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Der Präzedenzfall

Der Präzedenzfall

Die Verhaftung Assanges soll jeden abschrecken, der es fortan wagen sollte, die Macht herauszufordern.

von Caitlin Johnstone

Julian Assanges Mutter berichtete gestern, dass dem WikiLeaks-Gründer während seiner Haft in Belmarsh Prison im Südosten Londons keinerlei Besuch gestattet wird, nicht einmal von Ärzten oder seinen Anwälten. Ärzte, die Assange in der ecuadorianischen Botschaft besucht hatten, haben versichert, dass er dringend medizinische Versorgung benötigt. Belmarsh ist ein Hochsicherheitsgefängnis, das zuweilen als „britisches Guantanamo“ bezeichnet wird.

Und noch immer wird uns eingeredet, dieser Umstand habe etwas zu tun mit einem angeblichen Verstoß gegen Kautionsauflagen und einem US-Auslieferungsgesuch wegen angeblicher Computerkriminaltät, auf die eine Höchststrafe von fünf Jahren steht. Tritt man einen Schritt zurück und lauscht dem weniger gut informierten Geplapper der unverhohlenen Propagandisten und der gehirngewaschenen Normalkonsumenten westlicher Massenmedien, hört man zudem: Die Leute glauben, es habe auch etwas mit Russland und mit Vergewaltigungsvorwürfen zu tun.

Präzedenzfall für den Journalismus

Tatsächlich stimmt nichts davon. Assange ist unter drakonischen Bedingungen inhaftiert für ein „Vergehen“: Journalismus und nichts anderes. Nachdem WikiLeaks die Geheiminformationen von Chelsea Manning veröffentlicht hatte, lehnte es die Obama-Regierung ab, Assange strafrechtlich zu verfolgen, da sie dadurch die Gefährdung der Pressefreiheit befürchtete.

Und die Obama-Regierung verfügte damals über nicht einen Beweis mehr, als die Trump-Regierung heute zur Verfügung hat. Das „Verbrechen“, dessen Assange beschuldigt wird, besteht in nichts anderem als gängiger journalistischer Praxis, die Investigativjournalisten stets anwenden.

Dazu gehören der Schutz von Quellen und die Ermunterung von Informanten, mehr Material zu erlangen. Das einzige, was sich geändert hat: Das Weiße Haus ist zunehmend bereit, Journalisten für die Ausübung journalistischer Praktiken zu verfolgen — und es gibt mehr als genug Gründe anzunehmen, dass sich Assange wesentlich schwereren Anschuldigungen gegenüber sehen wird, sobald er an die USA ausgeliefert wird. Sie machen sich all diese Mühen nicht wegen eines Verstoßes gegen Kautionsauflagen und einer Höchststrafe von fünf Jahren.

Doch tritt man noch einen Schritt zurück, dann hat dies im großen Ganzen tatsächlich kaum etwas mit Assange zu tun. Sicherlich ist er denjenigen ein Dorn im Auge gewesen, die die länderübergreifende westliche Macht-Allianz steuern — die würden ihn sicherlich lieber eingesperrt oder tot sehen als frei und lebendig. Doch das ist nicht das, worauf die korrupten Einflussnehmer, die unsere Welt erdrosseln, hierbei abzielen. Sie greifen nach etwas viel, viel Größerem. Assange ist zufällig schlicht ein Trittstein auf ihrem Weg.

In einem anderen Artikel habe ich bereits ausgeführt, dass die Strafverfolgung Assanges in Wahrheit dazu dient, einen rechtlichen Präzedenzfall zu schaffen. Dieser wird es der US-Regierung ermöglichen, Journalisten dafür einzusperren, dass diese die Mitglieder eben dieser Regierung mit journalistischen Mitteln zur Rechenschaft zu ziehen versuchen. Der Satz „Assange ist kein Journalist“ wird nun ununterbrochen von Lakaien des US-Imperiums auf der ganzen Welt nachgeblökt — dies liegt daran, dass sie ein Gegennarrativ brauchen zu der unbestreitbaren Tatsache, dass dieser Präzedenzfall eine Bedrohung für Journalistenweltweit darstellt.

Sie argumentieren, dass dies keinen Präzedenzfall für Journalisten schaffe, da Assange kein Journalist sei — eine vollkommen schwachsinnige Behauptung, nebenbei bemerkt. Als ob deren persönliche Definition eines „echten Journalisten“ von der US-Regierung bei der Entscheidung angewendet werden würde, ob andere Menschen, die ähnliche Dinge wie Assange getan haben, verfolgt werden sollen oder nicht, anstatt der dann wie auch immer gearteten Definition, die für die jeweiligen Agenden der US-Regierung am geeignetsten scheint.

Doch um das Gesamtbild dessen, wonach diese Mistkerle streben, wirklich und vollständig sehen zu können, müssen wir noch einen weiteren Schritt zurücktreten.

Eine brutale Lektion

In dem Science-Fiction-Roman Ender’s Game (auf Deutsch erschienen unter dem Titel Das große Spiel; Anmerkung der Übersetzerin) verpasst der junge Protagonist einem seiner Schulhofpeiniger eine solch brutale Tracht Prügel, dass dieser an deren Folgen stirbt. Daraufhin wird er von seinen Betreuern gefragt wird, warum er das getan habe. Der Junge, der geboren und erzogen wurde, um ein strategischer Gelehrter zu werden, erklärt, er habe weder aus Böswilligkeit gegenüber seinem Peiniger gehandelt, noch um in diesem einen Kampf zu siegen, sondern um auch alle zukünftigen Kämpfe zu gewinnen. Wenn die anderen Schulkinder sähen, zu welcher Brutalität er fähig sei, und wüssten, dass mit ihm nicht zu spaßen sei, dann würde er nie gegen sie kämpfen müssen.

Sollte das ein wenig soziopathisch klingen, dann liegt das daran, dass es soziopathisch ist. Und — mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass die Rollen des Peinigers und des Opfers vertauscht sind — ist genau das das Prinzip, das gerade bei Assange angewandt wird.

Die ganze Welt schaut zu, wie man Assange gerade behandelt. Es spielt keine Rolle, wie sehr man von Propaganda beeinflusst ist, oder wie sehr man diesen Mann persönlich hassen mag, man sieht zu, was geschieht, und lernt eine Lektion daraus. Diese Lektion lautet, niemals Dinge zu tun, die dem, was dieser Mann getan hat, auch nur im Entferntesten gleichkommen — sonst trifft einen das gleiche Schicksal.

Dies ist das wahre Ziel der Strafverfolgung Assanges, und es betrifft nicht nur einen australischen Verleger in einer britischen Gefängniszelle, noch zielt es lediglich auf die Investigativjournalisten weltweit, die weiterhin an der verlorenen Kunst interessiert sind, mit der die Mächtigen durch Journalismus zur Rechenschaft gezogen werden. Nein, es betrifft jeden Menschen auf der Welt, der Nachrichtenmedien konsumiert.

Und es funktioniert. Ich weiß, dass es funktioniert, denn es funktioniert bei mir. Ich sage hier und jetzt: Wenn Sie Informationen haben, die die mächtigsten Leute der Welt belasten, halten Sie sie bloß von mir fern. Geben Sie sie jemand anderem, wirklich, jedem anderen, denn ich selbst bin viel zu feige und habe viel zu viel zu verlieren, um mich in etwas verwickeln zu lassen — etwas, das dazu führen könnte, dass ich in einer ausländischen Gefängniszelle verrotte. Ich habe Kinder. Ich bin verliebt. Ich kann und will diesen Weg nicht beschreiten. Und wenn das auf mich zutrifft, bin ich sicher, dass es auch auf unzählige andere zutrifft.

Whistleblower wurden so brutal schikaniert, dass es sicherlich eine enorme Abschreckwirkung auf jene hatte, die andernfalls entscheidende Quellen für Geheiminformationen werden würden; und nun werden auch die Journalisten schikaniert, die solche Informationen veröffentlichen. Die Chancen, dass jemand, der willens ist, die wirklich Mächtigen zu verraten, einen Journalisten trifft, der ebenfalls willens ist, ihm zu helfen, schrumpfen gerade mit großer Geschwindigkeit auf null zusammen.

Es geht nicht um einen Einzelnen

Sie versuchen, diesen Kampf gegen Assange auf brutale Art und Weise zu gewinnen, um sicherzustellen, dass sie auch alle zukünftigen Kämpfe gewinnen werden. Aus diesem Grund ist es absolut abwegig, dass dieser Diskurs so oft auf die Person Assange gelenkt wird, egal, ob es sich nun um Verleumdungen oder Lob handelt.

Vor kurzem habe ich bereits einen umfassenden Artikel veröffentlicht, in dem ich gegen die wesentlichen Verleumdungen gegenüber Assange angehe, die mir begegnet sind. Bisher sind es 27 an der Zahl und ich werde bald mehr hinzufügen. Dieser Berg an Verleumdungen existiert, da die Leuteentweder über Assanges Persönlichkeit schwatzen oder darüber, ob er in der Botschaft seiner Katze hinterhergewischt hat oder nicht. Keine Aufmerksamkeit schenken sie dagegen den eben beschriebenen weltbestimmenden Gefahren, die drohen, jeden Widerstand gegen die Anführer des US-zentrierten Imperiums zu verhindern, die uns entweder in die Auslöschung oder die Dystopie treiben.

Die Kehrseite davon sind Menschen, die sich auf Assange als den Helden fokussieren, was natürlich dabei helfen kann, Aufmerksamkeit auf seine Misere zu lenken, und insofern von Nutzen ist. Doch schlussendlich sieht man auch hier den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das Ganze hat viel weitreichendere Auswirkungen als lediglich auf Assange — und wir müssen uns dagegen stellenaus Gründen, die weitaus bedeutender sind als die individuellen Charakterzüge eines einzelnen Mannes, den wir — je nachdem, was wir gehört haben –für einen netten Menschhalten oder auch nicht.

Die Bedrohung der Wahrheit

Verlieren Sie diese Tatsache nie aus den Augen:

Durch die Einschüchterung von Whistleblowern und Leuten, die Leaks veröffentlichen, droht, dass die Wahrheit für unsere gesamte Spezies nicht mehr verhaltensbestimmend ist. Dann bleibt die Entscheidung über unser Schicksal einzig den Launen der Mächtigsten überlassen.

Die mächtigsten Menschen sind diejenigen, die am eifrigsten nach Macht streben, diejenigen, die soziopathisch genug sind, jedem auf den Kopf zu steigen und zu tun, was auch immer nötig ist, um so viel Kontrolle wie möglich über so viele Menschen wie möglich zu sichern. Gerade solchen Menschen übergeben wir das Steuerrad unserer Welt, wenn wir es erlauben, dass die Wahrheit so weit eingeschüchtert wird, dass sie verstummt.

Und verlieren Sie auch die folgende Tatsache niemals aus den Augen: Mit der Verhaftung und Strafverfolgung von Julian Assange haben sich eben diese soziopathischen Unterdrücker selbst enttarnt. Sie haben sich die nette Big-Brother-Maske heruntergerissen und das dunkle, höllische Wesen enthüllt, das sich zischend darunter windet. Dieses plötzliche Interesse für die rechtlichen Detailfragen von Kautionsauflagen und Regeln journalistischen Quellenschutzes mutet exakt genauso an wie die Verfolgung eines Journalisten für das Veröffentlichen von Tatsachen — denn genau das passiert hier gerade. Lassen Sie niemals zu, dass Sie jemand durch Tricks etwas Gegenteiliges glauben macht, und verpassen Sie nicht diese seltene Gelegenheit, Ihre Mitmenschen darauf hinzuweisen, wie unsere Unterdrücker ihre wahre Natur enthüllt haben.


Caitlin Johnstone bezeichnet sich selbst als Schurkenjournalistin, Bogan-Sozialistin, Anarcho-Psychonautin, Guerilla-Poetin und Utopia-Prepperin.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „The Prosecution Of Julian Assange Is Infinitely Bigger Than Assange". Er wurde von Melina Cenicero aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


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