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Der Verräter

Der Verräter

Emmanuel Macron wurde seinem Volk und seinem Jugendtraum untreu. Exklusivabdruck aus „Ce pays que tu ne connais pas“ von François Ruffin.

von François Ruffin

„Er ist 18 Jahre alt. Nichts macht ihm Angst.“

(Herr Macron,) Sie sind nun Schüler am Henri-IV im Schatten des Pantheons, dem Gymnasium von Maupassant, Musset, Gide, Sartre, Nizan. Und Sie sind dort, um einer von ihnen zu werden: „Ich träumte davon, Schriftsteller zu werden.“

Sie schrauben Ihren literarischen Ehrgeiz höher: „In seiner Freizeit“, schreibt Le Monde, „feilt er an einem (niemals veröffentlichten) Abenteuerroman, der in der präkolumbianischen Zeit spielt. „Er sprach in einem mysteriösen Tonfall davon“, erinnert sich Jean-Baptiste de Froment. „Er deutete an, dass es sich um etwas Großes handelte, etwas sehr Gelungenes.“ „Babylone Babylone“ lautete der Arbeitstitel, so scheint es, die Geschichte des letzten Indianers in Mexiko.

Zur gleichen Zeit versuche auch ich mich im Schreiben. Ich versuche es nur. Ich verstecke mich auf dem alten Bauernhof meiner Oma in Proyart im Santerre, im Schutz der Scheunen und vor den Blicken. Sommer für Sommer tippe ich auf meiner Tastatur. Ich plage mich. Ich schinde mich ab, es ist mühsam. All diese Seiten, diese Tausenden von Seiten (Romane, Theaterstücke, Gedichte, Essays, ich habe alles versucht), all diese Seiten verstecke ich voller Scham. Ich erwähne sie nie, noch weniger „mit einem mysteriösen Tonfall“, ganz sicher nicht als „etwas Großes, sehr Gelungenes“.

Ich bewerte mich, verurteile mich: Das ist schlecht. Noch schlechter als Céline. Im Laufe der Kapitel stürze ich mich freiwillig und voller Selbstmitleid in mein Schicksal und in das unsichere und ungewisse Los der entlassenen Arbeiter, der Hühner in Massentierhaltung, der Hungernden in der Dritten Welt und der Regenwälder des Amazonas. Die weite Welt kenne ich nicht und meine einfallslose, steife und beschränkte Fantasie fliegt nicht nach Mexiko und zu seinem letzten Indianer. Ich drehe mich im Kreis und ziemlich viel um mich selbst.

Dennoch halte ich Jahr für Jahr, Manuskript für Manuskript am Schreiben fest, es gleicht einer Besessenheit, einer Erlösung: Denn ich habe nichts anderes. Kein Ersatztalent! Ich muss mich — durch Worte — von meiner Minderwertigkeit freikaufen.

Worin besteht also mein großes Drama? Als Student am Institut für Geisteswissenschaften sehen die Lehrkräfte eine Laufbahn als Lehrkraft für mich vor. Auch meine Eltern: „Du musst dich festlegen“, „dein Nest bauen“. Ich sehe keinen Ausweg. Die Arbeit als Lehrer stürmt auf mich zu wie ein Fluch, bereit, mich vollständig zu verschlingen: Nach der Vorschule, Grundschule, Sekundarstufe, dem Gymnasium, der Universität werde ich also in die Sekundarschule und ans Gymnasium zurückkehren? Bis zu meiner Rente? Und dann sterben? Ich fand diese Laufbahn inzestuös, als würde ich niemals den Bauch meiner Mutter verlassen. Als würde ich nie über den hohen Zaun klettern, der meine Existenz vor der Realität schützt. Als wäre ich bereits im Sarg und würde lebendig ersticken ...

Und zu alledem eine unglückliche Liebe (seufz).

*

Seit „Babylone Babylone“, seit Ihrem Entwurf des „großen Schelmenromans“ sind zwanzig Jahre, beinahe fünfundzwanzig, vergangen. Welches Werk haben Sie auf die Welt gebracht?

Vielleicht ist es auf der Schule Henri-IV, wo Sie langsam in Fahrt kommen. Zu Ihrer langen Mähne tragen Sie einen großen, schwarzen Mantel, der Ihnen „das Aussehen eines romantischen Dichters verleiht“. Ihre Mitschüler bemerken Ihr großes Wissen sehr schnell. Sie zitieren René Char mit einer theatralischen Stimme, auch dort ist Ihre Französischlehrerin ganz hingerissen.

„Emmanuel war episch, man spürte seine inspirierende Aura, seine innere Energie“, versichert Hélène Huby, eine Klassenkameradin aus Ihren Vorbereitungskursen für die angesehene Hochschule École Normale Supérieure. „Dafür wurde er respektiert.“

Und wozu schreiben, wenn Sie wie ein Schriftsteller aussehen? „Die epische Aura“? „Die innere Energie“? Das Schreiben ist ein Entsagen, ein Zurückziehen von der Welt mit wenig Applaus als Anerkennung. Sie werden mit Ihrer täglichen Ration an Lobgesang überschüttet. Das Schreiben ist der Moment, wo man sich mit sich selbst misst, in dem man sich oft selbst enttäuscht: Man hatte eine so geniale, so ausgefallene Idee im Kopf und nun auf dem Papier offenbaren sich unsere Grenzen. Das ist alles. Mehr haben wir nicht drauf. Weder Homer, noch Rimbaud. Ein Schmöker mehr in den Stapeln der Buchhändler, Sätze, die sich an andere Sätze reihen, Tausende Sätze, seit Jahrhunderten.

„Am Anfang waren wir beeindruckt, da er sehr selbstbewusst war. Er war sehr gut im Namedropping“, erinnert sich Ihr Kollege Jean-Baptiste de Froment wenig milde. „Und dann kamen die ersten Noten und wir stellten fest: Das ist doch alles Quatsch.“ „Er sprach sehr gewandt, imitierte die Universitätssprache bis zur Perfektion, doch im Grunde war es ziemlich hohl.“ Sie fallen bereits durch die schriftliche Aufnahmeprüfung für die École Normale Supérieure, zweimal. Das würde ich Ihnen nicht vorwerfen, im Gegenteil: Versagen würde Sie beinahe menschlich machen.

Es ist etwas anderes, das stört. Der Beginn der Hochstapelei: „Ohne sich als Normalien zu bezeichnen, pflegte Macron seinen Gesprächspartnern von den Kursen an der École Normale Supérieure zu erzählen“, bemerkt ein Angehöriger. „Und im kleinen Pariser Kreis kreieren diese einfachen Kleinigkeiten, die bei jedem mondänen Diner nebenbei erwähnt werden, Übertreibung für Übertreibung, um Sie herum eine Legende ...“ Die Presse — L’Obs, Vanity Fair, Closer — erhebt Sie in den Stand eines „Normalien“. Und der Präsident der Stiftung der ENS, der Journalist Alain-Gérard Slama, erfindet für Sie den Titel: „Ehrenschüler der École Normale Supérieure“. Das ist beinahe besser als das kurze und auch für andere gebrauchte „Normalien“. „Ehrenschüler“, der besondere Titel, Schmeichelei nach Maß: Und so wurde Ihre Wunde gereinigt ...

Sie beeindrucken alle. Sie beeindrucken sich selbst. Sie beginnen an der Universität Paris X ein Philosophiestudium und behaupten Jahre später, 2010, im Journal de Sciences Po, Sie hätten „eine Dissertation über die Gemeinnützigkeit mit Étienne Balibar begonnen“. „Begonnen“ — selbst ein einfacher Entwurf genügt Ihnen, um sich zu rühmen ... Der Philosoph hat „absolut keine Erinnerung“ daran, aber egal: Libération, Paris Match und Konsorten gestehen Ihnen den Doktortitel ohne Wenn und Aber zu. Von Ihrem „Doktorvater“ sagen Sie, dass er Sie „sehr inspirierte“ ... „Ich finde diese Inszenierung seiner ‚philosophischen Ausbildung‘, die er selbst organisiert oder die sein Umfeld organisiert, absolut obszön“, klärt Étienne Balibar auf.

Dieser Mythos findet seinen Höhepunkt natürlich mit Paul Ricœur. Was haben Sie für diesen Philosophen getan? Archivierung, ein wenig Dokumentation, Fußnoten, Formatierung von Biografien ... Gestehen wir Ihnen zu, dass bei diesen Aufgaben eine Verbindung entstanden ist, die Sie ausschmücken: „Er hat mich philosophisch neu geschult (...) Ich habe wieder bei Null angefangen (...) Mit ihm habe ich die antike Philosophie noch einmal von vorn gelesen. Er hatte zu diesem Thema einen herausragenden Abstand, aufgrund der Tatsache, dass er es ein halbes Jahrhundert studiert und gelehrt hatte.“ Und diese Weisheit gab er am Ende seines Lebens natürlich an Sie weiter.

Sie sind sein Erbe ... Dieses Patent gibt Ihnen das Recht auf Kauderwelsch: „Ich verbinde Transzendenz mit Immanenz. Ich habe immer zur Dimension der Vertikalität gestanden, aber gleichzeitig muss sie in der vollständigen Immanenz der Materialität verankert sein.“ — Ein überhebliches Geschwätz, dass Journalisten mit großem Eifer übernehmen, als würde es sich um einen tiefsinnigen Denker handeln.

Die Philosophin Myriam Revault d’Allonnes, Mitglied des Fonds Ricœur, regt sich auf: „Er zieht absolut übertriebenen Profit daraus. Ricœur war empfänglich für das Konzept von Solidarität. Aber bei Macron wird Konservatismus mit vermeintlichem Archaismus von sozialen Errungenschaften gleichgesetzt und Progressismus mit Flexibilität und wirtschaftlicher Deregulierung. Er ist weder ein Intellektueller noch ein Staatsmann, sondern ein Technokrat, sicherlich intelligent und gebildet, aber ein Vertreter eines ziemlich klassischen rechten, liberalen Gedankenguts.“

Es ist ein Symptom: Man stellt sich Fragen zu Ihren „Beziehungen“ zu Paul Ricœur, zu Ihrer „Nähe“. Selbst die Philosophie wird zu einem Mittel, um sich hervorzutun. Die einzige berechtigte Frage erspart man Ihnen: Wo ist Ihr Werk? Wo kann man Ihre Gedanken entdecken? Welche Werke haben Sie veröffentlicht?

Absolut nichts.

Sie haben so getan, als ob. Ein Schein, der von „Äußerlichkeiten“ und Haltung verdeckt wurde, ein Schaufenster mit nichts dahinter.

Was haben Sie also mit Ihrer Zeit gemacht? Während dieser Jahrzehnte haben Sie lieber im gehobenen Paris geglänzt, all Ihre Energie widmeten Sie der mondänen Welt. All diese Kumpanei in den Salons der hohen Gesellschaft sicherten die Legende, die aus Gefälligkeit zur Schau gestellt wurde: „Ein Intellektueller in der Politik“.

*

Mein einsames Schreiben war steril, es war das Reale, das mich befruchtete. Auch die Liebe. Sie haben natürlich Milan Kundera gelesen. Sie haben in der Schule sogar in seinem Theaterstück „Jacques und sein Herr“ gespielt, ich war im Publikum. (Es war toll.) In seinem Roman „Das Leben ist anderswo“, meinem Lieblingsroman von ihm, und in seinen Essays unterscheidet der Schriftsteller zwischen:

  • lyrischer Liebe, die an das „ich“, an die Poesie, an die Jugendzeit gebunden ist, die in der Frau, im anderen, einen Spiegel von sich selbst sucht,
  • und epischer Liebe, die an das „es“ gebunden ist, an das literarische Genre, an das reife Alter, die in den Frauen, in den anderen, die Vielfalt der Welt sucht.

Ich bin von einer zur anderen übergegangen, von einem Hirngespinst zu Fleisch und Blut. Tristan wartete nicht länger auf Isolde. Und ich sprang endlich über den Zaun.

Ich sehe mich noch. Es war vor zwanzig Jahren am Eingang vom Zoo in Amiens für meine erste Reportage, eine Art Entjungferung. Édouard, der Kommunikationsbeauftragte des Zoos, hatte mich in sein Büro geführt und ich hatte mein Spiralbuch herausgeholt. Darin standen Zitate des JDA, dem Journal des Amiénois, die ich meinen Gesprächspartnern vorlas, naiv, schulisch, mit einem Hauch Raphaël Mezrahi:

„Der Zoo La Hotoie ist zu einem wahren Ort der Freiheit geworden“, schrieben die Schreiberlinge der Stadtverwaltung.

Édouard reagierte: „Nein, so nicht, ein Zoo bleibt ein Zoo ...“. Carine, Zooleiterin: „Wir haben sieben Hektar, siebzig Arten, also sind die Tiere zwangsläufig in eher engeren Gehegen.“

„Die Tiere entwickeln sich in ihrem natürlichen Lebensraum.“

Édouard: „Das ist nicht möglich, sie sind in Gefangenschaft ...“ Carine: „... und Tausende Kilometer von Ihrem eigentlichen natürlichen Lebensraum entfernt.“

„Sandrine, der Elefant, reicht den Kindern seinen Rüssel, um sie zu begrüßen.“

Édouard: „Nein, sie ist aggressiv, sogar sehr aggressiv. Sie hat eine Art Nervenzusammenbrüche.“ Carine: „Sie reagiert sehr gewalttätig. Und das Elefantengehege ist in der Tat zu klein.“ M. Tavernier, Tierpfleger: „Sie hat sich selbst die Stoßzähne gebrochen, so böse ist sie. Und sie warf mehrere Tierpfleger um (...) mich auch. Sie hat mich fast getötet. Jetzt ist Schluss. Wir vermeiden jeden Direktkontakt. Wir haben Türen auf Hydraulikzylindern.“

Ich ging erleichtert aus dem Zoo, war ganz aufgekratzt. Ich begann in einem komischen Modus, aber ich, der auf der Suche nach mir war, hatte meinen Weg gefunden, eine Daseinsberechtigung: Der Realität ihre Unebenheiten zurückgeben, während die Mission tausend anderer Gehirne in hundert Büros, in sämtlichen Etagen sämtlicher Mächte, der Kommunikationsangestellten, der Manager hiervon, der Direktoren davon, darin bestand, die Realität zu glätten, sie wegzuradieren, ihre Härte zu mildern. Und sie erfüllen Ihre Aufgabe mit so viel Eifer, so effizient, dass Sie dieses Reale nicht mehr kennen, das Sie von Weitem betrachten, von oben, hinter Statistiken, Gesetzestexten, zahlreichen Akten, mit einer eigenen nichtssagenden und neutralen Sprache. Ein Zoo, der hier mit großem Rummel unter Verwendung von Wörtern wie „natürlich“ (siebenmal), „authentisch“ (dreimal), „Freiheit“ (dreimal), „Harmonie“ (dreimal), „Abenteuer“ (zweimal) beschrieben wurde, mit einem Neusprech, der verkehrt herum gelesen werden muss.

Während ich die Wüste durchquerte, während meiner Jahre der Einsamkeit, hatte ich mich vom Realen entwöhnt, von diesem Draußen, das mich anzog und mir zugleich Angst machte. Also rannte ich wie ein Durstiger, der eine Oase entdeckt, los und tauchte ein. Ich tauchte ein bei den „aus den Restaurants Verdammten“, hinter den Fassaden der Sternehotels, wo Sie zu Abend essen. Ich bin eingetaucht bei den Arbeitern in den Callcentern, die man uns als das „Silisomme Vallée“ verkaufte, mit einem Transparent vor dem Bahnhof: „Bill Gates wäre stolz auf uns.“ Ich bin ins Gemeindetierheim eingetaucht und habe die Welpen für ihre letzte Spritze zum Tierarzt begleitet: „Ich warne dich vor. Das ist kein schöner Anblick. Bei so kleinen wie diesen finden wir die Vene nicht. Wir stechen die Nadel direkt ins Herz hinein.“

Ich bin in die Biografien von illegalen Einwanderern und Begegnungen mit Säufern eingetaucht, in ein „Requiem für einen Zeltplatz“ und in die „Metaphysik des Tunings“, in Zeitarbeitsfirmen und ins Gefängnis, in den Wald der Prekarität, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Mindesteinkommen, Sozialhilfe, Haushaltsscheck, konsolidierte Beschäftigung. Ich bin auch in die Welt von Intellektuellen, wie Jean Gadrey und die „Gurus des Wachstums“, Emmanuel Todd und „das Gefühl der Machtlosigkeit“, Richard Wilkinson und die Gleichheit als „Schlüssel für den Fortschritt“, Pablo Servigne und „die gegenseitige Hilfe als anderes Gesetz des Dschungels“ eingetaucht.

Ich bin vor allem bei den Whirlpool-Waschmaschinen und Goodyear-Reifen, bei Parisot-Sofas und Flodor-Chips, bei Magnetti-Marelli-Armaturenbrettern und Abélia-Tapeten eingetaucht, ich bin hinter die Kulissen Ihrer „erfreulichen Globalisierung“ eingetaucht. Ich bin in das „Unternehmensleben“ eingetaucht, das Sie so wenig kennen, aber an dem Sie sich so berauschen. Ich habe meine Zeitung wie ein Marktschreier verkauft, Abonnement für Abonnement erschuftet, die Ausgaben mit dem Fahrrad ausgeliefert, um Portokosten zu vermeiden, Tabakbars akquiriert, mit einem regionalen und später nationalen Distributor verhandelt, mich selbst angestellt und wieder entlassen.

Ich bin die Armut eingetaucht, ganz objektiv, zwischen 1.043 Euro Mindestlohn und 868 Euro Arbeitslosengeld, aber auch in den Reichtum der Träumer: „Sein Hut war alt“, schreibt Victor Hugo, „das Wasser drang durch seine Schuhe und die Sterne durch seine Seele.“ Ich bin bis zum Hals in die Scherereien eingetaucht, bis zur Nase, bis ich nicht mehr atmen konnte, drei Prozesse, immer wegen Diffamierung, mit dem ersten stellvertretenden Vorsitzenden, mit Le Courrier Picard.

Ich wurde vor Gericht als „Sozialparasit“ behandelt, als „Taliban der Information“, als „journalistischer Terrorist“, als Außenseiter in meiner Stadt und ich gehe jetzt mal nicht auf die Kommentare wie „Sie sind beinahe so dumm wie Serge Halimi“ und „Üben Sie Ihren Beruf woanders aus!“ ein. Also ging ich woanders hin und tauchte, dank Daniel Mermet, dank der Sendung „Lá-bas si j‘y suis“, dank France Inter, mit dem Tonbandgerät in ganz Frankreich ein: Meine erste Meinungsumfrage in Longwy in Lothringen über den Schurken-CEO von Daewoo, der mit einer Ehrenlegion belohnt wurde, und Ihren Freund Alain Juppé, der mich sogleich rausschmeißen lassen wollte und es schaffte — das bringt mich noch immer zum Lachen.

Nachdem ich durch die Tür aus dem runden Haus hinaus war, bin ich durch das Fenster wieder hinein und ließ mein Mikro von den LKW des Montblanc bis zu den polnischen Klempnern, von den Billigflaggen im Hafen von Marseille bis in die gehobenen Viertel von Paris wandern. Ich liebte es, in die gehobenen Viertel, in Ihr Frankreich einzudringen, das ich nur allzu schlecht kenne, die Aktionärsversammlungen von Casino, Vinci, LVMH, ein Botschafterempfang im Ritz (mit einem Schwanenkopf als Klospülung), Yachtbesuche in Monaco, im Brüssel der Steuerflüchtlinge.

Wo Mohamed, der Lumpensammler aus dem 16. Arrondissement, ohne Zähne, mir bei Anbruch der Nacht auf einer Stufe sitzend mit einem Bier in der Hand von seinen enttäuschten Liebesgeschichten erzählte: Wie soll man jemanden lieben und geliebt werden, wenn man keine Zähne hat? In der Region Limousin, erinnere ich mich, nahm ein Gastwirt mich mit in den „Wald der Schwulen“, um sich von einem Unbekannten bei Vollmond und zwei Meter von meinem Tonbandgerät einen blasen zu lassen: So wurde „Das Gefällt dir, hm? Kleine Hure, hm?“ ausgestrahlt. Sonderbare Realität, widersinnige Realität, wunderbare Realität.

Ich tauchte und ich tauche noch immer, bin noch immer nicht satt, ich genieße es, bin im Rausch. Als inzwischen „Reporter-Abgeordneter“ treffe ich — leider zu selten — die Putzfrauen der Nationalversammlung, die Pflegerinnen behinderter Kinder in den Schulen, die Krankenschwestern der Psychiatrien oder, wie diese Woche, die „Gelbwesten“, die Gesichter von Cindy, Loïc, Marie, ein wahres Fest, ich verschlinge ihre Worte. Ihr Schmerz, ihre Freude, ihre Wut werden meine, Vampir ihres Lebens, Heißhunger auf das Wahre, es ist nie besser als inmitten von ihnen, inmitten des Volks.

Das ist mein Stoff, eine Sucht mit meinem Schreibwahn dahinter, mehr als viertausend Blätter für Fakir, habe ich ausgerechnet, über fünfzehn Bücher — darunter ein gelungeneres in meinen Augen, ein wichtigeres Buch, das — so hoffe ich — die Zeit übersteht.

Das ist meine Droge und ich weiß, warum: Ich verdanke alles den anderen. Ich rette mich durch die anderen.

*

„Wenn wir uns der Realität der Welt stellen, werden wir die Hoffnung wiederfinden.“ Das ist der erste Satz Ihres einzigen Buchs: „Révolution“ (erschienen im Herbst 2016).

Als Incipit hatten wir bei Flaubert: „Es war in Megara, Vorort von Karthago“, Camus: „Mutter ist heute gestorben. Oder vielleicht gestern, ich weiß es nicht.“, Aragon: „Als Aurélien Bérénice zum ersten Mal sah, fand er sie hässlich. Jedenfalls gefiel sie ihm nicht.“ Und Sie hinterlassen der Literaturgeschichte also: „Wenn wir uns der Realität der Welt stellen, werden wir die Hoffnung wiederfinden.“ Diese „Realität der Welt“, die Sie so gut kennen ...

Sie fahren mit derselben Originalität fort: „Einige denken, dass es mit unserem Land bergab geht, dass uns das Schlimmste bevorsteht, dass unsere Zivilisation sich auslöscht. Dass die Abschottung oder der Bürgerkrieg unsere einzige Perspektive sind. Dass wir zum Schutz vor den großen Veränderungen der Welt in die Vergangenheit zurückgehen und die Rezepte des letzten Jahrhunderts anwenden müssten.“

Ihre Großmutter hatte Sie also in Worte gewickelt, Sie haben mit dem Fläschchen André Gide und seine „Pastoralsymphonie“, die Gedichte von Éluard und René Char aufgesaugt, ein ganzes Gymnasium hat Ihrem keimenden „Genie“ applaudiert, und als erste Seite Ihres einzigen Buches reihen Sie diese schillernden Wortschöpfungen aneinander: „Land geht bergab“, „große Veränderungen“, „Rezepte des letzten Jahrhunderts“ und so weiter. Hallo „epische Aura“! „Schelmenroman“! „Etwas Großes“!

Ohne Komplexe fahren Sie fort: „Wir sind in eine neue Ära eingetreten. Die Globalisierung, die Digitalisierung, die wachsende Ungleichheit, die Klimabedrohung, geopolitische Konflikte und Terrorismus, das bröckelnde Europa, die Demokratiekrise der westlichen Gesellschaften, der Zweifel, der sich inmitten unserer Gesellschaft einnistet: Das sind die Symptome einer Welt im Wandel.“ Monsieur Homais hat Flaubert die Feder geklaut ...

„Auf diesen großen Wandel können wir nicht mit den gleichen Menschen, den gleichen Ideen reagieren. Indem wir uns einbilden, es sei möglich, in die Vergangenheit zurückzukehren. (…) Wir müssen der gesamten Wahrheit ins Auge blicken, über die großen Veränderungen, die stattfinden, debattieren. Wo müssen wir hingehen und über welche Wege. Wie viel Zeit wird diese Reise in Anspruch nehmen. Denn all dies ist nicht an einem Tag zu bewerkstelligen.“

Ich gebe es zu, ja, ich versuche hiermit, Sie zu beschämen. Wenn ich Sie anschuldige „das Volk zu verraten“, dann würden Sie nur lächeln, sicher, marxistische Dialektik, hi hi hi, archaisch, oh oh oh, das wäre Ihnen egal: welches Volk? Ein Volk, das es in Ihrer Familie nicht gibt. Ein Volk, vor dem Ihre Schulbildung, Ihre Ausbildung, alle Institutionen Sie geschützt haben. Ein Volk, dem Sie heute den Schlagstock schicken, damit es Ihnen den Weg frei macht, damit es Sie nicht ausbuht, wenn Ihre motorisierte Kutsche vorbeifährt. Das Volk, was ist das schon? Wo soll das sein?

Also versuche ich es auf andere Weise: Ihr inexistentes Werk, das Nichts, leeres Geschwätz, der verratene Jugendliche in Ihnen, Ihre Schuld gegenüber Ihrer Oma. Aber noch schlimmer:

Als Sie endlich ein Buch veröffentlichen, ein Buch, dieses heilige Objekt, heilig für mich, heilig für Sie, heilig schon seit Ihrer Kindheit, was machen Sie daraus? Einen Gebrauchsgegenstand wie einen Nachttopf, eine Pfanne: Um Kandidat zu sein, braucht man so etwas, Anstecker, Poster, eine Website, ein Instagram-Account und ein Essay. Erledigt. Das Häkchen ist gesetzt.

Und wen interessiert es, dass die Seiten voller Klischees sind: „Ich bin fest davon überzeugt, dass das 21. Jahrhundert, in das wir nun endlich eintreten, genauso voller Versprechen, Veränderungen ist, die uns noch glücklicher machen“, ein Wettbewerb der Plattitüden: „Wenn wir Fortschritte machen, unserem Land zum Erfolg verhelfen und einen Wohlstand des 21. Jahrhunderts in direkter Fortführung unserer Geschichte wollen, dann müssen wir handeln“, eine Parade aus Gefasel: „Die Lösung liegt in uns. Sie hängt nicht von einer Liste mit Vorschlägen ab, die nicht umgesetzt werden. Sie entsteht nicht aus der Konstruktion schwacher Kompromisse heraus. Sie entsteht dank verschiedener Lösungen, die eine tiefgreifende demokratische Revolution erfordern.“ Und mit was für einem unbeholfenen Stil!

Bitte sagen Sie mir, dass ein Programm, ein Algorithmus diese hohlen Sätze produziert hat? Nicht ein Mensch? Nicht Sie? Nicht der Leser von Colette? Wo doch ausgerechnet sie riet: „Man muss mit den Worten aller schreiben wie niemand sonst“. Was soll‘s, solange es Ihnen während der Zeit der Kampagne den Glanz des „Er hat ein Buch geschrieben“ verschafft.

Sie haben sich also selbst verraten. Sie haben Ihre Großmutter Manette verraten. Gide, Éluard und René Char. Sie haben Ihren Jugendtraum „Schriftsteller zu werden“ vergessen, verleugnet, beschmutzt. Was sagen Sie im Spiegel der Zeit zum sechzehnjährigen Emmanuel? War er ein Narr? Oder sind Sie ein Schuft?


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Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text ist die Übersetzung eines Exklusivabdrucks aus dem französischen Buch „Ce pays que tu ne connais pas — Bienvenu en France Monsieur Macron“ von François Ruffin. Er wurde von Elisa Gratias übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


Quellen und Anmerkungen:

(1) L’Inattendu, France 2, 6. April 2017.
(2) Robin Hood 2.0


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