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Der Weg zur Mitmenschlichkeit

Der Weg zur Mitmenschlichkeit

Die Verbindung der Arbeit des französischen Philosophen René Girard mit der Typenlehre des Enneagramms weist Wege aus dem aktuellen Dschungel heraus.

Ich arbeite seit über 30 Jahren mit dem Enneagramm der Charakterfixierungen, welches neun verschiedene Persönlichkeitstypen kennt und in ihren Tiefenstrukturen beschreibt: Drei kopforientierte, drei emotional orientierte und drei körperorientierte Typen. (2) Die Wurzeln des Enneagramms gehen auf die Wüstenmönche im 4. Jahrhundert zurück und gelangten über den Sufismus 1970 in die westliche Psychologie. Seine Stärke liegt darin, dass es sowohl psychologische als auch spirituelle Dimensionen umfasst.

Das Enneagramm zeigt nicht nur auf, welche unbewussten Antriebe unser Erleben und Verhalten prägen, sondern auch, welches Potenzial in uns steckt, wenn uns diese Muster bewusst werden. Dabei kommen auch Tiefenschichten zum Vorschein, die unterschiedliche Gewaltpotenziale in sich enthalten, zum Beispiel die sogenannten Abwehrmechanismen. (3) Seit Sigmund Freud immer umfassender entdeckt, sorgen sie dafür, dass wir schmerzliche Erlebnisse aus unserem Fühlen verbannen oder Erinnerungen daran verdrängen.

Die frühkindlich installierten Abwehrmechanismen bilden wichtige Fundamente unserer Persönlichkeit. Jedes der neun Persönlichkeitsmuster benutzt spezifisch andere, je nach Stresspegel mehrere davon. Diese schützen uns zwar vor diesen schlimmen Gefühlen, stumpfen jedoch gleichzeitig – und dies nachhaltig – unser ganzheitliches Fühlen ab, und damit auch unser Mitgefühl.

Sie beschränken das Mitgefühl selektiv, auf je verschiedene Weise und mit unterschiedlichen Folgen. Nicht umsonst sprach Wilhelm Reich von der Persönlichkeit als Charakterpanzer. Für Eva Pierrakos (1915 bis 1979), Gründerin der Internationalen Pathwork Foundation (4) führt diese Desensibilisierung zu einer „passiven Grausamkeit“: Wir werden partiell gefühllose Zombies. Es ist nur logisch, dass daraus alsdann auch viele Formen aktiver Grausamkeit sprießen. (5)

Die Grausamkeit beginnt auf leisen Sohlen. Die indische Weisheitslehrerin Vimala Thakar formuliert dies so: „Aus diesem Grund werden Menschen, sobald sie sich begegnen, unsicher und gehen in die Defensive; der Abwehrmechanismus kommt ins Spiel, noch bevor sie miteinander zu sprechen beginnen. Sich gegenseitig anzuschauen, reicht aus, um die Abwehrmechanismen anzufachen.“ (6) Die von der Tiefenpsychologie entdeckten Abwehrmechanismen stehen jedoch ihrerseits in einem größeren und überpersönlichen Zusammenhang.

Die konditionierte Persönlichkeit

Die Psychologie beschreibt allgemein, das Enneagramm der Persönlichkeit konkret, wie sich jedes Kind je nach Persönlichkeitsstruktur mit Spezifischem identifiziert, mit dem es seine Ich-Persönlichkeit aufbaut. Es übernimmt dabei sowohl Positives als auch zugleich tief Problematisches: Es lernt durch Nachahmung dessen, was es vorfindet.

Wichtige Prägungen sind einerseits die erwähnten persönlich traumatisch erlebten Erfahrungen und ihr Umgang damit – heute dank der Fortschritte in der Traumaforschung breiter ein Thema.

Bedeutsamer für die Gesellschaft im Ganzen sind dabei transgenerative Traumata, die – größtenteils unbewusst – über Generationen an die nachfolgenden weitergegeben werden: Kinder lernen durch Identifikation und Nachahmung, Mimesis.

Jedenfalls ist unsere Persönlichkeit in wesentlichen Teilen dadurch konditioniert. (7) Vimala Thakar, welche die konkreten Beschreibungen des Enneagramms nicht kennt, jedoch das Grundsätzliche dieser Prägungen, bringt es auf den Punkt: „All unsere Reaktionen sind an diese Muster und damit an die Vergangenheit gekettet.“ (8)

Diese individualpsychologischen Wurzeln kollektiver Gewalt verbinde ich nun mit zentralen Erkenntnissen des französische Kulturanthropologen René Girard (1923 bis 2009, am 25. Dezember 2023 ist sein 100. Geburtstag fällig). (9) Girard gilt als wichtiger Erforscher mimetischen Verhaltens, seine Einsichten sind Meilensteine der Humanwissenschaften, die verschiedenen Einzeldisziplinen übergreifend.

Insbesondere entdeckte er, dass die Objekte unserer Bedürfnisse und Begierden sehr oft nicht wirklich unsere eigenen sind: Erst weil jemand anderer etwas hat oder begehrt, wird es auch für uns interessant … und dann ebenfalls begehrenswert. Da dieser Andere jedoch genau gleich funktioniert – sich seinerseits an andern orientierend – ist leicht ersichtlich, dass viele unserer Bedürfnisse und wie wir diese bedienen, auf einer real gar nicht vorhandenen Basis stehen!

Alle folgen in dieser Aneignungsmimesis – so der zentrale Begriff bei Girard – blind einer Herde, die keine wirklichen Anführer hat außer Trendsettern, die diese Nachahmungseffekte früh erkennen und alsdann kräftig befördern, zum Beispiel heute in der Werbung, die sich das mimetische Verhalten des Menschen zunutze macht und uns verkauft, was alle scheinbar glücklich macht und alle deshalb haben wollen – und dann wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung alle tatsächlich auch haben, das neue iPhone zum Beispiel.

Mimetische Wurzeln der Gewalt – der Sündenbockmechanismus als Scheinausweg

Mimetisches Verhalten ist auf diese Weise Ursache vieler Rivalitäten, die im Kollektiv oft in Gewaltexzesse zu münden drohen. Ein zentrales Ventil, solche Eskalationen zu begrenzen, erkennt Girard im Sündenbockmechanismus: Lieber „alle gegen einen“ anstatt „alle gegen alle“, ist im Kern sein geheimes, weil unbewusstes Motto. Aufkommende Gewalt, zum Beispiel des „Wutbürgers“, kann so geschickt in Grenzen gehalten und nach außen kanalisiert und auf Sündenböcke projiziert werden. Mal sind es die Juden, seit 9/11 die Muslime, George W. Bushs „Achse des Bösen“, jüngst Wladimir Putin, ohne dass man hier beispielsweise der eigenen westlichen Mitursache am Krieg in der Ukraine in die Augen schauen muss.

Sündenbockmechanismen kennen wir im Kleinen, in Familie, Nachbarschaft, Umgang mit Andersdenkenden, und im Großen, innerhalb einer Gesellschaft, eines Landes und international. Girard entdeckte, dass Mimesis und Sündenbockmechanismen zwar elementar-archaische, jedoch trügerische und zugleich tief destruktive Grundlagen von Gruppen und ganzer Gesellschaften sind, seit alters her und bis heute.

Ihre Wurzel hat diese brüchige Basis darin, dass wir unsere eigenen Schattenseiten in andere hineinprojizieren, sowie in unserer Bereitschaft, bequem mit dem Wölfen zu heulen, anstatt selber zu denken und eigenständig zu handeln. Vimala Thakar: „In Wahrheit ist das innere oder psychische Leben keine private oder persönliche Sache, es ist vielmehr eine tief soziale Angelegenheit.“ (10) Zu ergänzen wäre: Wir sind – trotz Aufklärung – weithin nur scheinautonome Wesen, auf weite Strecken jedoch immer noch und weithin heteronom gesteuerte Herdentiere.

Der erste Schlüssel: Innenleitung statt Außenleitung!

René Girards umfangreiche Studien im Feld der menschlichen Psyche und des Kollektivs zeigen, dass der Mensch, solange er im mimetischen Verhalten gefangen bleibt, meint, dass er das Böse und ihre Gewalt mit Gewalt bekämpfen, und so erfolgreich überwinden kann. Er erliegt dem „Mythos der erlösenden Gewalt“, so Walter Wink (11). Indem er Gewalt mit Gegengewalt bekämpft, vermehrt er sie gerade dadurch, anstatt sie zu besiegen und erzeugt eine endlose Kette von Opfern, aus denen immer neue Täter entstehen.

Wir alle können dazu einen Lösungsbeitrag leisten, indem wir unsere eigene Opfer-Täter-Geschichte anschauen – und diese aufräumen: Dies ist Versöhnungsarbeit im Kleinen, jedoch auch Friedensarbeit, die ins Große ausstrahlt.

Zentral geht es bei dieser Arbeit darum, die Muster konditionierten Erlebens und Verhaltens bei sich selber zu erkennen, um sich von ihnen zu lösen. Soweit wir uns mit ihnen identifiziert haben, können wir uns von ihnen – fast ebenso weitgehend – auch wieder des-identifizieren.

Die Arbeit mit dem Enneagramm ist dafür ein wirksames Tool: In seinem Spiegel erkennen wir bei uns Fixierungen, die unsere Lebendigkeit mit Automatismen ersetzt haben. Anstatt auf das Leben frei – und innengelenkt – zu antworten, reagieren wir auf viele Dinge im mechanischen Schema von Reiz-und-Reaktion. Das Enneagramm zeigt, wie dies bei den neun Typen der Persönlichkeit konkret aussieht.

Einsichten in die eigenen Muster zu gewinnen – und freier von diesen Konditionierungen zu werden – eröffnet uns neue Möglichkeiten, freiere und mündigere Individuen zu werden, die nicht länger mit der Herde blöken. Außenleitung, das heißt, alles Gute von Außen zu erwarten, wird dabei immer mehr durch Innenleitung ersetzt, durch wahre Autonomie, Frieden und Erfüllung in sich selber zu finden. Wir werden unabhängiger von äußeren Situationen. Diese Hälfte – die mit Einsicht, Wahrheit und wahrhaftiger Selbsterkenntnis zu tun hat – bedarf jedoch einer ebenso wichtigen zweiten Hälfte.

Der zweite Schlüssel: (Wieder) fühlende Wesen werden!

Die „Passive Grausamkeit“, so Eva Pierrakos, hat – je nach Persönlichkeitstyp – viele Gesichter. Die durch unsere Abwehrmechanismen bewirkte partielle Abstumpfung behindert nicht nur unser Mitgefühl mit anderen Menschen und der ganzen Schöpfung, sondern auch das Mitgefühl mit sich selber: echte Selbstliebe.

Jeder Enneatyp kennt aus seiner Kindheit spezifische sogenannte Grundgefühle, die sein Erleben und Verhalten tief unbewusst, da verdrängt, prägen. Sigmund Freud sprach vom Wiederholungszwang: Wir wiederholen spezifische Probleme und Konflikte unserer Kindheit als Erwachsene mit unseren Lebenspartnern, mit Menschen an unserem Arbeitsplatz oder anderswo – und dies so lange, bis wir erkennen, dass daran nicht primär die Umwelt schuld ist, wir selber jedoch sehr wohl Mitursache vieler Konflikte sind, unter denen wir leiden.

Was können wir tun? Ganz einfach: wieder vollständig fühlen lernen! In unseren westlichen Gesellschaften sind wir inzwischen immer mehr zu kopflastigen emotionalen Analphabeten geworden:

Viele gehen als emotionale Dreckschleudern durch die Welt, greifen sofort in unterste Schubladen, wenn’s grad passt beim Mitmachen in irgendwelchen Shitstorms, sind aber gleichzeitig gefühllose Zombies, die nicht fühlen und wissen, was sie tun – weil sie gegenüber echter Not ziemlich gleichgültig bleiben.

Verschiedene psycho-spirituelle Schulen sagen inzwischen unisono Dasselbe: Lerne wieder zu fühlen! Nicht nur ‚positive’ Gefühle, an denen wir festhalten wollen, sondern auch ‚schwierige’, in die wir katapultiert werden, wenn Situationen früh verletzte Gefühle in uns antriggern, wie der Fachjargon sagt, und uns in ‚negative’ Gefühle katapultieren, die wir schnellstmöglich wieder loswerden wollen. Die Botschaft lautet: Fühle alle Gefühle, wie sie sind, voll und ganz – ohne etwas dabei zu tun, eben: schwierige Gefühle schnell und irgendwie beseitigen zu wollen.

Als sehr wirkungsvoll hat sich hierzu die „Körperzentrierte Herzensarbeit“ von Safi Nidiaye erwiesen. (12) Mit dieser Arbeit, z.B. dem in ihrem Buch Das Tao des Herzens (13) zentralen Tool (14), kann jede Persönlichkeit ihren transgenerativen traumatisierten emotionalen Untergrund sehr effektiv befrieden, stetig tiefer und damit schließlich nachhaltig auch heilen. Die Abwehrmechanismen, die uns früh davon, und vor einem vollen Fühlen reflexartig ‚schützen’, können sich allmählich lockern. Einen direkten Effekt dieser Arbeit hat Anselm Grün so auf den Punkt gebracht: „Was du fühlst, musst du nicht projizieren!“ Was zugleich bedeutet, dass wir damit auch weniger anfällig für Sündenbockprojektionen aller Arten und Unarten werden!

Wir werden dadurch wieder zu voller und feiner fühlenden – und mitfühlenden – Wesen, ganz anders bereit und fähig zu Selbstliebe und Nächstenliebe. Dies jenseits von narzisstischer Selbstgefälligkeit und ohnmächtigem Mitleid. Mit Mitgefühl bleiben wir handlungsfähig, während uns Mitleid ins Elend hineinzieht nach dem Motto: „Gemeinsam sind wir schwächer“!. Wir werden wieder ganze Menschen, im Sinn des tiefen Plädoyers und Buchtitels von Vimala Thakar, sodass die zwei Seiten „Spirituell Leben“ und „Sozial Handeln“ mitten in uns zu einer neuen unzertrennlichen Ganzheit und Einheit zusammenfinden.

Unsere fehlende Antwort auf das Böse

Wir bleiben mit dem Bösen mehr oder weniger subtil aktiv verhängt, wenn wir den soeben beschriebenen „Radikalen Weg nach innen“, so nennt ihn der Psychoanalytiker Franz Renggli, (15) nicht gehen und kennen. Viele finden, sie hätten diese Arbeit an und mit sich selbst nicht nötig, da sie sich weder als gewalttätig noch das Böse stützend erleben – schließlich leben wir mit dieser un-normalen ‚Normalität’ seit unseren Kindertagen. Wir kennen nichts Anderes, und finden deshalb unser Erleben und Verhalten ‚normal’! Deshalb sei nochmals tiefer auf zwei Wurzeln der Gewalt näher eingegangen. Wir sind grundsätzlich in zweifacher Weise am Bösen beteiligt, aktiv und passiv:

Aktive Grausamkeit – mit uns ist je nachdem nicht zu spaßen:

Seit Hannah Arendts wegweisendem Buch „Eichmann in Jerusalem. Die Banalität des Bösen“ aus dem Jahr 1963 wissen wir, dass nicht nur gewalttriefende Verbrechermonster Böses in die Welt bringen, sondern oft ganz durchschnittliche Menschen – je nach Umständen oder dem Umfeld, in das sie geraten oder zu dem sie hinstreben. Adolf Eichmann war ein solcher: liebender Familienvater daheim, während er über Jahre in seinem Büro das Aufstöbern, den Transport und die industrielle Vernichtung von 6 Millionen Juden im Nationalsozialismus organisierte und optimierte. Weil man angesichts des teuren Krieges sparen musste, ließ er die effiziente Vergasung in ganzen Gruppen erfinden.

Der inzwischen europaweit bekannte forensische Schweizer Psychiater Frank Urbaniok zeigt in seinen Studien, welches verbrecherische Potenzial in den verschiedenen Persönlichkeitstypen steckt, das heißt in uns allen, wenn wir in entsprechende Situationen geraten. (16) Während dies im Großen wenige von uns betrifft, vor allem Menschen in führenden Positionen, an den Schalthebeln der Macht, ist aktive Grausamkeit im Kleinen weit verbreitet: als Rache, Neid, Übervorteilen anderer et cetera. Als fühlende Wesen, die sich des eigenen Innenlebens bewusst sind, können wir auf destruktive Ego-Spiele dieser Art, die viel Leid in diese Welt bringen, (besser) verzichten.

Passive Grausamkeit – als schweigende Mehrheit das Böse befördern:

Statistisch betrachtet ist vermutlich die sogenannte schweigende Mehrheit der größere Faktor, der bewirkt, dass Böses in dieser Welt in mannigfacher Weise grassiert.

Die partielle Gleichgültigkeit durch Abstumpfung macht aus der sogenannten schweigenden Mehrheit eine der wichtigsten Quellen des Bösen.

Unser unberührtes – scheinbar unbeteiligtes – Mitschwimmen begünstigt so lange viel Elend vor unseren Türen und viele Missstände, bis diese zu Kalibern herangewachsen sind, die uns alle schließlich ohnmächtig erwachen lassen, weil sie uns in dieser Größe überfordern: „Da kann man nichts tun!“, stellen wir in vielen Bereichen resigniert fest – zunächst lange Zeit nur aus Bequemlichkeit. Girards mimetische Theorie erweiternd, muss man angesichts dieses Phänomens neben der oben beschriebenen Aneignungsmimesis hier von einer ebenso verhängnisvollen Mitläufermimesis sprechen.

Weil alle wegschauen – oder mitmachen – schwimme auch ich mit, derweil das Böse wächst, und ihm alle zuschauen, bis es zu spät ist, ihm Einhalt gebieten zu können. Böses fällt ja meist nicht einfach als solches vom Himmel, sondern entwickelt sich auf schleichenden Sohlen, zum Beispiel die autokratischen Regimes, nun auch wieder in Europa. Oder es begegnet uns nicht offensichtlich, sondern nur indirekt, zum Beispiel dass in unseren Handys gefährliche Arbeit von Kindern steckt, die für uns in menschenunwürdigen Zuständen nach seltenen Edelmetallen graben müssen.

Wehret den Anfängen ist hier angesagt – auch als Konsument. Aber dafür braucht es innengeleitete und fühlende Menschen! Nicht mitmachen, auch wenn ich dabei ganz alleine bin und dabei auf Annehmlichkeiten verzichte. Wer nimmt dies auf sich heute? Wir sind alle teilweise tief kompromittierte Kompromissler. Ganz ohne Kompromisse geht es selten, aber viel mehr Konsequenz wäre möglich und aufgrund der Zustände in unserer Welt tatsächlich notwendig. Viele sogenannte Sachzwänge, zum Beispiel dass man heute bald tatsächlich nicht mehr ohne Handy leben kann, entstehen nur dadurch, weil wir zu lange alle mitmachen.

Den Weg des Herzens gehen im Dschungel unserer Zeit

Ganz alleine gegen den Strom schwimmen braucht Mut – bringt jedoch eine ganz andere Zufriedenheit als die Bequemlichkeit in unserer noch Wohlstandsgesellschaft auf Kosten anderer. Wir dürfen dabei nicht auf schnelle Erfolge hoffen. Konstantin Wecker hat es 2011 mit seinem unvergessenen Buchtitel treffend auf den Punkt gebracht: „Es geht ums Tun und nicht ums Siegen.“ Engagement zwischen Wut und Zärtlichkeit. Jeder Tropfen auf den heißen Stein ist wichtig. Es geht nicht ohne sie.

Resignation ist nichts anderes als eine Manifestation der von Eva Pierrakos diagnostizierten „passiven Grausamkeit“. Fühlend-lebendige und innengeleitete Wesen gehen den Weg des Herzens.

Dies sagt sich so leicht, ist jedoch alles andere als einfach. Bis dieses Herz lauter und wirklich fühlend wird, statt von Emotionen umzingelt und Ego-Motiven folgend, ist eine Läuterung in der Tiefe notwendig. Ihre Frucht ist, dass wir nicht länger unbewusste Sklaven unserer Konditionierungen sind, sondern bewusste Diener des Lebens, die mit geklärten Augen ihres Herzens einen Beitrag zur „Kosmischen Dialyse“ beizutragen vermögen: der Entgiftung dieser Welt von ihrem Todesgestank, um das Vorangehende mit Formulierungen einer zeitgenössischen spirituellen Lehrerin Cynthia Bourgeault abzurunden. (17)

„Feindesliebe“ konkret

Es braucht für diesen Weg des Herzens auch den gemeinsamen Suchprozess, den Austausch – auch um uns darin gegenseitig hilfreiche Impulse zu geben und wach zu halten. Nicht nur als Austausch unter Gleichgesinnten, den auch, aber hier droht wieder der mimetische Herdeneffekt, der mich von mir trennt, sondern auch die Begegnung und den Austausch mit ganz anders Handelnden und Denkenden.

Noch sitzen die meisten in ihren Blasen und scheuen das raue Wetter und die Einsamkeit, wenn man sie verlässt und sich auf andere – anders Denkende und Fühlende – einlässt. Aber die Zeit ist und wird allmählich reif, die Fragmentierung und Spezialisierung zu überwinden, die uns von uns selber und voneinander entfremdet, und wieder zu einer Ganzheit zu finden, die uns verloren gegangen ist. Einer neuen. Dabei bin ich nochmals beim hoffnungsvollen Buch von Vimala Thakar, welches die Ganzheit von „Spirituell leben und Sozial handeln“ für unsere Zeit in vier Schritten entfaltet: diese Einheit zu entdecken, ihr zu vertrauen, in ihr zu handeln und Ganzheit zu leben. Ein radikaler Weg nach innen und nach außen.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.oberwilerkurse.ch/kurse/von-der-gewalt-zur-liebe-11-11-23/
(2) https://enneagramm-lehrer.de/das-enneagramm/die-basisthemen-der-neun-typen/
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Abwehrmechanismus
(4) https://pathwork.org/eva-pierrakos/
(5) Eva Pierrakos und Donovan Thesenga, Fürchte dich nicht vor dem Bösen, 2001
(6) Vimala Thakar, Spirituell leben und sozial handeln. Revolutionäre Wege zu Ganzheit und Einssein. Chalice Verlag 2023, Seite 26
(7) Laurence Heller und Aline LaPierre: Entwicklungstrauma heilen – Alte Überlebensstrategien lösen, München 2013
(8) Vimala Thakar, Spirituell leben und sozial handeln. Revolutionäre Wege zu Ganzheit und Einssein. Chalice Verlag 2023, Seite 26
(9) https://de.wikipedia.org/wiki/René_Girard
(10) Vimala Thakar, Spirituell leben und sozial handeln. Revolutionäre Wege zu Ganzheit und Einssein. Chalice Verlag 2023, Seite 25
(11) Walter Wink, Friedensaktivist während der gewaltlosen Wende in Südafrika: Verwandlung der Mächte, Eine Theologie der Gewaltfreiheit, Regensburg, 2014. Heute wäre vor allem auf den radikalen Pazifisten Eugen Drewermann hinzuweisen: Olaf Scholz’ Rede von der durch den Ukrainekrieg ausgelösten Zeitenwende, und dass dieser Friedensaktivisten wie Drewermann im August 2023 unwidersprochen als „Gefallene Engel aus der Hölle“ diffamierte, beantwortete er in diesem Herbst mit seinem eindrücklichen Buch Die Bergpredigt als Zeitenwende. Nur durch Frieden bewahren wir uns selbst, Ostfildern, 2023
(12) https://www.safi-nidiaye.com
(13) https://www.safi-nidiaye.com/portfolio-item/das-tao-des-herzens/
(14) https://enneagramm.ch/wp-content/uploads/Koerperzentrierte-Herzensarbeit-Schritte.pdf
(15) https://www.franz-renggli.ch
(16) Frank Urbaniok. Darwin schlägt Kant. Über die Schwächen der menschlichen Vernunft und ihre fatalen Folgen, Zürich, 2020
(17) Cynthia Bourgeault, Das Auge des Herzens. Eine spirituelle Reise ins Reich des Imaginativen, Xanten, 2021. Im Kapitel Imaginative Läuterung, Seiten 109ff beschreibt sie auf ihre Weise den konkreten „inneren Hausputz“: Wie wir zu einem fühlenden und reinen Herzen kommen.

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