zurück. Doch ab 1920 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand immer mehr. Lenin konnte irgendwann nicht mehr an den wichtigen Sitzungen teilnehmen. Dann kam Stalin am Abend zu Lenin und berichtete, was man so alles in seiner Anwesenheit beschlossen hatte. Immer seltener konnte Lenin durch Erlasse direkt in das Geschehen eingreifen. Bis er schließlich aufgrund der Schlaganfälle gar nichts mehr sagen konnte. Er schrieb dem groben Stalin noch, er solle sich nicht so flegelhaft zu seiner Frau Nadeschda verhalten. Das alleine zeigt bereits, wie wenig Lenin in den letzten zwei Lebensjahren noch zu bestimmen hatte.

Was nach Lenins Tod kam, war keineswegs eine logische Fortsetzung seiner Politik. Was dann kam, war eine markante Abweichung von Lenins Weg. Der Georgier Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, besser bekannt als Stalin, konnte seinen Rivalen Leo Trotzki aus dem Revier vertreiben. Die Neue Ökonomische Politik wurde abgeschafft. Stattdessen setzte Stalin eine Planwirtschaft durch, die sich auf alle möglichen Bereiche ausdehnte, wo sie nun partout nicht hingehörte. Oberstes Ziel war jetzt die möglichst rasche Umwandlung der Sowjetunion von einem rückständigen Bauernland hin zu einem supermodernen Industriestaat. Ohne Rücksicht auf menschliche Bedürfnisse möglichst schnell aus der Unterlegenheit gegenüber dem entfalteten kapitalistischen Ausland herauskommen.

Stalin arbeitete zu diesem Zweck eng mit US-amerikanischen und deutschen Konsortien zusammen, die ganze Städte wie Magnitogorsk aus dem Boden stampften. Und wo Arbeiter wegen der unwirtlichen Verhältnisse nicht arbeiten wollten, da setzte Stalin Zwangsarbeiter ein. Menschen wurden rücksichtslos verheizt für den technischen Fortschritt. Dabei verhielt sich Stalin selber immer psychotischer und unterwarf seiner bürokratischen Vernichtungsmaschine auch ehemalige Mitstreiter. Das Ergebnis ist bekannt: ein verknöcherter, absolut unflexibler Machtapparat, in dem abgerichtete Bioroboter Befehle ausführten. Das konnte nur implodieren.

Dieses Geschehen hatte dann aber auch nichts mehr mit Lenin zu tun. Und es ist unfair, Lenin die Verbrechen Stalins in die Schuhe zu schieben. Lenin hat stattdessen mit dazu beigetragen, die politische Landschaft am Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts neu zu gestalten. Er hat versucht, den Traum von einer herrschaftsfreien Gesellschaft wissenschaftlich und strategisch zu unterstützen.

Er ist aber an den Realitäten seiner Zeit kolossal gescheitert. Er ließ sich mit den geopolitischen Mächten ein und musste plötzlich ganz ungewohnte neue Schachzüge ausprobieren. Dabei ist seine Verteidigungslinie komplett zusammengebrochen. In den Wirren des Bürgerkriegs bekam die Brutalisierung auf allen Seiten eine Dynamik, die jedem Humanismus Hohn spricht.

Lenin ist jetzt mumifiziert und in den Geschichtsbüchern eingelegt wie ein getrocknetes Ahornblatt. Wir dürfen gespannt sein, ob Lenin eine Renaissance erleben wird.


Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://apolut.net/history-bismarck-oder-wilhelm-ii-wer-hat-schuld-am-niedergang-deutschlands/
(2) Heinrich Mann: Der Untertan. Frankfurt/Main 1996
(3) https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/
(4) „Systemüberwindende Reformen“ war tatsächlich eine Losung der Jungsozialisten, der Nachwuchsorganisation der SPD, als Antwort auf den revolutionären Impetus der 68er Bewegung.
(5) https://monoskop.org/images/b/bf/Lippman_Walter_Public_Opinion.pdf
(6) https://www.telepolis.de/features/Der-Klub-der-Weisen-Maenner-3419681.html
(7) http://www.mlwerke.de/le/le21/le21_342.htm
(8) https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/imp/index.htm
(9) https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/staatrev/kapitel2.htm
(10) ebd. Die Rechtschreibung der Quelle wurde nicht verändert.
(11) https://apolut.net/history-der-raetselhafte-tod-des-praesidenten-harding/
(12) https://apolut.net/history-100-jahre-vertrag-von-rapallo/

Weiterlesen

Töten und verhungern lassen
Thematisch verwandter Artikel

Töten und verhungern lassen

Die Rüstungsausgaben der NATO sind 3,9-mal höher als die Russlands, die USA nicht mitgerechnet. Das ist ein Verbrechen — nicht nur an den unmittelbaren Kriegsopfern.