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Der Tag der Entscheidung

Der Tag der Entscheidung

Der Dokumentarfilm „A Single Day“ beleuchtet das amerikanische Massaker in My Lai und erzählt die Geschichte dreier mutiger Soldaten, die sich ihren eigenen Kameraden in den Weg stellten — Anfang 2026 kommt er in die Kinos.

Es gibt Tage, die die Geschichte verändern. Der 16. März 1968 war so ein Tag. Während in deutschen Wohnzimmern die Tagesschau lief, während die Welt mit dem Kalten Krieg beschäftigt war, geschah in einem vietnamesischen Dorf My Lai das Unfassbare: Amerikanische Soldaten ermordeten über 500 unbewaffnete Zivilisten – Frauen, Kinder, Greise. Vier Stunden Hölle, die bis heute nachwirken.

Larry Colburn ist 18 Jahre alt, als er als Helikopter-Bordschütze über My Lai fliegt. Ein Junge aus dem ländlichen Washington State, aufgewachsen mit Skifahren und Zeichnen, Patriotismus im Blut – sein Vater hatte in der Normandie gekämpft.

Was Colburn und seine Crew an jenem Märzmorgen sehen: Menschen auf einer Straße, erschossen beim Versuch zu fliehen. Eine Frau, der vor ihren Augen der Schädel weggeschossen wurde. Ein Graben mit 150 Leichen, in dem ein einzelner Soldat stand und weiter in die Sterbenden feuerte.

Felder’s Film lässt Colburn erzählen – ruhig, präzise, wie ein Mann, der diese Geschichte tausendmal durchlebt hat. „Dieses Bild ist jeden Tag vor mir“, sagt er, „zusammen mit dem Bedauern, dass wir ihr nicht helfen konnten.“ Die Frau im Gras, der er von der offenen Hubschraubertür aus Handzeichen gab: Bleib unten, beweg dich nicht. Als sie vom Tankstopp zurückkamen, war sie tot.

Hugh Thompson, der 24-jährige Pilot, landet seinen Helikopter zwischen amerikanischen Soldaten und einem Bunker voller verängstigter Zivilisten. Er befiehlt seinen Leuten – Colburn und Glenn Andreotta –, auf die eigenen Kameraden zu schießen, falls diese auf die Zivilisten feuern.

Ein junger Mann setzt sein Leben aufs Spiel – für Menschen, deren Sprache er nicht spricht, in einem Krieg, den er nicht versteht. Acht bis zehn Menschen klettern aus dem Bunker. Ein zweiter Helikopter wird gerufen. Thompson schirmt die Zivilisten mit seinem eigenen Körper ab.

Das ist die Szene, über die jeder Achtzehnjährige nachdenken könnte, der demnächst seinen Musterungsbescheid bekommt: Der Moment, in dem du entscheidest, ob du Befehle befolgst oder deinem Gewissen folgst.

Captain Ernest Medina hält am Vorabend eine Rede: Rache für die gefallenen Kameraden, der Feind ist grausam, keine Gnade. Am nächsten Tag erschießt er eine verwundete Frau, die Colburn gerade mit einer Rauchgranate markiert hat, um Hilfe zu signalisieren.

Das System schweigt von unten nach oben: Vom Soldaten zum Lieutenant, vom Captain zum Colonel, vom General zum Pentagon.

„Vom General der Americal Division bis ganz nach unten, ich glaube, jeder wusste, was an diesem Tag passiert ist“, sagt Ron Haeberle, der Fotograf, der das Massaker dokumentierte. Jeder wusste es. Keiner tat etwas.

Die Prozesse werden zur Farce. Von 26 Angeklagten wird ein einziger verurteilt: Lieutenant William Calley. Lebenslänglich. Nach drei Tagen auf persönliche Anweisung von Präsident Richard Nixon in Hausarrest entlassen. Die Strafe wird reduziert – erst auf 20 Jahre, dann auf 10, schließlich Freilassung. Calley verdient später 2.000 Dollar pro Auftritt, als Täter, der über My Lai spricht.

Thompson und Colburn werden nach ihrer Aussage auf gefährliche Missionen geschickt – ohne angemessene Deckung. Thompson stürzt viermal ab, bricht sich das Rückgrat. „Er dachte, jemand versucht, ihn loszuwerden, bevor er Vietnam verlässt“, sagt Colburn.

Zurück in den USA: Morddrohungen, Hassbriefe, tote Tiere auf der Türschwelle. Der Politiker Mendel Rivers fordert, Thompson vor ein Kriegsgericht zu stellen – wegen Hochverrats. In Officers' Clubs verlassen die Leute den Raum, wenn Thompson eintritt.

Das Absurde: Laut Armee-Unterlagen stirbt Colburn 1972 in Vietnam. Er findet seinen eigenen Totenschein in den VA-Akten. „In gewisser Weise haben sie uns tatsächlich verschwinden lassen“, sagt er.

2024 war bereits klar: Mit staatlicher Filmförderung für die Produktion ist nicht zu rechnen. Es sei einfach nicht das passende Sujet für die „Meinungsmacher“ dieser Zeit, sagte Felder. Gesellschaftskritische, nicht konforme Dokumentarfilme erhalten kaum noch entsprechenden Support vom Land oder Bund, geschweige denn vom Fernsehen. Und senden will der öffentlich-rechtliche Rundfunk (ÖRR) den Film offenbar auch nicht.

Der Film wurde durch Spenden, Streaming, Vorabkäufe und Beteiligungen finanziert. Unabhängig. Ohne die Segnungen jener Institutionen, die gerade dabei sind, Deutschland wieder kriegsbereit zu reden.

Felder fügt in seinem circa 100-minütigen Dokumentarfilm eine dritte Ebene hinzu: Connor Colburn, Larrys Sohn. „Die Geschichten, die ich über den Vietnamkrieg hörte, haben mir einen echten Widerwillen gegen Krieg gegeben“, sagt Connor. Keine abstrakten Geschichten aus Lehrbüchern, sondern das Trauma seines Vaters, das am Küchentisch saß, das in schlaflosen Nächten präsent war.

Der Film zeigt auch Larry Colburns Vater, der 1944 in der Normandie landet, mit braunem Haar weggeht und mit weißem zurückkommt. „Schon krass, wie sich Traumata über Generationen entwickeln“, meint Felder.

Und dann sagt Connor den Satz, der auch in die deutsche Wehrpflicht-Debatte gehört: „Geht nicht in diese Kriege, um für diese reichen Politiker zu kämpfen, die niemals ihre eigenen Kinder an die Front schicken würden, weil es ihnen scheißegal ist, was mit euch passiert.“

2026 jährt sich Larry Colburn’s Tod zum zehnten Mal. Hugh Thompson starb bereits 2006. Glenn Andreotta wurde wenige Wochen nach My Lai in Vietnam getötet. Die drei Männer, die an jenem Tag das Richtige taten, sind alle tot. Felder hat diesen Film zehn Jahre nach Colburn’s Tod fertiggestellt.

Die Mechanismen, die My Lai ermöglichten, sind nicht verschwunden. Die Dehumanisierung des Feindes, die Rechtfertigung durch „nationale Sicherheit“, die Straflosigkeit der Verantwortlichen – das alles existiert weiter. Von Abu Ghraib bis Guantanamo, von Drohnenangriffen bis zu Kriegsverbrechen, die als „Kollateralschäden“ bezeichnet werden.

Der Film zeigt, dass es immer eine Wahl gibt. Dass Gehorsam keine Entschuldigung ist. Dass das Schweigen Teil des Verbrechens ist.

Der Autor Michael Bilton stellt im Film die entscheidende Frage: „Es mag ein Ereignis in deinem Leben geben, bei dem du siehst, dass etwas falsch ist, und du hast die Wahl, ob du etwas dagegen unternimmst oder nicht.“

Dies führt beliebte Ausreden von an Kriegsverbrechen beteiligten Soldaten ad absurdum, man habe ja auf Befehl gehandelt. „Mut zum Widerstand, darum geht es in diesen kriegslüsternen Zeiten“, so Felder.

Ron Haeberle zeigt die Kamera, mit der er am 16. März 1968 fotografierte. „Das ist die Kamera, die ich am 16. März 1968 benutzt habe. Das sind die letzten Bilder.“ Haeberle sagt: „Ich bin schuldig an der Vertuschung. Jeder Soldat dort ist schuldig an der Vertuschung.“

Connor erzählt, wie er die Asche seines Vaters auf einem Berggipfel verstreute. „Ich warte immer noch darauf, dass etwas Positives aus all dem hervorgeht“, hatte Larry Colburn gesagt.

2016 stirbt Larry Colburn mit 67 Jahren an Krebs. Seine Frau Lisa sagt kurz nach seinem Tod: „Er war ein sehr friedlicher Mann, der den großen Wunsch hatte, dass es eine friedliche Welt gibt.“

Was Felder einfängt, ist die Geschichte von Menschen, die in unmöglichen Situationen moralische Klarheit bewahrten. Und die Geschichte einer Gesellschaft, die diese Menschen dafür bestrafte.

Im Januar 2026 wird der Film in ausgewählten Kinos der USA gezeigt. Im Februar 2026 kommt er nach Deutschland: ins Berliner Babylon, ins Scala in Leverkusen, ins Kölner Filmhaus.


Trailer Film "A SINGLE DAY" mit dt Untertiteln

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Quellen und Anmerkungen:

„A Single Day“ Vom Abenteuer zum Widerstand
Deutschland 2025, Regie: Christoph Felder, circa 100 Minuten

Trailer/Infos: resistance-film.jimdofree.com

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