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Der Popcorn-Protest

Der Popcorn-Protest

Gesellschaftliche Protestformen müssen weiterentwickelt werden und über das bloße Applaudieren zu guten Demo-Reden hinauswachsen.

23 Jahre nach Ende des NS-Regimes wagte der Kabarettist Jonny Buchardt vor seinem deutschen Publikum während des Kölner Karnevals ein Experiment, einen Versuch, der erschreckenderweise glückte. Er testete die Konditionierung seiner Zuschauer dahingehend, ob diese im Chor auf bekannte Signalwörter mit den entsprechend assoziierten „Folgewörtern“ reagieren würden. So rief er: „Hip Hip ...“ und das Publikum erwiderte: „Hurra!“ Und noch mal: „Hip Hip ...“, das Publikum: „Hurra!“

Buchardt probierte es mit einem anderen Spruch: „Zicke, Zacke, Zicke, Zacke ...“ das Publikum: „Hey! Hey! Hey!“. Das Gleiche nochmal. Doch dann rief Buchardt voller Inbrunst: „Sieg!“ Und das Publikum erwiderte darauf im Jahr 1973: „Heil!“

Buchardt drehte sich mit einer bizarren Mischung aus Entsetzen und Belustigung vom Publikum weg, welches wiederum zu lachen begann, obgleich es dafür eigentlich gar keinen Grund gab. Erneut zum Publikum gewandt, fragte er, ob denn hier an diesem Abend noch ein paar „alte Kameraden“ anwesend wären?



Dem war sicherlich nicht so. Doch die Konditionierung steckte an jenem Abend noch in den Köpfen vieler der Anwesenden. Und weil der Verstand jedes Einzelnen durch den Rausch der Masse gedämpft war, konnten sich die antrainierten Wörter Bahn brechen, wie Gustav le Bon es zum Ende des 19. Jahrhunderts bereits beschrieb. Der einzelne Besucher hätte in der Garderobe vor dem Auftritt Buchardts auf das Wort „Sieg!“ wohl kaum mit „Heil!“ geantwortet. Doch in der Massendynamik ergriff der Reflex die Oberhand und dieses Tabu war vergessen. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Blinder Applaus statt Selberdenken

Die Protestform, dass einer redet und viele applaudieren, trägt zwar ihre Früchte, doch ist sie nicht wirklich zielführend für eine Emanzipation der Menschheit. Rudi Dutschke enttäuschte seine Zuhörer bewusst, indem er sich weigerte, ihnen Antworten auf die großen Fragen vorzugaukeln. Er verweigerte dies aus dem ganz bestimmten Grund, denn mit dieser suggestiv-beeinflussenden Rhetorik wollte er nicht in die Fußstapfen der Manipulatoren, Anführer und Redenschwinger treten. Im Gegenteil. Sein Wunsch war es, die „gesellschaftliche Bewusstlosigkeit“ aufzulösen und jeden Einzelnen zu ermächtigen, selbst zu denken und sich ein Urteil zu bilden.

Diesem hohen Ziel sind wir heute — etwa 50 Jahre später — nicht wirklich näher gekommen. Immer noch stehen auf den Bühnen Redner und Rednerinnen, halten manchmal fantastische Reden und lassen bei den richtigen Trigger-Wörtern die Menge applaudieren oder in Buhrufe ausbrechen. Immer noch besteht das Dispositiv einer Bühne mit wenigen bewussten Referenten und der Zuhörerschaft, die die Redner anfeuert oder gar vergöttert, sich selbst aber nur als unbedeutenden Teil des Ganzen sieht.

Das ist sehr pauschalisierend und sicherlich gibt es unter all diesen Mengen auch wachsame Köpfe, die einfach der Solidarität halber durch ihren Applaus dem Redner ihre Anerkennung zollen. Doch dafür, dass eine breite Menschenmenge auf Demonstrationen und anderen politischen Veranstaltungen sich ihrer eigenen Macht und Kraft nicht bewusst ist, sprechen zahlreiche Indikatoren.

So beobachtete ich auf einer Grundgesetz-Demo folgende Szenerie. Eine der Galionsfiguren der Demokratiebewegung war auf dieser Demonstration zugegen und einige der Demobesucher und -besucherinnen strömten zu ihm, umgarnten ihn, sprachen sich ihren Frust von der Seele und baten ihn, ihr Exemplar des Grundgesetzes zu signieren. Anscheinend war sich diese Galionsfigur der Worte Dutschkes bewusst und so knüpfte er, geschickt, wie ich fand, seine persönliche Signatur des Grundgesetzes an die Bedingung, dass der oder die Besitzerin des jeweiligen Exemplars dieses doch auch selber unterschreiben möge.

So wurde er dem Wunsch gerecht, seinen Fans mit der begehrten Unterschrift das Exemplar des Grundgesetzes zu „verzieren“ und „veredeln“, wies aber zugleich subtil darauf hin, dass sie genauso „besonders“ seien wie er.

So machte er ihnen unterschwellig folgendes bewusst: „Sei du selbst die Person, der du auf der Bühne applaudierst.“

Die Schröder-Falle

Von ihrer schlechtesten Seite zeigte sich diese Dynamik bei dem Auftritt des Dritt-Liga-Kabarettisten Florian Schröder auf der Querdenken-Demo am 8. August in Stuttgart. Eigentlich war offenkundig, dass er den Querdenkern nicht wohlgesonnen war, ganz zu schweigen davon, dass er diese nicht auch nur im Ansatz ernst nahm. So lockte er die Anwesenden mit einer rhetorischen Strategie aufs Glatteis — die für das geübte Ohr leicht zu „durchschauen“ war.

Und dennoch applaudierten die Menschen in diesen Momenten, nichts ahnend, dass sie gerade in Schröders rhetorisches Messer liefen. Sie ließen sich in ihrem Klatschen-und-Buhrufen-Stop-and-Go-Verhaltensmuster auf die Schlachtbank führen und merkten dies erst dann, als Schröder die Falle zuschnappen ließ. Eine gelungene Rhetorik-Analyse zu Schröders Auftritt finden Sie hier.

Dass solche Tricks bei den meisten fruchten, liegt vermutlich daran, dass wir Menschen in eine Art Berieselungs-Modus schalten, sobald wir einem Redner, einer Rednerin auf der Bühne lauschen. Hegen wir für ihn oder sie Sympathien, so rezipieren wir das Gesagte weniger kritisch und mit einer tendenziell affirmativen Haltung. Das führt dann dazu, dass wir davon ausgehen, dass das Gesagte so schon stimmen wird. „Wenn der das sagt, wird das schon stimmen. Sein/Ihr Name ist ein Wahrheits-Qualitätssiegel“. Im Grunde genommen lassen wir die Worte ungefiltert in uns eindringen und schalten unseren kritischen Geist aus. Oft ist dies daran zu erkennen, dass die Menschen prompt zum richtigen Signalwort applaudieren.

Dabei stellt sich mir die Frage: Wie konnten die Menschen so schnell das soeben Gesagte „verdauen“, um direkt zu applaudieren? Reichte diese eine Sekunde zwischen dem Verhallen der Worte und dem ersten Aufeinanderklatschen der Handflächen aus, um zu evaluieren, ob das Gesagte überhaupt „richtig“ ist? Wohl kaum. Es wird schlicht in einem Kurzschluss für richtig befunden. So kam es dann auch, dass bei Schröders Auftritt die Menschen ihrer eigenen Verarschung applaudierten. Wie können wir also darüber hinauswachsen?

Applaudieren ist Silber — Schweigen ist Gold

Wäre es denkbar, dass wir demnächst allesamt unsere affektive Zustimmung zurückstellen und während einer Rede das Gesagte erst einmal sacken lassen? Das setzt wiederum bei den Referierenden voraus, dass sie sich eine neue Rhetorik-Regel einverleiben und nach allen paar Sätzen eine Reflektionspause machen. Sie unterbrechen ihre Rede also immer wieder nach zwei bis drei Sätzen für ein paar Sekunden durch eine etwas längere Pause, in der die Zuhörer sich das Gesagte durch den Kopf gehen lassen können. Vielleicht würden manche, die ansonsten prompt applaudiert hätten, die Aussage insoweit überdenken, dass sie ihr nicht mehr vollumfänglich zustimmen, sondern hinter die Aussage ein Fragezeichen packen.

Folgende gute Übung könnte jeder Demoteilnehmer bei der nächsten Demo umsetzen: Man lauscht einer Rede und ab einem bestimmten Zeitpunkt stellt man sich die Frage, was man selbst als nächstes sagen würde. Mal angenommen, man würde durch Zauberhand auf die Bühne teleportiert und müsste die Rede nun weiterführen. Lassen wir mal den Aspekt des Lampenfiebers außen vor. Hätte man selber zu diesem Thema etwas beizutragen?

Das dürfte häufig schwierig werden, beispielsweise wenn der Redner ein Arzt oder ein Experte ist und daher über umfangreicheres Wissen verfügt als die meisten Zuhörer. Was soll man da als Laie schon groß beitragen? Aber selbst dann sollte man doch zumindest noch Fragen parat haben. Fragen, die sich aus dem Evaluieren des bisher Gesagten ergeben. Fragen, die aufkommen, wenn man sich durch die Rede nicht einfach berieseln lässt, sondern diese gedanklich weiterentwickelt. Was natürlich erst im Nachgang möglich ist, möchte man nicht in Gedankenverlorenheit den Rest der Rede verpassen.

Gäbe die Menschenmenge nicht ein wesentlich emanzipiertes Bild ab, sähe man dort Menschen, die statt Lärm einen nachdenklichen Eindruck machen, still dastehen und die Worte auf sich wirken lassen? Da wären wir wieder bei der Massendynamik. In der Masse verliert der Mensch seine Scham, verliert gewisse Hemmungen gegenüber gewissen Handlungen: Er klatscht laut, ruft inbrünstig „Jawohl!“ oder „Buh!“ Alleine würde er niemals so reagieren.

Auch hier gibt es eine weitere gedankliche Übung. Man stelle sich einfach mal vor, man stünde alleine in einer großen Lagerhalle und folge der Rede auf einer großen Leinwand. Dazu macht man dann dieselben Gesten und Ausrufe wie auf einer Demonstration. Schnell würde man sich unwohl fühlen und merken, wie man sich ganz alleine „zum Affen macht“. Alleine in einer Halle stehen und „Buh!“ rufen — da käme man sich schon sehr blöde vor, oder nicht? Warum machen wir es dann in der Masse, wenn wir es alleine so nicht tun würden?

Eigenverantwortung als Alternative

Natürlich soll hier die Funktion und Wirkung eines kräftigen Applauses nicht in Frage gestellt werden! Wenn ein Redner sich auf die Bühne gestellt und den Mut bewiesen hat, vor einer großen Menschenmenge zu sprechen, und am Ende der Grundtenor stimmt — auch wenn man nicht jeder seiner Aussagen zustimmt — so spricht nichts dagegen, dies mit einer entsprechenden Geste der Anerkennung zu würdigen.

Dennoch plädiere ich dafür, sich von der Haltung des bedingungslos an den Lippen eines verehrten Redners Hängenden über kurz oder lang zu verabschieden, wollen wir uns als einzelne Menschen und als Menschheit weiterentwickeln. Wir sollten uns auf eine höhere Stufe begeben, auf der wir nicht mehr die Reden-Empfänger eines wie auch immer gearteten Anführers sind, der für uns das Richtige sagt und denkt.

Wir brauchen andere und neue Protestformen! Die Ignorance Meditation von Kai Stuth hilft, in die eigene Mitte zu gehen und bei sich selbst anzukommen. Das ist die Grundlage eines auf Eigenverantwortung fußenden, friedlichen und wirkungsvollen Widerstands, der Veränderungsenergie nicht auf Objekte im Außen projiziert, sondern diese aus dem eigenen innerseelischen Wandel schöpft.

Eine solche Arbeit an sich selbst bildet die Quelle für eigene Kreativität und Ideen, die nicht länger darauf abzielen, das Alte zu bekämpfen, sondern etwas Neues, Besseres aufzubauen, welches das destruktive Alte ablöst, gar obsolet macht.


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