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Die gekaufte Revolution

Die gekaufte Revolution

Erneut kämpft Nicaragua gegen den US-Imperialismus.

Im Kampf um Nicaragua geht es um den US-Imperialismus
von Celina Stien-Della Croce

Stand 8. Juni in Nicaragua: 285 Tote, mehr als 1.500 Verwundete. Das Land ist gespalten. Man versucht, die Gewalt und das politische Klima drum herum zu verstehen. In den USA ist es so gut wie unmöglich, das aktuelle Narrativ zu durchschauen. Es scheint in steter Wiederholung, einer Echokammer gleich, durch die Mainstream-Medien gejagt zu werden. Diesem Narrativ zufolge ist Präsident Daniel Ortega autoritär. Er hat Renten gekürzt. Die Menschen haben protestiert. Ortega hat mit Gewalt reagiert und noch immer steigende Zahlen von Demonstranten umgebracht.

Ortega muss gehen, und die USA müssen ihn dabei unterstützen, im Namen der Demokratie. Aber die Wirklichkeit ist selten so simpel. Dieser Artikel soll keine Verteidigung von Ortegas Regierung sein. Er will auch nicht die jüngsten Todesfälle hinnehmen oder gar darüber hinwegsehen. Es ist lediglich der Versuch eines menschlichen Wesens gegenüber einem anderen, die Wände dieser Echokammer zu durchbrechen und den aktuellen Konflikt in seinem historischen Kontext darzustellen.

Die Fehlinformation – oder bestenfalls das sorgfältige „Frisieren“ von Fakten –in Bezug auf die aktuellen Proteste beginnt mit den Rentenkürzungen, die den Konflikt angeblich ausgelöst haben. Entgegen dem geltenden Narrativ stammen die Pläne zu Rentenänderungen nicht aus Ortegas Regierung. In Reaktion auf das Defizit in Nicaraguas Sozialversicherungsfonds INSS schlug der IWF (Internationaler Währungsfonds) unter anderem eine Kürzung der Rentenleistungen um 20 Prozent sowie eine Heraufsetzung des Rentenalters von 60 auf 63 (oder gar 65) Jahre vor.

Ortegas Regierung lehnte die harten Sparmaßnahmen des IWF ab und empfahl Rentenkürzungen um 5 Prozent und eine Erhöhung der INSS-Beiträge von 3,5 Prozent für Arbeitgeber und 0,75 Prozent für Arbeitnehmer. Ortegas Rentenkürzungen sind viel sanfter ausgefallen als die, die der IWF vorgeschlagen hatte, aber letzterem scheint man im Narrativ zu den Protesten keine Schuld zuzuweisen. Lassen Sie sich aber nicht täuschen: Der IWF und die neoliberale Agenda haben eine lange Tradition, politische Richtlinien zu entwerfen, durch die überall im globalen Süden Menschen wie du und ich verarmt werden und die Ungleichheit vergrößert wird. Nicaragua ist da keine Ausnahme.

Der Konflikt ist nicht schwarz-weiß

Daniel Ortega ist schon lange ein Feind der USA und ihrer imperialistischen Agenda. Ortega war Teil der Sandinisten-Revolution, die 1979 die 40 Jahre währende, von den USA unterstützte Diktatur Somozas gestürzt hat. Die Sandinisten blieben danach 19 Jahre lang unter Ortega an der Macht. In dieser Zeit sank die Analphabetenrate um fast 40 Prozent. 1990 verloren sie die Wahlen und machten den Weg für 17 Jahre neoliberaler Regierungen frei.

2006 gewann Ortega die Präsidentschaftswahlen erneut. Seit seinem Amtsantritt 2007 ist die Armutsrate von 46,3 Prozent im Jahr 2005 auf 24,9 Prozent im Jahre 2016 gefallen, nachdem sie während der neoliberalen Regierungen nach 1990 auf dem gleichen Stand geblieben war.

Von 2006 bis 2017 ist das BIP um 38 Prozent gestiegen. Ortega erfreute sich großer Beliebtheit in der Bevölkerung. Zu sagen, die Menschen Nicaraguas liebten ihn ausnahmslos, wäre jedoch eine Lüge. Seine Bilanz ist kompliziert – sie war es vor den Protesten und ist es heute umso mehr. Die Tatsache jedoch, dass seine Erfolge in den Berichten rund um die neuesten Proteste weitgehend ausgeblendet werden, wirft eine umfassendere Frage auf, eine die mit den Wünschen und Forderungen der Menschen in Nicaragua nichts zu tun hat.

Der Konflikt in Nicaragua ist nicht einfach schwarz-weiß: Es ist durchaus möglich, dass das nicaraguanische Volk Kritik an Ortega übt, und auch, dass andere Faktoren im Spiel sind, die größere Entwicklungen einer imperialistischen Intervention und neoliberalen Agenda in ganz Lateinamerika spiegeln, die von den USA ausgehen, zuletzt in Brasilien und in Venezuela.

„Unkonventionelle US-Kriege“ in Südamerika

Wie das Tricontinental Institute for Social Research (Institut für soziale Forschung) kürzlich berichtete, führen die USA einen „unkonventionellen“ Krieg gegen Venezuela und in der ganzen Region – mit wirtschaftlichen Sanktionen, der Manipulation der öffentlichen Meinung und anderen Intrigen, um unter dem Deckmantel des Humanitarismus eine neoliberale Agenda zu implantieren. Sie „führen also einen Krieg, der zuweilen den Anschein hatte, als würde er für Staatsbürgerrechte mobilisieren“.

Diese „unkonventionellen Kriege“ liefern wichtiges Hintergrundwissen für das Verständnis der Proteste und der damit zusammenhängenden Gewalt in Nicaragua. Die USA haben in großem Maße durch wirtschaftliche Sanktionen und andere Maßnahmen die Krise in Venezuela verursacht und dann die Folgen als Vorwand für Interventionen genutzt. Selbstbestimmung bedroht die USA und Konzerninteressen, die von Rohstoffen, Handelsverträgen und billigen Lohnkosten in der Region profitieren.

Im Falle Nicaraguas hat sich die Regierung von Daniel Ortega mit der links-gerichteten venezolanischen Regierung zusammengetan und droht nun der Bestie namens „US-Imperialismus“ mit der Faust. Es ist sehr mutig, dem US-Imperialismus gegenüber Rückgrat zu zeigen (laut „In the Ruins of the Present“ vom Tricontinental Institute for Social Researches haben die USA das mächtigste Militär der Welt mit 611,2 Milliarden US-Dollar im Jahr), aber es bleibt auch nicht ohne Folgen.

Der NICA-Act als Sanktion

Der Westen hat gezeigt, dass die Behauptung Venezuelas und Nicaraguas, sie hätten das Recht, unabhängig von den Interessen der USA und des Westens zu handeln, nicht toleriert wird – vor allem insofern, als sie es wagen, die Rohstoffe ihres Landes zum Wohle der eigenen Bevölkerung und nicht der multinationalen Konzerne einzusetzen. Die USA haben verdeutlicht, dass jede Regierung Konsequenzen zu erwarten hat, die es wagt, die US-Autorität anzuzweifeln. Zu diesem Zweck versuchen die USA, den Nicaraguan Investment Conditionality Actvon 2017 (auch als NICA Act bekannt) durchzusetzen, der zum Ziel hat, dem Land den Zugang zu internationalen Krediten zu sperren – natürlich unter dem Vorwand der Demokratie und der humanitären Gesinnung, obwohl diese Kredite größtenteils für Gesundheitsversorgung, Bildung und Soziales bestimmt sind.

Von vielen wird der NICA Act als eine Möglichkeit verstanden, Nicaragua für seine Allianz mit Venezuela sowie sein Abweichen von den Wünschen des US-Imperialismus und der US-Hegemonie zu bestrafen. Für die USA hat all dies nichts mit Demokratie zu tun, auch nicht mit Rentenkürzungen und nicht mit den tatsächlichen Klagen, die das nicaraguanische Volk seiner Regierung gegenüber äußert.

US-unterstützte Protestbewegung

Das US-Narrativ zu Nicaragua spiegelt recht genau die „unkonventionellen Kriege“ gegen Venezuela und Brasilien wider – wie sie sich hinter einem erfundenen Narrativ humanitärer Bedürfnisse verstecken und einen systematischen Schock als Gelegenheit nutzen, eine neoliberale Agenda einzuführen.

Wie Max Blumenthal und andere Journalisten beschrieben haben, hat die US-Regierung der Anti-Ortega-Protestbewegung, darunter Protestgruppen, Medien und andere gegen Ortega eigestellte Gruppen, riesige Geldmengen zukommen lassen, vor allem über die National Endowment for Democracy Stiftung und USAID (Anmerkung der Übersetzerin: laut eigenen Angaben unter https://www.usaid.gov/ ist USAID „der Welt führende internationale Entwicklungsorganisation … USAID´s Arbeit bringt die nationale Sicherheit und den wirtschaftlichen Wohlstand der USA voran, demonstriert amerikanische Großzügigkeit und fördert Eigenständigkeit und Resilienz der Empfänger.“).

Gefördert von Freedom House, einem US-finanzierten NED-Partner, machte kürzlich eine Gruppe von studentischen Anführern des Protests eine Reise in die USA und traf sich mit den konservativen Senatoren Marco Rubio, Ted Cruz und Ileana Ros-Lehtinen (dieselben, die im April den NICA-Act wieder eingeführt hatten), um sie um Unterstützung zu bitten.

Während die Absichten der Studenten und die Wirklichkeit bestenfalls undurchsichtig sind, könnten die Absichten des US-Imperialismus nicht offensichtlicher sein.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die USA auf eine lange Geschichte der Einmischung in Lateinamerika und der Unterstützung von Regime-Changes zur Förderung eigener wirtschaftlicher Interessen zurückblicken können.

In Nicaragua haben die USA die brutale Somoza-Diktatur unterstützt und die rechten Contras gefördert, um während des ikonischen Iran-Contra-Skandals die Sandinisten zu besiegen. Sollen wir mit Blick auf diese Vorgeschichte wirklich glauben, dass der US-Regierung das Wohl der Menschen in Nicaragua am Herzen liegt? Geht es um die Klagen über Ortega, die diese Menschen äußern, oder geht es um etwas ganz anderes?

„Die eine“ Wahrheit gibt es nicht

Wir können – und müssen – mehrere Wahrheiten gleichzeitig berücksichtigen: dass Ortegas Regierung viele Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung in Nicaragua auf den Weg gebracht hat, dass viele Nicaraguaner Kummer mit der Ortega-Regierung hatten und haben, dass für den Konflikt ein hoher Preis gezahlt wurde – Hunderte von Menschen mussten ihr Leben lassen –, und dass die USA versuchen, zu ihrem eigenen Nutzen einen Vorteil aus dieser Unzufriedenheit und Instabilität zu ziehen.

Das Drängen auf den NICA Act und die finanzielle Unterstützung oppositioneller Gruppen bekräftigen den Verdacht, den die Historiker unter uns gehabt haben könnten.
Wir wissen, was die USA wollen. Wir müssen aber der Bevölkerung in Nicaragua zugestehen, einen eigenen Weg zu skizzieren, Schmied ihrer eigenen Geschichte zu sein und auf Frieden und eine Zukunft zu hoffen, die frei ist vom Würgegriff des US-Imperialismus.


Celina Stien-della Croce ist Koordinatorin des „Tricontinental: Institute for Social Research“.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Understanding the Conflict in Nicaragua: the Long Battle Against US Imperialism". Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


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