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Der sogenannte Fortschritt

Der sogenannte Fortschritt

Die Ideologie des „Immer weiter“ führt an kein Ende — aber sicher in den Abgrund.

Die Moderne mit ihrer Betonung des Verstandes und der Rationalität hat viele wissenschaftliche Entdeckungen und technische Entwicklungen hervorgebracht. Die ganze kapitalistische Produktionsstruktur wäre ohne die entsprechenden Erkenntnisse und ohne die Rationalität überhaupt nicht denkbar. Wäre die Aufklärung ausgeblieben, dann gäbe es heute vermutlich nicht all diese Maschinen und Geräte, keine Motoren und Computer, keine Automobile und Flugzeuge, auch die moderne Medizin wäre überhaupt nicht denkbar.

Aus den Errungenschaften hat sich eine regelrechte Fortschrittseuphorie, man könnte auch von Ideologie sprechen, entwickelt. Denn all diese Entwicklungen und Entdeckungen werden als großer Fortschritt gepriesen. Sie beweisen scheinbar, dass die Menschheit immer weiter voranschreitet. Im modernen Kapitalismus ist der Fortschritt synonym geworden mit einer ständigen Erfindung neuer Geräte und Maschinen und damit immer neuer Waren. Der Fortschritt steigert die Warenflut, welche die Maschinenwelt des Kapitalismus hervorbringt, und damit die Möglichkeit der Kapitalisierung, also der Steigerung von Profiten. Jedes neue Gerät, jede Entwicklung, wird als Fortschritt auf einem unaufhaltsamen Weg voran betrachtet.

Der Fortschritt ist zur Grundmaxime des modernen Lebens geworden. Keine politische Bewegung, keine Partei und keine Theorien kommen ohne das Versprechen weiteren „Fortschritts“ aus. Das klingt gut, verspricht diese Terminologie doch eine irgendwie geartete Verbesserung des Lebens der Menschen. Wir schreiten voran, wie es der Begriff verkündet, auf dem Weg in eine glorreiche Zukunft. Doch auf welchem Weg wandeln wir da eigentlich? Und was ist das Ziel? Unter dem Schlagwort des Fortschritts wird bei genauerer Betrachtung lediglich eine sich immer weiter ins Unermessliche steigernde Warenflut verstanden. Seit einigen Jahren tritt die Digitalisierung hinzu, ebenfalls verbunden mit Waren in Form von digitalen Endgeräten.

Dieser sogenannte Fortschritt ist also längst schon verengt worden auf die kapitalistische Profitmaximierung, die durch fortwährend neu geschaffene Geräte und Waren schwindelnde Höhen erklimmt.

Dass dabei allerdings eine Verbesserung des Lebens erzielt wird, ist nicht wirklich ersichtlich. Auch wenn alle Versprechen des Fortschritts eingelöst werden, füllen sich die Leben der Menschen doch nur mit neuen Anforderungen, neuen Waren und neuen Herausforderungen. Weder hat der sogenannte Fortschritt dazu beigetragen, schwere Arbeiten für den Menschen abzuschaffen, noch hat er eine Steigerung des Wohlbefindens erzielt. Im Gegenteil: Durch den ständigen Fortschritt werden die individuellen Beziehungen, beispielsweise durch die Digitalisierung, zerstört; am Arbeitsplatz steigt der Leistungsdruck bei gleichzeitig zunehmender Komplexität der Zusammenhänge.

Die individuelle Lebensführung verkompliziert sich ebenfalls immer mehr, sei es durch digitale Dienstleistungen, die immer seltener in analoger Form zu haben sind, sei es durch die steigende Zahl an Gerätschaften, die das Leben scheinbar bequemer machen, jedoch mit einem steigenden wirtschaftlichen Aufwand verbunden sind — denn all diese Geräte wollen erst einmal gekauft und müssen sodann oftmals versichert werden. Die steigende Warenflut benötigt wachsende Kapazitäten, weshalb größere Wohnflächen vonnöten werden, die wiederum mit erhöhtem finanziellen Bedarf einhergehen.

Zusätzlich werden die Zugänge zu allen Leistungen verkompliziert. Tausende von Codes und PIN-Nummern wollen gemerkt, Konten verknüpft und Services integriert sein. Das Smartphone läuft über von Apps, die in immer mehr Bereichen obligatorisch sind, und so muss ein neues Smartphone mit mehr Speicherplatz her — während die Entwickler der Endgeräte gleichzeitig den Speicherplatz in die Clouds auslagern. Die zahlreichen Updates aller digitalen Endgeräte verbrauchen enorme Datenmengen und sorgen im Ergebnis nicht dafür, dass die Geräte tatsächlich besser funktionieren, ganz im Gegenteil. Fällt der Zugang zur digitalen Welt aber aus, dann ist damit auch der Zugriff zu allen Dienstleistungen, vom Bankkonto bis zum Bahnticket, verloren.

Die Warenflut verschlingt überdies Ressourcen ohne Ende und hinterlässt gigantische Müllberge. Gleichzeitig werden die Menschen nicht glücklicher, sondern es steigern sich ihre Verzweiflung, ihre Depression und ihre Angst.

All die Waren vermögen es nicht, das wachsende Gefühl der Sinnlosigkeit zu stillen, ja, sie tragen sogar zu dessen Wachstum bei.

Dennoch sprechen Ökonomen, egal ob kapitalistische, sozialistische oder kommunistische, stets von der Erfordernis des Wachstums und des Fortschritts. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, so ließ es einst die SED verlautbaren und sah sich dabei wohl auf dem Weg des Fortschritts.

Doch zu welchem Ziel führt dieser Fortschritt? Das Versprechen des Fortschritts ist die Verkündigung einer konstanten Bewegung ohne Ziel und damit nach Hannah Arendt inhärent totalitär. Es bleibt das Versprechen eines glückseligen Zustandes irgendwann in der Zukunft — eine uneinlösbare Ideologie. Der Fortschritt, er sei ein Naturgesetz, dem die Menschen nur zur Geltung verhelfen müssen, so wird konstatiert, ohne zu berücksichtigen, dass es die Menschen sind, die all diese Dinge schaffen, und dass ein echter Fortschritt überhaupt nicht stattfindet, ja gar nicht stattfinden kann, wenn man ihn reduziert auf einen stumpfen Materialismus. Klar braucht der Mensch Dinge, um zu leben und zu arbeiten. Doch braucht er einen endlosen Warenstrom, der ihn, einen Tsunami gleich, hinfort spült, und den Menschen in die Warenwelt als Bestandteil eingliedert, welcher der Mensch zum Untertan wird, anstatt die Ware als einen Teil der Menschenwelt zu behandeln? Übertreiben wir es hier mit dem ewigen Fortschrittsgedanken nicht längst?

Komplexität

Dieser Pseudofortschritt hat zudem dazu geführt, dass die Welt immer komplexer wird, was letztlich nur eine beschönigende Floskel für den steigenden Grad wechselseitiger Abhängigkeiten ist. Der Warenstrom umspannt die ganze Welt, speist sich aus multiplen Quellen, die überall sprudeln. Schon ein vergleichsweise kleiner Stau, ein größerer Unfall oder eine andere Störung bringen die Produktion immer wieder an den Rand des Kollaps. So haben beispielsweise die Huthis im Jemen erfolgreich das Rote Meer blockiert, mit der Folge riesiger Umwege für die Transportschiffe. Ein größerer Krieg im Nahen Osten bringt das Risiko einer katastrophalen Steigerung der Ölpreise mit sich, welche die Welt ins Chaos stürzen könnte.

Hinzu kommt die bereits angesprochene Digitalisierung von allem. Diese zwingt den Menschen ein komplexes System auf, das schon bei einer kleineren Störung zu großen Verwerfungen führen könnte, etwa den Ausschluss vom Zugang zum eigenen Bankkonto, eine Störung von Produktion oder Logistik.

Dies bewies eine Störung des Cloud-Dienstes von Microsoft im vergangenen Sommer, der für den Flugverkehr in der ganzen Welt Chaos zur Folge hatte. Auch Züge und andere Unternehmen waren betroffen. Ist die Störung nur ein bisschen größer, kann dies kaskadenartige Auswirkungen auf die ganze Welt haben. Und die digitale Sphäre wird aufgrund der steigenden Komplexität immer anfälliger. Mit der Digitalisierung von allem steigt auch das Risiko von Cyber-Angriffen und Datendiebstählen, die dann einzelnen Personen oder ganzen Gesellschaften enormen Schaden zufügen können.

Während die Gesellschaft an sich immer komplexer wird, erlebt der Einzelne eine steigende Monotonisierung des Lebens. Die Komplexität hat zu einer immer weiteren Spezialisierung im beruflichen Bereich geführt, bis zu dem Punkt, an dem der Einzelne immer wieder nur eine einzige Tätigkeit monoton ausführt, etwa immer den gleichen Knopf an der Maschine betätigt, immer dasselbe Formular ausfüllt und bearbeitet, immer dieselbe Strecke fährt, ob mit Bus oder LKW.

Der Fortschritt hat die Menschen reduziert auf eine einzige Funktion als winziges Zahnrad in einem monströsen Getriebe, das sich immer nur um sich selbst dreht. Auf diese Weise haben die Menschen einen großen Teil der ihnen möglichen Fertigkeiten bereits längst verlernt — auch weil die Maschinen ihnen immer mehr davon abnehmen, ohne allerdings den Menschen gänzlich von der Arbeit zu befreien, wie einst versprochen. Die Folge ist, dass der Mensch außerhalb der digitalisierten und automatisierten Sphäre zur Lebensunfähigkeit verdammt wäre.

Auch im persönlichen Leben rückt der Erlebnishorizont immer näher. Zwar bietet die Welt heute allerlei Möglichkeiten der Ablenkung von der eigenen Sinnlosigkeit, doch reduziert sich die Nutzung durch den Menschen dennoch auf die immer gleichen Angebote. So schwindet die Vorstellungskraft dessen, was es jenseits des winzigen Erfahrungskreises zu finden gibt. Es ist mittlerweile oft zu beobachten, dass, wenn Menschen sich treffen, sie stets über dieselben wenigen Themen sprechen. Das können die neuesten Netflix-Serien sein, der letzte Urlaub, der immer dasselbe Erlebnis vor wechselnder Kulisse darstellt, oder die Arbeit, wovon es wenig zu berichten gibt, weil immer dasselbe geschieht.

Gleichzeitig verarmen die individuellen Beziehungen in der digitalen Wüste, in der zwar jeder mit jedem in Kontakt, nicht aber in Beziehung treten kann. Damit schwinden die Fähigkeit der psychologischen Selbstregulation in Interaktion mit anderen wie auch die Fähigkeit, überhaupt in Beziehung treten zu können.

Wer nur um sich selbst kreist, sei es in digitalen Sphären oder am Arbeitsplatz, der lernt es nicht, sich mit anderen zu arrangieren, in einen Austausch und Ausgleich zu kommen. Auch dadurch erklärt sich vielleicht die aufgeladene Stimmung innerhalb der Gesellschaft, die jederzeit explodieren kann.

Die moderne Gesellschaft wird früher oder später an ihrer eigenen Komplexität zugrunde gehen — und zwar unweigerlich. Die Frage ist, welche Menschen dann übrig bleiben werden. Nur wenige werden in der Lage sein, unabhängig von der digitalen und automatisierten Sphäre des sogenannten Fortschrittes zu überleben. Und viele davon sind auch dann nicht in der Lage, in Beziehung zu treten. Stattdessen ist ein jeder vorbereitet, um die knappen Ressourcen zu konkurrieren, anstatt gemeinschaftlich einen Neuanfang zu wagen.

Fraglich ist, was zu tun ist, um dieses Dilemma zu beheben. Aus der totalitären Bewegung des ewigen Fortschrittes gibt es von alleine kein Entrinnen. Der Kapitalismus und das dahinterstehende Finanzsystem leben von diesem Pseudofortschritt, indem sie fortwährend neue Waren auf den sogenannten Markt werfen — Waren zudem, die zwar niemand nachgefragt hat, die aber durch eine gewaltige Propagandamaschine, Marketing genannt, in die Menschen verpresst werden. Auch sozialistische Ideologien bringen hier keine Lösung, da sie auf dieselbe Fortschrittsideologie setzen wie der Kapitalismus, mit der ähnlichen Vorstellung einer nie zu erreichenden Utopie, lediglich auf Basis einer staatlich gelenkten Produktion. Die Vertreter dieser Ideologien gehen aus denselben Traumastrukturen hervor, die Konsum und Fortschritt als Überlebensstrategie diktieren, und können daher auch keine anderen Vorstellungen entwickeln.

Und der Fortschritt kann auch gar nicht von sich aus enden. Denn jede Entwicklung, jedes Gerät und jede Lösung, die ein — oft nur vermeintliches — Problem beseitigen, bringen eine ganze Reihe von neuen Problemen mit sich. Umweltverschmutzung ist nur eines davon, das dann mit neuen, vermeintlich effizienteren Technologien behoben werden muss, die wiederum mit neuen Problemen verbunden sind.

Statt auf Erlöser und Führer zu hoffen, wäre es notwendig, aus der Ideologie des Fortschritts auszusteigen. Die ständige Weiterentwicklung von Gerätschaften und Waren hat der Menschheit keinen Mehrwert gebracht. Im Gegenteil, je moderner die Ware, desto kürzer ist ihre Haltbarkeitsdauer, und je digitalisierter, desto fehleranfälliger ist sie.

Statt also jedem neuen Trend, jeder neuen Ware hinterherzulaufen, wäre es sinnvoll, aus dieser Maschinerie auszutreten und sich dem sogenannten Fortschritt zu verweigern. Statt das Leben in die digitale Sphäre zu verlagern und hoch spezialisierter Arbeit nachzugehen, könnte man auf analoge Beziehungen setzen und sich mit vielen Dingen beschäftigen: Man könnte mit den Händen und der Natur arbeiten lernen und damit in Kontakt mit der Wirklichkeit sein. Das stärkt zudem die Resilienz im Falle eines Scheiterns des Systems steigender Komplexität.

Denn wenn die Fortschrittsideologie an sich selbst zugrunde geht — und das wird sie früher oder später tun —, dann wird der Warenstrom versiegen. Abhängigkeit von diesem Warenstrom bedeutet dann für viele Menschen ebenfalls den Untergang. Wir müssten als Menschen ein ganz neues Verhältnis zum Leben und zur Wirklichkeit entwickeln.

Das Herrschaftssystem führt seit Jahrtausenden zu fortgesetzten Traumata, die eine Flucht in Waren und einen Glauben an Fortschritt als Überlebensstrategie naheliegend erscheinen lassen. Diese Traumata müssten jedoch vielmehr aufgearbeitet und integriert werden. Gleichzeitig wäre es notwendig, Strukturen zu entwickeln, die lokal alles zum Überleben Notwendige hervorbringen und Möglichkeiten der Partizipation für alle ermöglichen.

Das ist keine leichte Aufgabe, und geschieht nicht über Nacht. Es kann auf diesem Weg viele Rückschläge und Hindernisse geben. Aber es ist der einzig gangbare Weg, um der totalen Herrschaft, dem ökologischen Kollaps und der Atomisierung zu entkommen.


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