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Die deutsche Krise

Die deutsche Krise

Die Krise der politischen Elite im Land resultiert aus ihrer Unfähigkeit, auf die Wünsche der Bürger einzugehen.

von Mathew D. Rose

Die deutsche politische Elite und die europäischen Medienkonzerne können sich den grundlegenden politischen Wandel, der in Deutschland stattfindet, nicht eingestehen, da die Konsequenzen so erschütternd für sie sind. Im Land zeichnen sich Vorboten des Zusammenbruchs der liberalen Demokratie ab, ein Phänomen, das das Webmagazin Brave New Europe seit seiner Gründung in der gesamten EU beobachtet. Wenn Regierungen erkennen, dass die Macht ihnen aufgrund demokratischer Kräfte entgleitet, folgt eine „militarisierte liberale Demokratie“, wie wir sie in Spanien und Frankreich erleben.

In einer solchen Demokratie kann das alte Regime seine Macht nur mithilfe roher Gewalt erhalten. Es wird interessant sein zu beobachten, wie die Bundesregierung auf die vom 19. bis 24. Juni stattfindenden Massenproteste gegen den Kohlebergbau im Rheinland reagiert (dieser Artikel wurde ursprünglich am 15. Juni 2019 veröffentlicht; Anmerkung der Übersetzerin). An diesen Tagen wird sich genau die Generation, die der deutschen politischen Elite den Rücken gekehrt hat, zusammenfinden, um die Tagebaue zu blockieren.

Dieser Artikel enthält einige Zitate des jungen portugiesischen Autors João Batalha, der von Brave New Europe unterstützt wird und dessen herausragende Artikel über Portugal meist unbeachtet bleiben — wie zum Beispiel dieser.

In der deutschen Politik findet gerade ein grundlegender Wandel statt. Dieser begann lange vor dem überraschenden Wahlsieg der Grünen bei den EU-Wahlen im Mai. Was wir erleben, ist der Untergang des seit der Nachkriegszeit etablierten politischen Systems des Landes, das seinen Bürgern in den letzten 30 Jahren so schlecht gedient hat. 30 Jahre sind eine ganze Generation — und es ist die junge Generation, die dem Wandlungsprozess seinen aktuellen Impuls gegeben hat.

Man muss sich darüber bewusst sein, dass das politische Establishment Deutschlands aus einer einzigen neoliberalen, nationalistischen Partei mit sieben Fraktionen besteht.

Eine dieser Fraktionen mag etwas sozialer und eine andere zumindest oberflächlich um die Umwelt besorgt sein; wieder eine andere mag die Besteuerung der Reichen befürworten. Doch wenn man sich die tatsächlich betriebene Politik in Deutschland ansieht — also das, was wirklich passiert —, lassen sich kaum Unterschiede feststellen. Baden-Württemberg beispielsweise wird von einer Koalition aus Grünen und CDU regiert — vorheriger Koalitionspartner der Grünen waren die Sozialdemokraten.

Die baden-württembergische Regierung macht keine politischen Schlagzeilen, sie verfolgt nicht einmal eine überraschende Umweltpolitik. Thüringen hat eine Mitte-Links-Koalition aus den Linken, der SPD und den Grünen. Dito. Das Gleiche gilt für die Stadt Berlin, wo es ein ähnliches Bündnis gibt, mit dem Unterschied, dass die Regierung in Berlin von dessen Bürgern politisch unter Druck gesetzt wird: Sie fordern nicht nur einen Mietpreisstopp, sondern leiten auch ein Volksbegehren über die Enteignung von Wohngebäuden großer Immobilienkonzerne in die Wege.

Was viele Deutsche angesichts dieses Mangels an Alternativen tun, ist, einfach nicht zu wählen. Wieder andere — sogar eine relativ große Zahl — wählen gegen die regierenden Parteien, indem sie sich für eine andere — irgendeine andere — Partei entscheiden. Das sind die so genannten Protestwähler.

Bei den EU-Wahlen zeichnete sich dieses Phänomen deutlich ab: Es wurde vielfach „Die Partei“ gewählt, eine Partei, deren beide Spitzenkandidaten Satiriker sind, die das politische System parodieren. Sie gewannen bundesweit 2,4 Prozent der Stimmen und somit 2 Sitze im EU-Parlament — fast wären es 3 gewesen. Bemerkenswert ist, dass es sich bei 9 Prozent ihrer Unterstützer um Erstwähler handelte. Insgesamt gingen 13,6 Prozent der Stimmen und somit 9 der 96 Sitze Deutschlands im nächsten EU-Parlament an solche nicht-etablierten Parteien. Was geschieht hier also und weshalb?

Verlorene Glaubwürdigkeit

Das politische Establishment Deutschlands hat bei einer inzwischen maßgeblichen Anzahl von Bürgern seine Glaubwürdigkeit verloren, oder, wie João Batalha die Misere beschreibt: „Die Politik ist zu einem Spiel für Insider geworden, bei dem Einfluss und Zugang wichtiger sind als Vernunft, öffentliches Interesse oder irgendeine Form von Gemeinwohl“. Hat man diese Glaubwürdigkeit einmal verloren, ist es praktisch unmöglich, sie wiederzuerlangen und in Deutschland haben die etablierten politischen Parteien dies jahrzehntelang nicht einmal versucht, außer vielleicht auf lokaler Ebene. Es war immer genug Kuchen für sie da, sie aßen ihn, im nächsten Jahr gab es wieder genug, und das über Jahre hinweg. Diese politische Klasse macht nichts anderes, als sich — satt gegessen — auf ihren konsolidierten Positionen auszuruhen.

Wenn man privat mit deutschen Politikern der etablierten Parteien spricht, erkennt man, dass ihr größtes Problem nicht der Klimawandel, soziale Ungleichheit oder der Verfall der Infrastruktur ist — nein, nicht einmal die Russen.

Der wahre Feind der politischen Klasse Deutschlands sind die deutschen Wähler, die ständig Veränderungen fordern und die Politiker einfach nicht in Ruhe lassen.

Wie Batalha beschreibt, sind „die meisten unserer Politiker auf diese Situation nicht vorbereitet — sie sind in einer stabilen, elitären und technokratischen politischen Ordnung aufgewachsen und befinden sich jetzt in einem Territorium, das mehr dem Wilden Westen ähnelt und voll mit Wut, Emotionen und Aufruhr ist.“

Wir erleben hier nicht eine Krise gemäßigter Parteien, sondern einen zunehmenden Vertrauensverlust in eine hochgradig korrupte politische Klasse.

Am deutlichsten sichtbar ist der Rückgang wohl bei der SPD. Diese Partei, deren Wähleranteil früher um die 40 Prozent betrug, erhielt in den Bundestagswahlen im Jahr 2017 nur 20 Prozent der Wählerstimmen, in den EU-Wahlen sogar nur 15 Prozent. In aktuellen Wahlumfragen kommen die Sozialdemokraten auf ungefähr 12 Prozent. Die SPD ist die Partei der Steuersenkungen für die Reichen, der Sparpolitik für den Rest und der hartnäckigen Anhänger von Kohle und großen Autos.

Wie die anderen Parteien ist auch die SPD eine Funktionärspartei geworden, die von den Früchten der Vergangenheit zehrt und nicht nur die deutschen Bürger, sondern auch die eigenen Parteimitglieder ignoriert. Sie ist eine Partei systematisierter Korruption und unternehmerischer Habgier, eine Partei, in der private Interessen für die politische Entscheidungsfindung maßgeblich sind. Der Grund für das Eingehen einer weiteren Koalition mit Merkel im Jahr 2018 war, Kapital aus den gut bezahlten Ministerämtern zu schlagen.

Der übliche Beweggrund für eine große Koalition ist es, in Zeiten eines nationalen Notstandes die Reihen zu schließen, aber momentan hat Deutschland schon die dritte GroKo innerhalb von vier Legislaturperioden.

Während die deutschen Medien die Bildung der Koalition als patriotischen Akt proklamierten, war es in Wirklichkeit ein politischer Todespakt, der sich als ebensolcher herausgestellt hat.

Die Nomenklatura der SPD — überwiegend bestehend aus Personen, die kurz vor dem Rentenalter stehen — bereichert sich ein weiteres Mal am politischen System. Was danach kommt — sei es der Untergang der Partei oder eine Klimakatastrophe — ist ihr egal.

Im Moment kann man beobachten, wie die rechtskonservative Christliche Union von Angela Merkel den gleichen Kurs einschlägt. Traditionell noch stärker als die SPD, stürzte die CDU trotz Merkel als Parteivorsitzender bei der Bundestagswahl 2017 auf ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis: 33 Prozent. Bei den Europawahlen sank dieses Ergebnis auf unter 29 Prozent und in aktuellen Wahlumfragen kommt die Union auf 24 Prozent. Die Partei ist davon ausgegangen, dass durch „Mutti“ Merkel die Macht in ihren Händen bleiben würde.

Aber Merkels Hybris und ihre systematische Vertuschung schwerwiegender politischer Fehlentscheidungen durch eine noch schlechtere Lösung — obwohl ihr dafür in den nationalen und internationalen Mainstream-Medien applaudiert wurde —, haben bestehende Probleme in Deutschland und Europa noch verschärft. Was wären die rechtsextremen europäischen Parteien und der diktatorische türkische Präsident Erdogan ohne sie? Ganz zu schweigen von der seit zehn Jahren andauernden Stagnation in der Eurozone.

Die aktuelle politische Situation in Deutschland spiegelt sich nirgendwo besser wider als in der im Vorfeld der Europawahl veröffentlichten 55-minütigen Schmährede des deutschen Vloggers Rezo mit dem Titel „Die Zerstörung der CDU” und die Reaktionen darauf. Das Video wurde 15 Millionen Mal abgerufen. Es handelt sich um eine gut strukturierte, detaillierte Analyse der zerstörerischen Politik nicht nur vonseiten der Union Merkels, sondern auch der SPD und der rechtsextremen AFD, insbesondere ihrer Geringschätzung für junge Wähler.

Diese zeigte sich besonders deutlich, als Deutschland vor kurzem die neuen Urheberrechtsgesetzte im Internet durchwinkte und damit Interessen europäischer Medienunternehmen wie Bertelsmann und Springer auf Kosten der freien Meinungsäußerung im Internet vertrat. Viele junge Deutsche gingen aus Protest auf die Straße, wurden jedoch einfach ignoriert. Dies und die Klimakrise scheinen dieser Generation eine politische Stimme gegeben zu haben. Das Erstaunliche an dem geposteten Video ist, dass die politischen Parteien außer Stande waren, etwas auf die sachlichen Argumente zu erwidern — sie sind einfach nicht mehr daran gewöhnt. Selbst die deutschen Mainstream-Medien schienen hilflos zu sein.

Die deutschen Parteien haben geglaubt, sie hätten das Informationsmonopol für Deutschland inne. Die staatlichen Fernseh- und Radiosender — in Wirklichkeit Propagandainstrumente der etablierten politischen Parteien — sowie die Mainstream-Medien, die eigene Interessen an den Parteien haben, sind alles andere als kritisch. Was die Politiker übersehen haben: Das Durchschnittsalter der Zuschauer des staatlichen Fernsehens beträgt inzwischen mehr als sechzig Jahre. Bei Zeitungen und Zeitschriften ist es nicht viel anders, ganz zu schweigen davon, dass sie den Großteil ihrer Leserschaft verloren haben.

Die jüngere Generation bezieht ihre Informationen über das Internet, einschließlich sozialer Netzwerke. Die etablierten Parteien haben das nie ernst genommen. Warum denn auch? Es gab für die jungen Wähler ohnehin nie eine wirkliche Alternative zum politischen Establishment.

Merkels Nachfolgerin an der Parteispitze der CDU, die zum Scheitern verurteilte Annegret Kramp-Karrenbauer, hat lediglich vorgeschlagen, es solle neue Gesetze für das Internet geben, um solche peinlichen Vlogs zu verhindern…

Auch die anderen Parteien des Establishments, die liberale FDP — Partei der Korruption — und Die Linke — die Fake-Linke — befinden sich in einer Sackgasse. Sie erhalten zwischen fünf und zehn Prozent der Wählerstimmen, abhängig davon, in welche Richtung die Protestwahl ausschlägt.

Keine Veränderung

Und dann sind da noch die Grünen. Man darf nicht vergessen, dass die Grünen sich bei der Bundestagswahl am 27. September 2017 — also vor nicht einmal zwei Jahren — schon glücklich schätzen konnten, 8,9 Prozent der Stimmen erhalten zu haben. Sie belegten den sechsten Platz und lagen somit weit hinter der AfD. Laut Umfragen kommen die Grünen momentan auf 27 Prozent. Was also hat die Partei in den letzten 20 Monaten gemacht? Eigentlich nicht viel. Sie hat ein paar neue, junge Gesichter an die Parteispitze gewählt, was in der Tat zu Veränderungen führen könnte, aber auch sie werden sich mit den Funktionären ihres Parteiapparates herumschlagen müssen.

Trotzdem sind die Grünen alles andere als eine radikale Partei und sie haben kein Problem damit, eine Koalition mit der Christlichen Union oder den Liberalen zu bilden, die beide eine sinnvolle Politik in Hinblick auf den Klimawandel ablehnen. Dennoch gilt: Nomen est omen und Grün ist grün. Interessanterweise war die einzige Partei, die sich bei der Europawahl mit dem gut fundierten Programm eines Green New Deal ernsthaft mit dem Klimawandel befasste, Yanis Varoufakis‘ Partei „Demokratie in Europa“. Sie erhielt 0,3 Prozent der Stimmen.

Genau hier könnte es für die Grünen schwierig werden. Viele ihrer Wähler erwarten radikale Maßnahmen im Hinblick auf die Klimakrise. Und das in einem Land, in dem rund eine Million Arbeitsplätze von der inländischen verbrennungsmotorbasierten Automobilindustrie abhängen.

Diese trägt ungefähr 5 Prozent zum deutschen Bruttoinlandsprodukt bei. Automobilunternehmen spenden in großem Maße an die politischen Parteien — einschließlich der Grünen. Gewerkschaften stehen nicht nur voll hinter der Autoindustrie, sie schützen auch den Kohlebergbau und die Verbrennung von Kohle zur Stromerzeugung, gentechnisch veränderte Lebensmittel und Atomkraft. Kein Tempolimit auf deutschen Autobahnen ist für die meisten Deutschen ein ebenso emotionales Thema wie das Recht auf Tragen einer Waffe für die US-Amerikaner.

Die Positionen, die die Grünen vertreten, und das, was sie tatsächlich umsetzen, sind meilenweit voneinander entfernt. Was übrig bleibt, ist eine wertesignalisierende anstelle einer wirklich kohärenten Transformationspolitik für Deutschland und die EU. Diese wird sich ändern müssen, wenn die Grünen nicht auf den Stand von vor 20 Monaten zurückfallen wollen. Die jungen Wähler wollen eine radikale Politik, und sie wollen sie jetzt.

Während die jungen Menschen sich den Grünen zuwenden, geben ältere deutsche Wähler ihre Stimmen der rechtsextremen AfD. Vor allem in den östlichen Bundesländern ist die Geduld der Wähler offenbar erschöpft. Dort gewinnt die AfD rasant an Boden. Bei den EU-Wahlen verzeichnete sie in den Bundesländern Brandenburg und Sachsen die besten Ergebnisse aller Parteien. Sachsen galt bis dahin als uneinnehmbare Bastion von Merkels CDU und Brandenburg als SPD-Hochburg. In ganz Deutschland liegt die AfD in Umfragen gleichauf mit den Sozialdemokraten.

Die Deutschen wenden sich zunehmend von ihrem politischen Establishment ab auf der Suche nach Veränderung, die niemals zu kommen scheint. João Batalha stellt scharfsinnig fest: „Ich befürchte, dass unsere Demokratien zu prozeduralen Demokratien werden, in denen der Staat den Bürgern die Grundrechte, sich zu beschweren, sich zu versammeln, zu protestieren und sogar die Regierung abzuwählen, durchaus zuspricht — er gewährt ihnen eben nur nicht das Recht, etwas zu verändern.“


Mathew D. Rose betreibt investigativen Journalismus und spezialisiert sich dabei auf organisierte politische Kriminalität. Er ist einer der Mitbegründer und Redakteure von Brave New Europe.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „A Tectonic Shift in German Politics“. Er wurde von Nadine Müller aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


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