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Der schiefe Blick auf den Islam

Der schiefe Blick auf den Islam

In der deutschen Islamdebatte agieren Linke oft verharmlosend, während Rechte sich rassistischer Stereotype bedienen — beide werden der Realität nicht gerecht. Auszug aus „Die fehlgeleitete Islam-Debatte und ihre Folgen“

Die Haltung zum Islam als europäische Selbstvergewisserung

Die Freiheitsbewegung im Iran kämpft bis heute weiter. Trotz Repression lassen iranische Frauen noch immer ihr unbedecktes Haar im Wind wehen, singen und tanzen auf der Straße und erobern sich so die öffentlichen Räume zurück. Mit einem gewissen Erfolg: Aus Furcht vor neuen Unruhen hat der Sicherheitsrat, das höchste Entscheidungsgremium der Islamischen Republik in Sicherheitsfragen, im Mai 2025 ein Gesetz gestoppt, das noch drakonischere Strafen gegen Verstöße gegen die Kleiderordnung vorsah, unter anderem hohe Geld- und Haftstrafen. Für den Etappensieg zahlten die Iranerinnen einen hohen Preis: Sie trotzten Geldbußen, der Beschlagnahmung ihrer Autos, Haftstrafen und sogar Peitschenhieben (1).

Iran ist vielleicht weltweit der Ort, wo Menschen mit ihrem zivilen Ungehorsam die denkbar höchsten Opfer bringen, um für feministische, aufklärerische Werte zu kämpfen. Werte, die man sich in Europa gerne als erste auf die Fahne schreibt.

Man sollte eigentlich meinen, die „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung hätte in der damaligen deutschen Außenministerin Annalena Baerbock die richtige Verbündete gefunden. Eine „wertegeleitete, feministische Außenpolitik“ war das deklarierte Ziel ihrer Amtszeit.

Doch Ende September 2022, als meine Frau und ich noch im Iran waren, machte Baerbock mit einer Rede Schlagzeilen, die vielen Iranerinnen und Iranern wie blanker Hohn klang:

„Bei allem Respekt vor kulturellen und religiösen Unterschieden: Wenn die Polizei, wie es scheint, eine Frau zu Tode prügelt, weil sie aus Sicht der Sittenwärter ihr Kopftuch nicht richtig trägt, dann hat das nichts, aber auch gar nichts mit Religion oder Kultur zu tun“ (2).

Die Aussage macht wie wenige andere Sätze sichtbar, was im linken Islamdiskurs schiefläuft. Jahrzehntelange Gewalt im Namen der islamischen Scharia-Gesetze, und das Ganze hat nichts, „aber auch gar nichts“ mit Religion zu tun?

Das Tragische daran ist, dass Baerbock kaum die Absicht hatte, die Verbrechen des iranischen Regimes im Namen der Religion bewusst zu relativieren, im Gegenteil. Ihr Statement sollte wohl denjenigen etwas entgegensetzen, die die staatliche Gewalt im Iran mit „kulturellen Unterschieden“ — also etwas, das nun mal zu respektieren sei — zu legitimieren suchten. Insofern hatte Baerbock natürlich recht: Kulturelle Unterschiede und Religion legitimieren niemals und nirgends staatliche Unterdrückung oder Gewalt gegen Frauen. Die Botschaft, die sie aber de facto in die Welt setzte, war eine andere: Gewalt im Namen des Islam, ob im Iran, in Indonesien oder auf deutschen Straßen, habe eigentlich nichts mit Religion zu tun.

Interessanterweise ist genau dieses Argument auch in traditionell-muslimischen Kreisen weit verbreitet.

Wann immer Extremisten irgendwo Gewalt im Namen des Islam üben, ob die Taliban, Daesch-Kämpfer oder die iranischen Mullahs, dann reagieren gemäßigt-konservative Musliminnen und Muslime fast schon reflexartig mit Sätzen wie „Das hat mit echtem Islam nichts zu tun“ oder „Das sind keine wahren Muslime“.

Mit dieser Form der Exkommunikation ist das Thema für sie erledigt, sie müssen sich mit unangenehmen Fragen nicht weiter beschäftigen. Was schade ist, denn es wären spannende Fragen, wie zum Beispiel: Woher kommen Gewalt und Unterdrückung in meiner Religion? Welche Grundsätze, an die auch ich glaube, sind möglicherweise problematisch? Was können wir Musliminnen und Muslime tun, um unseren Glauben von den Extremisten zurückzuerobern?

Baerbocks Aussage, die den muslimischen Apologeten des Islamismus entliehen ist, mag vielleicht effektiv sein, um sich als Deutsche differenziert und weltoffen zu geben, um sich in einem linksliberalen Milieu vor dem Vorwurf der Islamophobie zu schützen. Wie soll ihre Aussage aber für die Betroffenen klingen? Für Menschen, die in Nigeria wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt, in Pakistan wegen einer Gotteslästerung gelyncht oder in Saudi-Arabien wegen eines Diebstahls verstümmelt werden? Diese Menschen sind sich oft bestens bewusst, dass ihr Leiden etwas mit Religion zu tun hat. Nicht ohne Grund war gerade im Iran die Aufregung über Baerbocks Spruch enorm, so habe ich es damals über persischsprachige Instagram-Profile mitbekommen.

Das offenbart die erste Schwachstelle im deutschen Islamdiskurs: Viel zu oft geht es in der Diskussion nicht um das Thema, geschweige denn um die Menschen, über die man spricht, sondern um den Sprecher selbst. Die Haltung zum Islam wird zum Vehikel, um sich selbst zu profilieren, im Falle einer Annalena Baerbock als progressiv, tolerant, pluralistisch.

Auch unter Rechten dienen Statements über „den“ Islam der Selbstdarstellung. Mit dem Unterschied, dass es hier eine ablehnende Haltung ist, durch die man sich in vorteilhaftes Licht zu stellen versucht: als patriotisch, selbstbewusst europäisch, westlich fortschrittlich. „Der“ Islam wird pauschal als rückständig und ungerecht abgetan, als natürliche Antithese zu einem modernen, aufgeräumten Europa, als dessen stolzes Mitglied man sich verstehen darf.

In beiden Fällen wird der Islam zur Projektionsfläche, zum „anderen“, und im Verhältnis zu diesem „anderen“ definiert man sich selbst. So wird der Diskurs unnötig emotionalisiert, die Haltung zum Islam basiert nicht mehr auf Fakten und Argumenten, sondern ist untrennbar mit dem eigenen Selbstbild verwoben. Der Politikwissenschaftler Ozan Zakariya Keskinkilic bringt das Problem auf den Punkt:

„Seit Jahren wird darüber diskutiert, ob der Islam zu Deutschland gehört, ohne zu verstehen, dass die Leidenschaft, mit der das geschieht, bereits beweist, wie abhängig das Land von ‚seinen Fremden‘ geworden ist. Ohne Islamdebatte kein Deutschland mehr“ (3).

Die Blindspots der deutschen Islam-Debatte

Die deutsche Islamdebatte ist alles andere als tot, zumindest in dieser Hinsicht muss man sich keine Sorgen machen. In den letzten drei Jahrzehnten hat sie sich sogar markant (weiter)entwickelt, wobei es durchaus auch positive Aspekte gibt .

Die wichtigste Zäsur waren die Terroranschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001. Während religiöse Zugehörigkeit vorher noch im Hintergrund stand und in den Debatten um Migration zunächst die Kategorien „Ausländer“ und seit den 1980er-Jahren „Türke/Araber“ im Vordergrund standen, drehte sich nach 9/11 plötzlich alles um den „Muslim“, um den Islam, eine zu diesem Zeitpunkt noch als fremd — im besten Fall als exotisch, im ungünstigen Fall als bedrohlich — wahrgenommene Religion. Es vollzog sich, wie einige Beobachter es nannten, eine „Islamisierung der Integrationsdebatte“. So als wären nicht sozioökonomische Umstände, die Familiensituation oder die Sprachkenntnis, sondern die Religionszugehörigkeit der allein entscheidende Integrationsfaktor.

Vor diesem Hintergrund kam es in den darauffolgenden Jahren, insbesondere anlässlich der Flüchtlingskrise 2015/2016, zur unseligen Entscheidungsfrage: Gehört der Islam zu Deutschland? Weil sie ganz unterschiedliche Antworten darauf fanden, bröckelte bekanntlich das Verhältnis zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer.

Zumindest die offizielle politische Islamdebatte ist in Deutschland mittlerweile weiter. Bis auf die AfD stellen alle im Bundestag vertretenen Parteien die Frage heute anders, nämlich: Welcher Islam gehört zu Deutschland?

Zwar dominieren in den Schulbüchern und in seriösen Qualitätsmedien weiterhin vereinfachende und stereotype Darstellungen, doch es gibt auch spürbare Bemühungen um Differenzierung (4). Derart stigmatisierende Titelseiten, wie „Mekka Deutschland. Die stille Islamisierung“ im Spiegel oder „Wie gefährlich ist der Islam“ im Stern (beide aus dem Jahr 2007) sind heute in dieser Form nicht mehr denkbar.

Das macht Hoffnung, beweist es doch, dass durch bessere gegenseitige Kenntnisse Polarisierung und Feindschaft überwunden werden können. Schon seit Jahren zeigen verschiedene Umfragen: Wer regelmäßig mit Musliminnen und Muslimen zu tun hat, ist weniger anfällig für Vorurteile (5).

Aber das ist nur die eine Seite. Die andere: Identitätspolitik dominiert weiterhin die deutsche Islamdebatte. Selbstinszenierung und identitäre Befindlichkeiten polarisieren den Diskurs, im Vordergrund stehen nicht Fakten, sondern die Frage, auf welcher Seite man steht.

Während die einen Muslime ausschließlich als Opfer, als eine zu Unrecht inspizierte Minderheit sehen und ihnen durch diese Viktimisierung jede Selbstwirksamkeit absprechen, stellen die anderen Islam pauschal in Zusammenhang mit Terrorismus und Gewalt. Das macht den Diskurs im linken Lager blind für problematische Entwicklungen in muslimischen Communitys, während das rechte Lager dazu tendiert, bestehende Probleme aufzubauschen und die Verdachtszone auf alle Muslime auszuweiten.

Exemplarisch für das blinde linke Auge stehen etwa Teile der deutschen Islamwissenschaften, die den Anspruch, sich ergebnisoffen ihrem Gegenstand zu widmen, längst aufgegeben haben; allein die Frage nach den Ursachen für Gewalt und Fanatismus im Islam aufzuwerfen, grenzt in einigen Hörsälen fast schon an Häresie, wie mir ein Besuch an der Freien Universität Berlin gezeigt hat.

Das überwachsame rechte Auge rechtskonservativer Medien und der Sicherheitsbehörden hingegen verdächtigt selbst muslimische Gemeinden und Persönlichkeiten, die sich seit Jahren vorbildhaft für Dialog und gegen Extremismus in den eigenen Reihen engagieren; da reicht es oft schon aus, fünf Mal am Tag zu beten und im Ramadan den ganzen Koran zu rezitieren, damit der Verfassungsschutz einen beobachtet und rechtskonservative Medien, wie die Welt, die Bild oder das Online-Portal Nius, einen zum Salafisten und Gewaltprediger erklären (siehe Kapitel 4).

Angesichts dessen darf es nicht verwundern, wenn aktuellen Umfragen zufolge gut 50 Prozent der Bevölkerung in Deutschland muslimfeindlichen Aussagen zustimmen, ein Befund, der auf tief verwurzelte Ressentiments in der Bevölkerung hindeutet (6).6Jene schlagen auch immer wieder in offene Gewalt um. Die wird aber, sobald sie sich gegen Muslime richtet, oft übergangen oder relativiert. Wenn ein Asylbewerber Amok läuft und auf Menschen einsticht, wie in Mannheim im Mai 2024, oder sie überfährt, wie in München im Februar 2025, dann ist Islamismus für Behörden und Medien sofort das naheliegendste Tatmotiv. Das ist an sich nicht ungerechtfertigt. Doch sobald der Täter ein nichtmuslimischer Deutscher und die Opfer Menschen mit Migrationshintergrund sind, dann scheint es eine besondere Vorsicht zu geben, das Tatmotiv (antimuslimischen) Rassismus oder Rechtsextremismus zu benennen. Ein Beispiel ist der Anschlag in Hanau, bei dem ein Rassist aus Hass neun Menschen ermordete: Die Behörden ermittelten zunächst in Hinblick auf ein „fremdenfeindliches Motiv“, obwohl die meisten Opfer deutsche Bürger waren. Korrekter wäre es, von Rassismus zu sprechen, sonst werde die Perspektive des Täters übernommen, kritisierten damals die Neuen Deutschen Medienmacher:innen (7). Bei einem 30-jährigen Mann, der seit Juni 2010 immer wieder versucht hatte, verschiedene Berliner Moscheen in Brand zu setzen, konnte ein Gericht noch nicht mal das „fremdenfeindliche Motiv“ feststellen, sondern nur eine psychische Krankheit (8).

Für deutsche Muslime bedeutet das im Alltag: wiederkehrende Diskriminierungserfahrungen, Unsichtbarkeit in den Medien und in der Politik, Rechtfertigungsdruck, das Gefühl, nie dazuzugehören, egal wie sehr man sich bemüht. Ein immenser Druck, der das „Die gegen uns“-Narrativ der Islamisten stärkt und eine innermuslimische Auseinandersetzung mit religiösem Extremismus behindert.

Dabei wäre gerade eine innermuslimische Islamismus-Debatte dringend nötig. Wenn heute 71 Prozent der Befragten in Deutschland laut einer Umfrage des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung davon ausgehen, dass eine „radikale Interpretation des Koran“ zur Gewalt aufstachelt, so ist das nicht unbegründet (9). Der religiöse Fundamentalismus — im Sinne einer religiösen Praxis, die von unveränderlichen, unfehlbaren Lehren ausgeht und diese nach dem Beispiel der Vergangenheit in allen Lebensbereichen der Gegenwart durchsetzen will — ist in weiten Teilen der islamischen Welt tatsächlich virulent (10). Auf die Ursachen gehe ich im zweiten Kapitel genauer ein.

Jedenfalls hat der religiöse Eifer Folgen. Auf breiter empirischer Basis zeigt der Soziologe Ruud Koopmans, wie fundamentalistische Einstellungen in kausaler Folge zu wirtschaftlicher Stagnation, politischer Unfreiheit und gewaltvollen Konflikten führen. Insbesondere die Menschenrechtslage ist desolat: Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit bilden regelmäßig das Schlusslicht in den Länderrankings zu Pressefreiheit und Demokratie. Die tiefe Krise, in der sich die islamische Welt zurzeit befindet, ist — entgegen Baerbocks Aussage — eben doch eng mit der Religion und den absoluten Wahrheitsansprüchen, die sie erhebt, verflochten. Diese Erkenntnis kann eine sachliche Islamdebatte nicht einfach ausblenden.

Betroffen sind auch muslimische Communitys in Europa und Deutschland. Koopmans Untersuchungen unter 5.000 Muslimen und 3.000 Christen in sechs europäischen Ländern haben gezeigt, dass fast die Hälfte der Muslime der ersten Generation und fast 40 Prozent der zweiten Generation ein geschlossen fundamentalistisches Weltbild haben. Bei den befragten Christen waren es dagegen nur vier Prozent (11). Damit ist die von rechts kommende These, muslimische Eingewanderte würden die Missstände ihrer Herkunftsländer — Fanatismus, Armut, archaische Geschlechterrollen — auch in die Einwanderungsländer im Westen tragen, nicht ganz von der Hand zu weisen.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.derstandard.at/story/3000000202051/aktivistin-im-iran-wegen-fehlenden-kopftuchs-ausgepeitscht.
(2) https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/bulletin/rede-der-bundesministerin-des-auswaertigen-annalena-baerbock--2131130.
(3) Ozan Zakariya Keskinkılıç: Muslimaniac. Karriere eines Feindbilds. 2021. Seite 11.
(4) Jan Düsterhöft, Riem Spielhaus und Radwa Shalaby: Schulbücher und Muslimfeindlichkeit: Zur Darstellung von Musliminnen und Muslimen in aktuellen deutschen Lehrplänen und Schulbüchern. 2023.
(5) Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann Stiftung: Zwischen Pauschalisierung und Differenzierung. Einstellungen gegenüber Muslim:innen und dem Islam in Deutschland. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/51_Religionsmonitor/Zwischen_Pauschalisierung_und_Differenzierung.pdf.
(6) https://www.swr.de/swrkultur/leben-und-gesellschaft/antimuslimischer-rassismusein-problem-mit-steigender-brisanz-100.html.
(7) https://www.deutschlandfunk.de/berichterstattung-ueber-hanau-es-geht-um-praezision-im-100.html.
(8) https://www.tagesspiegel.de/berlin/moscheen-brandstifter-verurteilt-3920404.html
(9) https://www.zeit.de/2021/24/islam-deutschland-forschung-extremismus-kopftuch/komplettansicht.
(10) https://publ.nidi.nl/demos/2015/demos-31-08-vandalen.pdf.
(11) Ruud Koopmans: Das verfallene Haus.

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