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Der Kunst-Tausendsassa

Der Kunst-Tausendsassa

Das Werk Friedensreich Hundertwassers ist ein Protest gegen architektonische Tristesse, ein Plädoyer für ein Recht auf Schönheit.

Der Maler stand ganz nackt im Raum, schmächtig, bärtig und mit Brustbehaarung, wie ihn Gott geschaffen hatte. Neben ihm zwei attraktive junge Damen, dunkelhaarig und blond, beide ebenfalls nackt. Es war keine Sauna, kein FKK-Strand und kein privates Wohnzimmer, wo das Event stattfand, es waren öffentliche Räume der Galerie Hartmann in München.

Man schrieb das Jahr 1967. Der Künstler sprach zu den Anwesenden. Seine Rede war ein Kunstwerk; nicht nur die Worte, sondern auch Inszenierung und Setting. Kunst liebte es schon immer zu provozieren. Dieses Event, bekannt als Hundertwassers „Nacktrede für das Anrecht auf die dritte Haut“ machte jedoch auch innerhalb der abgebrühten Kunstwelt Furore. Die dritte Haut, das sind die Gebäude, die uns umgeben (zweite Haut = Kleidung), die also nichts Fremdes sind, sondern unbedingt Teile unseres Selbst, die uns schützen, wärmen und freundlich zu uns sprechen sollten, statt einen eher niederdrückenden Einfluss auszuüben.

„Ich persönlich werde krank, wenn ich so durch die Gassen gehe, die alle gleich sind, und wo die Fenster alle gleich sind. Ich persönlich, ich halte das nicht mehr aus“, rief der Maler seinem Publikum entgegen. „Und ich wundere mich, dass die Menschen jeden Tag durch diese Straßen gehen, die alle geradlinig sind, und dass kein Mensch protestiert.“

Ein Querulant? Nein, einer der zeigte, wie es besser geht. Unzählige Werke auf den Gebieten Malerei, Holzschnitt, Druckgrafik, Tapisserie, Architektur, Stadtgestaltung, Aktionskunst und Essay sind seither entstanden. Hundertwasser darf somit als einer jener Künstler im 20. Jahrhundert gelten, der am stärksten verändernd auf das Lebensumfeld vieler Menschen – auch abseits der Galerien – eingewirkt hat.

Die graue Welt behübschen

Als „Behübscher“ und Schöpfer „dekorativer Gefälligkeitskunst“ wurde Friedensreich Hundertwasser von Kritikern und Kollegen beschimpft. Klar, denn die Vorstellung, dass Architektur Menschen gefallen müsste, dass sie sich darin wohlfühlen sollten, ist vielen Architekten völlig fremd. Hundertwasser zog sich den Schuh denn auch liebend gern an.

„Die graue, herzlose Welt müsste behübscht werden. Ein menschlicher, freundlicher, heiterer Geist soll einziehen in die Wohnungen, die Häuser und in die Spitäler.“

Denn Häuser- und Raumgestaltung ist alles andere als eine Nebensache.

„Der Mensch ist ein Kind der Architektur, von der Architektur geboren, in die Architektur eingegliedert, wie in eine zweite Mutter.“

Auch für seine psychosomatische Gesundheit ist die bauliche Umgebung essenziell:

„Das Nervensystem der Augen nimmt die unendlich vielen geraden Linien als akute Gefahr wahr. Der Mensch wird psychisch krank und weiß nicht warum.“

Friedensreich Hundertwasser hieß eigentlich Friedrich Stowasser und wurde 1928 in Wien geboren. „Hundertwasser“ ist ein Kunstname, den er sich in Anlehnung an das russische „Sto“ (= 100) gab — etymologisch keinesfalls korrekt. Seine jüdische Mutter ließ ihn 1935 sicherheitshalber katholisch taufen. Die Familie wurde zwangsumgesiedelt, mehrere Familienangehörige wurden deportiert und getötet. Der Bub Friedrich überlebte und konnte seine schon früh erkennbare künstlerische Begabung weiterentwickeln. Als junger Mann zog er mit seinem Malerfreund René Brô nach Paris.

Zeit seines Lebens reiste er viel — zu seinen Ausstellungen in aller Welt und auch privat auf dem Wasser mit seinem Segelboot „Regentag“. Seine Aktivitäten und von ihm inszenierten Events würden für zwei Leben reichen. In einer „Brennnesselaktion“ etwa bewies er, dass dem Menschen ein einfaches, selbstbestimmtes Leben möglich war. Seine „Humustoilette“ versuchte Fäkalien in den natürlichen Daseinskreislauf wieder einzuschleusen. Mit der „Nacktrede“ von 1967 begann Hundertwassers Einmischung in architektonische Belange — ein Schritt, den nur wenige Maler wagten und der in der Eröffnung des berühmten Wiener Hundertwasserhauses 1986 gipfelte.

Gegen den Hässlichkeitswahn der Moderne

Hundertwasser ist ein Künstler, der das Gute mithilfe des Schönen herbeimalen will. Eine Banalität, möchte man meinen, nicht aber in der modernen Kunstszene. Mitte des Jahrhunderts standen die Zeichen eher auf „faszinierende Hässlichkeit“. Der Expressionist Barnett Newman sah die „Triebkraft der modernen Kunst“ in dem „Verlangen, das Schöne zu zerstören“.

Pablo Picasso zerstückelte malerisch die menschliche Gestalt und George Grosz zeichnete in aufklärerischer Absicht die Grauen des Krieges nach. Eine Eskalationsstufe erreichte die Ästhetik des Hässlichen nach dem Zweiten Weltkrieg. Speziell auch der Holocaust hatte einen philosophischen Idealismus des „Guten, Wahren und Schönen“ obsolet erscheinen lassen. Theodor W. Adorno sah nur solche Künstler als authentisch an, „in deren Werken das äußerste Grauen nachzitterte“.

Überspitzt ausgedrückt, betrachtete man Schönheit als eine Verhöhnung der Opfer von Völkermord. Wer das Gute anstrebte, galt geradezu als böse, weil er sich weigerte, dem Leid seine Referenz zu erweisen.

Freilich ist auch eine andere Lesart möglich. Nur das Gute und Schöne kann einen Gegenentwurf zum erlebten Grauen schaffen, kann heilen und aus dem Seelendunkel herausführen. Wenn das Jahrhundert durch die Hölle gegangen ist, sollte jeder auf seinem Platz an jenem Himmel basteln, nach dem er sich sehnt. Künstler — speziell auch solche, die das Lebensumfeld der Menschen gestalten — sind in besonderem Maß prädestiniert dafür, glücklich zu machen. Hundertwasser gehörte neben Marc Chagall zu den freundlichsten Künstlern des 20. Jahrhunderts.

„In der Kunst wie im Leben“, so Chagall, „ist alles möglich, wenn es auf Liebe gegründet ist.“ Beide waren Juden, die mit Flucht und Vertreibung zu tun hatten. Ihre Werke wirken auf teilweise geradezu kindliche Weise erfreulich und tröstlich. Farben und Formen liebkosten das Auge, anstatt es zu verstören. Eher wegen als trotz des leidvollen biografischen Hintergrunds, würde ich vermuten.

Die bessere Welt antizipieren

„Durch das krasse Überhandnehmen der schöpferischen Impotenz des Einzelnen, die in Standardisierung, Sozialisierung, Kopierung, Linearisierung, Ameisenisierung, Sterilisierung und Dosierung ihren Ausdruck findet, hat sich ein neues und furchtbares Analphabetentum herausgebildet“, so Hundertwasser.

Ganz im Sinne von Joseph Beuys‘ Satz „Jeder ist ein Künstler“ ist das Individuum aufgerufen, sein schöpferisches Potenzial zu entbinden und dabei einzigartig, unverwechselbar zu bleiben. „Es wäre wichtig, dass die Leute selber anfangen, ihre Schlösser zu bauen.“ Wer Hundertwasser also nachzuahmen versuchte, hätte ihn schlecht verstanden. Ausdruck dieses radikalen kreativen Individualismus ist das „Fensterrecht“, das Anrecht jedes Bewohners, die Umgebung eines Fensters nach seinem Gutdünken zu bemalen, so weit sein Arm reicht.

Hundertwassers Kunst ist „antizipatorisch“, vorwegnehmend. Also utopistisch im Sinne einer grundsätzlich erreichbaren Zukunftsvision; nicht im Sinne eines unerreichbaren Horizonts. Der Essayist Daniel J. Schreiber sagt über Hundertwasser:

„Er vertraut der positiven Gestaltungskraft der Kunst. Sie ist für ihn das Vehikel, das zum Paradies zurückführt. Sie ist der Ort, an dem Konzepte und Strategien für eine bessere Zukunft ersonnen werden, eine Art Think Tank.“

Wird die Realität von Hundertwassers Kunst diesem Ideal gerecht? Mein Besuch mit meiner Frau im Wiener Hundertwasserhaus hinterließ — ebenso wie die Ausstellung im Buchheim-Museum vor einigen Jahren — eine eigentümliche Euphorie und ermutigende Aufbruchsstimmung.

Wir lachten viel und fühlten uns geradezu in eine märchenhafte Gegenwelt versetzt. Diese Wirkung ist nicht allein der kunsthistorischen „Bedeutung“ der Exponate zu verdanken; Farben und Formen wirken unterschwellig positiv wie gewisse Aromen, die man auf einer Duftlampe verdampft. Man fühlt sich bei seinen Bedürfnissen und seiner Sehnsucht nach einer lebenswerten Welt „abgeholt“.

Hundertwasserkunst wirkt wie ein Vitaminstoß, an ihm gemessen wirkt die „normale“ Umgebung wie ein Schwarzweiß-Film, und man fragt sich unwillkürlich, wie man dieses Normale so lange erdulden konnte.

Architektur als Verbrechen

Im Gegenzug erscheint einem Alltagsarchitektur nicht nur langweilig, sondern geradezu als Angriff auf unsere psychische Integrität, schlimmer noch: als Beleidigung. Was wäre denn, wenn die grau- und weißgestrichenen Rechtwinkel-Orgien unseres Stadtbilds zu uns sprechen könnten, ihre Botschaft? Vielleicht diese:
„Glaub bloß nicht, dass du etwas Besonderes bist! Du bist doch nur einer von vielen, austauschbar, ein kleines Rädchen im Getriebe. Du bist es nicht wert, in einer Umgebung zu leben, wo es schön ist, geborgen und menschlich!“

Wer würde sich eine solche Rede schon ohne zu protestieren anhören wollen? Und doch „spricht“ unser Wohnumfeld vielfach so zu uns. Hundertwassers schlimmster Gegner ist „Rationalismus“. Dieser war nicht nur eine Unsitte des so genannten Sozialistischen Realismus in den Ostblock-Jahren, er prägte auch die von kapitalistischem Effizienzdenken geprägte Architektur des Westens. Ost und West vereint im Hässlichkeits-Generalangriff auf unsere Sinne. Während der Sozialist Schönheit ablehnt, weil er ihr vorwirft, die arbeitenden Massen zu (ver)trösten, töten Kapitalisten Schönheit, weil sie außer Kosteneffizienz überhaupt keinen Wert kennen.

Entsprechend scheint das Vokabular, das Hundertwasser für die meisten modernen Architekten verwendet, eher der Kriminalistik als der Kunstwissenschaft entlehnt: „Wir leben in Gebäuden, die verbrecherisch sind und die von Architekten gebaut sind, die wirklich Verbrecher sind.“ Die normalen Stadtbewohner bezeichnet er rüde als „Trottel“ und „Ameisen“.

„Ich kann zum Beispiel nicht begreifen, dass Leute in diesen Gefängnissen wohnen (…) und sich nicht dagegen auflehnen. Es wäre doch so einfach, sie brauchen doch nur etwas darum herum zu malen oder Mosaik aufzulegen.“

Hässliche Gebäude sind auch ein Politikum, wie der Kulturkritiker Alexander Mitscherlich aufzeigte:

„Man pferche den Angestellten hinter den uniformierten Glasfassaden dann auch noch in die uniformierte Monotonie der Wohnblocks und man hat einen Zustand geschaffen, der jede Planung für eine demokratische Freiheit illusorisch macht.“

Freiheit, Schönheit, Schöpfertum

Als „Revolution“ hat Hundertwasser das notwendige Aufbegehren gegen derartige Unterbringungen bezeichnet. Auf dem Spiel steht nichts Geringeres als die Freiheit der Menschen, ihre Umwelt nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. So ist Hundertwassers Kunst emanzipatorisch und zugleich ökologisch, wobei „Umwelt“ im doppelten Sinn unser Umfeld, aber auch die umgebende Natur bezeichnet.

Hundertwasser liebte vor allem Bäume und regte die Menschen an, in ihren Häusern „Baummietern“ Raum zu geben. Dies zeuge von der Verwobenheit des Menschen mit der Natur, verbessere die Atemluft und den Seelenzustand der menschlichen Mitbewohner. Dächer sollten begehbar und mit Wiesen und Parkstreifen bedeckt sein, Autobahnen unterirdisch verlaufen, damit sie die Landschaft nicht länger zerreißen und schänden können. Mehr noch:

„Das Verhältnis Mensch-Baum muss religiöse Ausmaße annehmen. Dann wird man auch endlich den Satz verstehen: Die gerade Linie ist gottlos.“

Freiheit, Schönheit, Schöpfertum und eine quietschbunte Biophilie — Liebe zum Lebendigen — fließen bei Friedensreich Hundertwasser in ein Ganzes zusammen.

„Wenn der Mensch nicht schöpferisch tätig ist oder daran gehindert wird, hört er auf, menschliche Funktionen auszuüben, und er verliert die Berechtigung, als höheres Wesen auf dieser Erde anwesend zu sein.“

Mag man ihn einen politischen Künstler nennen oder nicht — seine Botschaft ist eine zutiefst humane und humanistische. Dabei erhält sein großenteils abstraktes Oeuvre durchaus auch eine romantische Färbung, indem sie die visionäre Innenwelt des Menschen gleichsam nach außen stülpen und die Welt dem schöpferischen Geist zur Verwandlung übergeben will.

„Träume sind die letzte Zuflucht des Menschen, die letzten Königreiche, die ihm ganz gehören. Träume zerstören ist so, wie wenn man dem Menschen seine Wurzeln und seine Zukunft wegnähme und nichts bleibt, wonach er sich sehnen kann.“


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