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Der wirkliche Skandal

Der wirkliche Skandal

Ein Karnevalsscherz Kramp-Karrenbauers verursacht mehr Aufruhr als ihre Pläne zur marktradikalen Umgestaltung Deutschlands.

Nun habe ich fast eine Woche gewartet, stets ein bisschen in der Hoffnung, nun geht der Shitstorm gegen den personifizierten Doppelnamen, gegen Frau Kramp-Karrenbauer, hoffentlich bald los — aber nichts ist. Alles still. Dabei hatte man doch neulich so gut für den Ernstfall geübt. Als die Chefin der Union an Karneval irgendein Witzchen über das dritte Geschlecht riss, tobte das politisch korrekte Gewissen des Landes, das Feuilleton und der politische Gegner, ungehemmt durch den Meinungskorridor unserer Republik. Na, dachte ich mir dabei, wenn die Dame erst mal wirklich was Schlimmes vom Stapel lässt, dann kann sie sich aber warm anziehen.

Kaum zwei Wochen später gab sie dann der Rheinischen Post ein Interview, in dem sie kurz anriss, wie sie sich die Zukunft Deutschlands vorstelle: als ein Szenario der Entlastung für Unternehmen nämlich. Weil diese ja bekanntlich in den Augen der Marktradikalen durch zu hohe Abgaben gehemmt sind und unbedingt Hilfe brauchen. Die Rheinische Post fragte daraufhin, ob man dann die Ausgabenbremse bei der Sozialpolitik ziehen müsse. Frau Kramp-Karrenbauer bejahte, man müsse erst Finanzmittel erwirtschaften, bevor man sie ausgebe. Schon im nächsten Satz nach ihrer Steuersenkungsabsicht tut die Frau so, als seien ihr — erst einmal in Verantwortung — quasi die Hände gebunden. Wenn das mal kein Aufreger ist …

Aufschrei? Na, wo bleibt er denn?

Ich habe jedenfalls nirgends etwas darüber gelesen. In meiner Filterblase äußerte sich nur eine Person dazu. Das war bei der Karnevalsaffäre von AKK aber noch völlig anders gewesen. Da kannte die gesamte Bubble nur noch sie. Jetzt aber, da sie — anders als bei ihrer kostümierten Ansprache — in Aussicht stellt, dass unter ihrer Kuratel das Land weiter Schaden nehmen würde, die Spaltung weiter forciert werden solle, findet sich kein Aufschrei. Es bleibt still. So still wie schon vor Karneval, als sie zur Senkung des Mietniveaus ernsthaft vorschlug, man sollte den freien Markt im Wohnungswesen wirken lassen.

Annegret Kramp-Karrenbauer ist eine glasklare Neoliberale. Eine, die die reine Lehre vertritt, wie man sie in der Zeit der Agenda 2010 postulierte, als der neue Geist Einzug in den Alltag des Landes fand. Seit der Finanzkrise artikulieren sich die neoliberalen Vorbeter und Denkfabriken nicht mehr so fundamentalistisch. Sie haben durchaus begriffen, dass es ihre menschenverachtende Ideologie ist, die ganz wesentlich am Rechtsruck der Gesellschaft beteiligt war. Als man Banken auf Kosten der Allgemeinheit schadlos hielt, rumorte es stark in der Bevölkerung. Zu dieser Zeit formte sich ein „progressiver Neoliberalismus“ heraus — so nannte die US-amerikanische Politologin Nancy Fraser diesen Synkretismus aus reinem Mantra und der Tünche, die man auftrug, um ein bisschen sympathischer auf die Bürgerinnen und Bürger zu wirken.

Dieses „befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ (Colin Crouch) war Ausdruck der Anpassungsfähigkeit jener ökonomischen Reinheitslehre. Kramp-Karrenbauer ging da nicht mit — sie ist nebenher gesagt auch keine klassische Konservative. Denn die alten Konservativen hatten ja, bei aller kritikwürdigen Frömmelei und Obrigkeitsgläubigkeit, noch einen gewissen Gemeinsinn. Zum traditionellen Konservatismus gehörte es, dass man Rücksicht auf alle nimmt, die in einer Gesellschaft leben. Dies geschah zwar manchmal paternalistisch, wurde christlich unterfüttert — von der Haltung des „Hilf-dir-selbst“-Liberalismus hatte dieser Konservatismus aber tatsächlich so gut wie nichts.

Das Skandälchen: Der Nonsens ist unrechtsstaatstragend

Die neue Chefin der Union ist Puristin, sie sieht sich als Vertreterin des Prä-Finanzkrisen-Liberalismus. Darüber könnte man viel sagen — und sich noch viel mehr empören. Die Frau ist an sich keine Alternative für Deutschland. Und das nicht etwa aus Nonsens-Gründen. Aber was regt uns auf? Ihre Zote über das dritte Geschlecht und Drittklosetts! Wir haben offenbar sonst keine Sorgen. Ob sich so erklären lässt, wie sich Relevanzen im öffentlichen Diskurs verschieben, muss man allerdings bezweifeln.

Während wir nach wie vor in einem System leben, das die noch amtierende Bundeskanzlerin mal als „marktkonforme Demokratie“ titulierte, in der Absatzmöglichkeiten, Profitraten und Marktexpansionen über die Geschehnisse bestimmen, quatschen wir über die persönliche Befindlichkeit einer Politikerin, von der noch nicht einmal klar ist, ob sie eine Zukunft als Bundespolitikerin haben wird. Sobald sie aber über diese Zukunft spricht, und zwar in der marktradikalen Art und Weise, wie oben kurz angerissen, verstummt der Diskurs.

Diese Dialektik legt nahe, dass es in Ordnung ist, als Verantwortlicher über die weitere Ausgestaltung eines marktkonformen Unrechtsstaates zu sinnieren, während es als Frevel gilt, sich zu gesellschaftspolitischen Themen anders zu äußern, als es von der Allgemeinheit bevorzugt wird. Denn es ist ja nicht so, dass Kramp-Karrenbauers Haltung zum dritten Geschlecht oder zur Homosexualität irgendwie den Zeitgeist tangieren würde. Sie sieht es halt anders, akzeptiert aber natürlich die demokratisch legitimierten Entscheidungen, die die Thematik betreffen. Laute Empörung lenkt jedoch von den eigentlichen Themen ab — und man fragt sich: Ist das Zufall?

Liberaler Lifestyle: Ein Bekenntnis zum Neoliberalismus

Das beobachtet man momentan immer häufiger. Ökonomische Themen, Privatisierungsvorhaben oder Sparkonzepte, bekommen natürlich immer noch mediale Aufmerksamkeit. Aber die Empörungsmaschine wird bei solchen Sujets nicht angeworfen. Sie ist rein für Themen des liberalen Lifestyles reserviert. Wenn es um gendergerechte Sprache und Orthographie geht, um konstruierte Nischenrassismen oder pseudosexistische Anschuldigungen, und plötzlich aus einem ganz normalen Alltagssatz eine Doktorarbeit über versteckte Aggressionen wird. Oder es geht um Antisemitismus-Vorwürfe, wie zuletzt, als man blitzgescheit herausanalysierte, dass die NachDenkSeiten etwas gegen Juden haben müssen — zwischen den Zeilen stehe die ganze Wahrheit.

Nicht immer ist alles konstruiert — aber leider viel zu häufig dann doch. Ganze Jugendmagazine, bento, Jetzt oder ze.tt etwa, bestehen eigentlich nur aus liberalem Lifestyle — zu finden gleich neben den neuesten Schreien aus dem hippen urbanen Milieu westlicher Weltmetropolen, neuesten Getränkemoden und Klamottentrends. Manche Journalisten haben nur das als Thema — und landen trotzdem irgendwie im politischen Ressort ihrer Stammblätter. Zu Leiharbeit äußern sie sich nie — bestenfalls nur, wenn sie sich gendergerecht thematisieren ließe. Öffentlich-private Partnerschaften, die die Gesellschaft um ihr zustehende Steuermittel bringen: Davon mögen sie mal gehört, nie aber geschrieben haben.

Bei diesen Themenkomplexen geht es nicht um Gerechtigkeit, auch wenn die Trendsetter dieser oft hanebüchenen Debatten nicht müde werden, hier von einer neuen Gerechtigkeit zu schwafeln. Nein, es geht im Grunde um eine strategische Meisterleistung der herrschenden Ökonomie. Deren Profiteure lehnen sich genießerisch zurück, wenn sich das Publikum wegen dem Binnen-I zerfleischt oder wenn eine Politikerin nicht wegen marktradikaler Vorlieben, sondern wegen Unisextoiletten in die Mangel genommen wird. Wer sich über diese Dinge ereifert und alle Empörungsenergie bereits verbraucht hat, wenn es an Themen zur Verteilungsgerechtigkeit geht — die am Ende uns alle direkt betreffen —, der ist Teil einer subtilen Querfront, die neoliberales Gedankengut weiterhin als Alternative für Deutschland deklarieren möchte.


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