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Der wahre Grund

Der wahre Grund

Die religiöse Debatte um Abtreibungen lenkt davon ab, dass Frauen in den USA als Reproduktionssklavinnen missbraucht werden sollen.

Im Mai dieses Jahres wurde bekannt gegeben, dass die Geburtenrate in den USA das vierte Jahr in Folge gesunken ist und den tiefsten Stand seit 32 Jahren erreicht hat. Am gleichen Tag unterzeichnete die Gouverneurin Alabamas, Kay Ivey, das drakonischste Anti-Abtreibungsgesetz des Landes. Dass diese beiden Ereignisse zeitgleich erfolgten, ist überaus aufschlussreich.

Den herrschenden Eliten ist sehr wohl klar, dass die stetig sinkende Geburtenrate auf einen „Geburtsstreik“ von Frauen zurückzuführen ist, für die Kinder eine finanziell unzumutbare Belastung darstellen, da sie sich weder eine angemessene Krankenversicherung noch die exorbitanten Arztrechnungen leisten können und keinen Zugang zu bezahlter Elternzeit, Kinderbetreuung und Arbeitsplatzsicherung erhalten.

Schon seit 1971 hat die Geburtenrate in den USA nicht mehr das Niveau erreicht, das für den Fortbestand der Bevölkerung vonnöten wäre, nämlich 2.100 Geburten pro 1.000 Frauen. Die aktuelle Geburtenrate liegt bei 1.728 pro 1.000 Frauen, ein Rückgang von 2 Prozent gegenüber 2017. Ohne die stetige Zufuhr von Einwanderern würde die US-Bevölkerung stark zurückgehen.

„Bei den Bestrebungen, Geburtenkontrolle und Abtreibungen zu verhindern, geht es weder um Religion noch um Politiker, die sich auf die rechte Seite schlagen. Genauso wenig sind sie das Ergebnis von Prüderie oder sollen der Bestrafung von Frauen für Sex dienen“, schreibt Jenny Brown in ihrem Buch Birth Strike: Hidden Fight Over Women’s Work. „Es geht um die Arbeit des Kindergebärens und der Kindererziehung — es geht darum, wer es tut und wer dafür bezahlt.“

Die Erziehung von Kindern ist keine Lifestyle-Entscheidung. Es ist eine zeitintensive Arbeit, die von Eltern — insbesondere Frauen — einen großen körperlichen, emotionalen, finanziellen und zeitlichen Einsatz erfordert. Die breitere Gesellschaft erntet dann die Früchte dieser Arbeit.

Somit hat sie die soziale und moralische Pflicht, diejenigen zu entlohnen und zu unterstützen, die die Kinder großziehen.

Der Rückgang der Geburtenrate ist ein Indikator für die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die das Leben von Millionen junger US-Amerikaner bestimmen: Sie haben finanzielle Schwierigkeiten und wenig Hoffnung für die Zukunft. Nur durch die Bekämpfung dieser finanziellen Unsicherheit und Verzweiflung sowie die Wiedereingliederung der zur Seite gedrängten Menschen in die Gesellschaft kann die Todesspirale der Nation aufgehoben werden.

In Schweden haben Eltern nach der Geburt oder der Adoption eines Kindes Anspruch auf 480 Tage bezahlten Urlaub. Der staatlich geförderte Zuschuss beträgt 80 Prozent des Arbeitsentgelts des Elternteils für die ersten 390 Tage und eine verringerte Pauschale für die übrigen 90 Tage. Mutter und Vater können die Elternzeit untereinander aufteilen. Schwedische Arbeitgeber zahlen eine Steuer auf Löhne und Gehälter, um die Elternzeit zu finanzieren. Arbeitslosen wird ein Erziehungszuschuss gewährt. In Schweden, das Land mit einer der höchsten Geburtenraten in Europa, macht der Anteil des von Männern genommenen Erziehungsurlaubs fast ein Viertel aus.

Der amerikanische Unternehmerstaat hat jedoch nicht die Absicht, Programme zu finanzieren und Institutionen aufzubauen, um die Last der Erziehung und Pflege von Kindern zu verringern. Ja, der Unternehmerstaat braucht junge Körper als Futter für das aufgeblähte Militär und die unzähligen Kriege im Ausland.

Er braucht Arbeiter — sogar einen Überschuss an Arbeitern —, die in den niederen, schlecht bezahlten Bereichen schuften. Und er braucht Konsumenten, die seine Produkte kaufen. Doch laut Jenny Brown versucht der Unternehmerstaat diese Ziele „mit einem Minimum an Ausgaben für Arbeiter und einem Maximum an unbezahlter reproduktiver Frauenarbeit“ zu erreichen.

Wenn Frauen sich weigern, Kinder auf dem von Wirtschaftsplanern gewünschtem Niveau zu produzieren, so Brown, dann werden Abtreibung und Verhütung zukünftig verboten oder der Zugang dazu erschwert. Ebenso könnte das staatliche Rentensystem — bekannt als Social Security — abgeschafft werden, sodass für Elternteile der einzige finanzielle Schutz gegen Altersarmut Kinder sein werden, die bereit sind, für die Versorgung und Unterbringung der Mutter oder des Vaters aufzukommen. Acht Staaten haben den Zugang zu Abtreibung bereits drastisch eingeschränkt, die Gesetzgeber in einer Reihe anderer Staaten prüfen entsprechende gesetzliche Grundlagen. In Kentucky, Mississippi, Missouri, North Dakota, South Dakota und West Virginia gibt es jeweils nur eine Abtreibungsklinik.

Die sinkende Geburtenrate ist der wahre Grund, warum man Frauen zwingt, Reproduktions-sklavinnen zu werden.

Solange die Löhne künstlich niedrig gehalten werden (fast vier von zehn Amerikanern mittleren Alters haben keine Ersparnisse für Notfälle und ein Drittel hat weniger als 25.000 Dollar für den Ruhestand zurückgelegt) und Renten verweigert werden, sind Kinder — wie in Entwicklungsländern — die einzige Möglichkeit der Rentenversicherung. Die politischen Entscheidungsträger gehen davon aus, dass sich Frauen durch diese Übergriffe, verbunden mit der Privatisierung und Zerstörung des staatlichen Rentensystems, gezwungen sehen, die Geburtenrate zu erhöhen.

Es ist gut möglich, dass Brett Kavanaughs Ernennung zum Richter am Obersten Gerichtshof die Aufhebung der richterlichen Grundsatzentscheidung im Fall Roe v. Wade aus dem Jahr 1973 zur Folge hat, durch die Abtreibung legalisiert wurde. Tatsächlich wurde das Anti-Abtreibungsgesetz in Alabama, das auch bei Opfern von Vergewaltigung oder Inzest keine Ausnahme macht, so konzipiert, dass es rechtlich angefochten und vor den Obersten Gerichtshof gebracht werden soll.

Die Eliten werden von der Ächtung der Abtreibung nicht betroffen sein. Das habe ich im kommunistischen Rumänien erlebt, wo Abtreibung und Verhütung von 1966 bis 1990 im Allgemeinen illegal waren. Ziel dieser nicht erfolgreichen Maßnahme war es, die Bevölkerung des Landes bis zum Jahr 2000 von 23 Millionen auf 30 Millionen Menschen zu erhöhen.

Genau wie in Rumänien werden Ehefrauen, Freundinnen, Geliebte, Schwestern und Töchter der Eliten in den USA einfachen Zugang zu einer sicheren Abtreibung haben, während andere Frauen die von Quacksalbern in schmutzigen Hinterzimmern und zu horrenden Preisen durchgeführten Eingriffe nicht überleben werden. Weltweit sterben jedes Jahr fast 23.000 Frauen an Abtreibungen unter unsicheren Bedingungen, vor allem in Ländern, in denen Abtreibung illegal oder nicht zugänglich ist.

Während der Zeit der Diktatur unter Nicolae Ceausescu (1965 bis 1989), der die drastischen Schritte zur Erhöhung der Geburtenrate in Rumänien eingeleitet hatte, fielen Schätzungen zufolge etwa 10.000 Frauen einem Tod durch Abtreibungen unter unsicheren Bedingungen zum Opfer.

Für die Recherche zu meinem Buch American Fascists: The Christian Right and the War on America verbrachte ich zwei Jahre bei den politisch rechtsorientierten Christen in den USA, oft bei Mitgliedern der sogenannten Pro-Life-Bewegung. Diese christlichen Faschisten, deren häretische Version des Christentums die primäre Ideologie ist, mit der sie das Verbot der Abtreibung rechtfertigen, nehmen in Wirklichkeit wenig Rücksicht auf die Heiligkeit des Lebens. Mit großem Enthusiasmus segnen sie das Militär und den Abwurf von Splitterbomben auf muslimische Familien und Dörfer im Nahen Osten, unterstützen leidenschaftlich die Todesstrafe und erteilen militarisierten Polizisten die Absolution, wenn sie unbewaffnete Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe erschießen, deren einziges Verbrechen es ist, in unseren urbanen internen Kolonien gefangen zu sein.

Sie schwelgen in bizarren apokalyptischen Fantasien der Verstümmelung und des Leidens von Ungläubigen, einschließlich Juden, die nicht zum Christentum konvertieren oder solcher Menschen, die sie als „nominale Christen“ abtun. Nach dieser Ideologie verdienen Kinder aus armen Verhältnissen, sobald sie geboren sind, keine Hilfe. Rund 12 Millionen von diesen Kindern gehen in diesem Land jeden Abend hungrig ins Bett.

Der Kreuzzug für ungeborene Kinder entfacht bei den christlichen Fanatikern und den Anti-Abtreibungseiferern aufrichtige Empörung, die bis zur Gewalt führen kann. Er fördert also einen selbstverherrlichenden und abstoßenden moralischen Absolutismus. Aber sein oberstes Ziel ist es, Frauen die Kontrolle über ihren Körper zu entziehen, um den Geburtenrückgang — insbesondere bei der weißen Bevölkerung — umzukehren und wieder ein tyrannisches Patriarchat zu errichten.

Die herrschenden Eliten verwenden Codewörter wie „Abhängigkeitsquotient“ und „Leistungsanspruchskrise“, um ihre Angst vor sinkenden Fruchtbarkeitsraten auszudrücken. Zur Indoktrinierung der Öffentlichkeit verbreiten sie mithilfe der Massenkultur — einschließlich derjenigen, die die „right-to-life“-Bewegung antreibt — Propaganda. Diese vorgeblich moralischen Kreuzzüge — immer auch Bestandteil der Massenpropaganda zur Rechtfertigung von Krieg — sind der Deckmantel für die Aufrechterhaltung und Festigung der Interessen der Eliten.

Die Architektur des Unternehmerstaates ist auf die Entmachtung von Frauen ausgerichtet. Die meisten Löhne reichen nicht aus, damit ein Arbeitnehmer seine Familie ernähren kann. Das heißt, dass Vater und Mutter einer Erwerbstätigkeit nachkommen müssen.

Wenn ein Elternteil sich eine Auszeit nimmt, um ein Kind aufzuziehen, sinkt das Einkommen der Familie — in der Regel um die Hälfte. Meist kommt es zudem zu einem Rückgang an Sozialleistungen, sodass der Elternteil, der das Kind großzieht, von seinem Ehepartner abhängig wird.

Diese ökonomische Abhängigkeit macht es für eine Frau schwieriger, eine gewalttätige oder gescheiterte Beziehung zu beenden, und erhält somit die Machtlosigkeit von Frauen aufrecht, welche das Herzstück des Systems bildet. Indem Paare, die in ärmlichen Verhältnissen leben, gezwungen sind, zusammen zu bleiben, wird der Staat von der Bereitstellungspflicht selbst geringfügiger Leistungen befreit. Wenn jeder Elternteil zum Beispiel 15.000 Dollar im Jahr verdient, wird die Familie oft aus sozialen Programmen wie der staatlichen Sozialhilfe ausgeschlossen.

„Innerhalb des Sozialsystems gibt es verschiedene Programme, durch die Eltern dazu gedrängt werden, zu heiraten“, sagte Brown, als ich sie im April für meine Fernsehsendung On Contact interviewte.

„Sie haben wohlklingende Namen wie beispielsweise ‚Healthy Families‘. In Wirklichkeit wird mit diesen Programmen jedoch versucht, den Menschen die Sozialhilfe zu entziehen, indem die Löhne der Elternteile zusammengefasst werden. Aber dadurch wird das Problem des Paares nicht gelöst, denn es hat trotzdem noch keinen Zugang zu Kinderbetreuung oder angemessenen Löhnen. Und die Partner werden immer noch nicht die Möglichkeit haben, sich frei zu nehmen, wenn sie krank sind. All diese Dinge, die in den meisten europäischen Län-dern gesetzlich geregelt sind, gibt es hier nicht.“

Die Rentenversicherung ist kein Altersvorsorgekonto. Es ist ein Umlagesystem zur Unterstützung von Arbeitnehmern im Ruhestand. Sollten die Löhne weiterhin niedrig bleiben und die Zahl der Arbeitnehmer sinken, dann gehen auch die Beiträge an die Rentenversicherung zurück und das Programm wird in eine Krise geraten.

„Mit dem Gehaltsscheck, den ich diese Woche bekomme, wird nächste Woche die Rentenversicherung meiner Mutter bezahlt“, erklärte Brown.

„Wenn sich die Altersstruktur der Gesellschaft ändert, dann ändert sich auch, wie viele Leute in das System einzahlen. Das Problem ist die Lohnstruktur. Darum geht es bei der Rentenversicherung. Das große Thema im Hinblick auf den demographischen Wandel ist die Sorge der Arbeitgeber, dass sie mehr in die Rentenkassen einzahlen müssen, sollte das System wie bisher weiterbestehen. Das wollen sie natürlich nicht.“

Während weiße US-Amerikanerinnen zur Reproduktion angehalten werden, bestraft man die afroamerikanische Bevölkerung dafür, Kinder zu bekommen. Verglichen mit der weißen nicht-hispanischen Bevölkerung ist die Säuglingssterblichkeitsrate bei Afroamerikanern 2,5 Mal höher. Es sterben zweimal mehr afroamerikanische Säuglinge an plötzlichem Kindstod.

Die Wahrscheinlichkeit, an Asthma zu erkranken, ist bei afroamerikanischen Kindern doppelt so hoch wie bei weißen nicht-hispanischen Kindern; Übergewicht ist bei afroamerikanischen Kindern 56 Prozent und Selbstmordversuche während der Schulzeit 61 Prozent wahrscheinlicher. Die Kinder der afro-amerikanischen Bevölkerung werden ihren Familien oft weggenommen und in Pflegefamilien untergebracht. Dieses System sieht zwar die Zahlung von Geldern an die Pflegeeltern vor, nicht jedoch an die biologischen Eltern, die oftmals unterhalb der Armutsgrenze leben.

Diese in Armut lebenden Amerikaner werden in der Massenkultur als schlechte Eltern dämonisiert, die nicht so viele Kindern haben sollten.

Rund 70 Prozent der von sogenannten deadbeat dads (ein abschätziger Begriff für Väter, die keinen Unterhalt für ihre Kinder zahlen, Anmerkung der Übersetzerin) geschuldeten Unterhaltskosten müsste von Vätern gezahlt werden, die weniger als 10.000 Dollar im Jahr verdienen. Diese Männer sind dazu verpflichtet, durchschnittlich 83 Prozent ihres Einkommens für den Unterhalt der Kinder zu zahlen. Können sie die Zahlungen nicht leisten, wird ihnen der Führerschein abgenommen oder sie kommen ins Gefängnis.

Walter Scott, ein afroamerikanischer Vater war — zunächst irrtümlicherweise — dreimal wegen Nichtzahlung von Unterhaltsgeld verhaftet und ins Gefängnis gesteckt worden. Aufgrund der Gefängnisstrafen verlor er seine jeweiligen Jobs. Als er 2015 aufgrund einer defekten Bremsleuchte von einem Polizisten angehalten wurde, floh Walter Scott zu Fuß — aus Angst, dass er im Falle einer weiteren Verhaftung wegen Nichtzahlung des Unterhalts wieder seinen Job verlieren würde. Bei der Flucht schoss der Polizeibeamte ihm mehrmals tödlich von hinten in den Rücken.

Ignorieren Sie die religiöse Rhetorik und das moralische Auftreten in der Abtreibungsdebatte. Das Argument der Heiligkeit des Lebens ist nur ein Vorwand. In Wirklichkeit stehen hinter der Debatte Unternehmer, die — geleitet von kapitalistischen Zielen — dringend mehr Körper brauchen und Frauen dazu zwingen wollen, diese zu produzieren.


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Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „America’s Re-productive Slaves“. Er wurde von Nadine Müller aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


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