Als ich an einem eisigen Wintermorgen über den Mark schlendere, entdecke ich aus der Ferne die „Gute“ Elfriede am Gemüsestand Landglück. Die Luft glitzert im Nebel feiner Eiskristalle. Elfriede hält eine gelbe Melone in den Händen und begutachtet sie von allen Seiten. Nachdem sie die Frucht geprüft und für makellos befunden hat, lächelt sie und hält sie dem Händler hin. Der verstaut die Melone in einer Papiertüte und nimmt Elfriedes Bankkarte entgegen. Ich trete einen Schritt beiseite und versuche mich hinter einer Wurstbude zu verstecken. Ich möchte der Frau nicht begegnen. Sie ist das Gewissen der Stadt, und jedes Mal, wenn sie mir über den Weg läuft, fühle ich mich danach ein Stückchen schmutziger. Doch ehe ich mein Versteck einnehmen kann, winkt sie mich schon herbei. Ich trete aus dem Schatten und trotte ihr wie ein Dackel entgegen.
Mit einem breiten Lächeln im Gesicht wartet sie am Gemüsestand auf mich. Dabei hält sie ihre Papiertüte vor den Bauch, als handele es sich um einen imaginären Reichsapfel. Wie eine Königin thront sie da. Ich fühle mich versucht, vor ihr auf die Knie zu fallen und ihr einen Handkuss zu geben. Sie strahlt wie die Mutter Gottes nach der Niederkunft. In ihrer unbefleckten Pracht beschwört sie in mir einen Tagtraum: Ich sehe Elfriedes Silhouette, von einem Lichtkranz umgeben, wie sie mit dem Finger auf mich zeigt.
Wenn ich von Ihr berichte und Ihren Namen und das damit verbundene Adjektiv großschreibe, ist das kein Zufall. Jeder in der Stadt nennt Elfriede von Mechtenheim „die Gute“. Denn, wie der Name schon sagt, stammt sie aus einem Haus, in dem das Gute stets über das Böse triumphiert hat. Naja, nicht ganz. Es gab auch Zeiten, in denen das nicht so gewesen ist. Doch heute gilt Elfriede in ihrer Eigenschaft als Familienvertreterin der von Mechtenheims als unangefochtene Autorität in Sachen Moral und Anstand.
Elfriede ist Ortsgruppenleiterin unserer lokalen „Omas gegen Rechts“, Vorsitzende von Pro Asyl Kempenbronn, Schöffin am Landgericht Drosenbüttel, Obfrau im Kirchengemeinderat und trägt den Ehrentitel „Schräge Mätresse“ im Organisationskomitee unseres lokalen CSD-Vereins. Außerdem zieren Regenbogenschleifchen die beiden Zöpfe, die unter ihrer Wollmütze hervorquellen.
Das erste Problem, das entsteht, wenn man sich einer so herausragenden Persönlichkeit nähert, liegt darin, den richtigen Abstand zu finden. Das gilt besonders, wenn Elfriede — wie jetzt — direkt vor unbeweglichem Hintergrund verweilt. Sie lehnt mit dem Rücken am Gemüsestand. Die Abstandsfrage war schon in der Alten Normalität recht heikel. Doch seit Corona verzeiht Elfriede in dieser Hinsicht keine Fehler mehr. Zu großen Abstand wertet sie als Unhöflichkeit, kommt man ihr zu nahe, vermittelt sie einem das Gefühl als bewege man sich in einer Grauzone zwischen Virusattacke und Sexualdelikt. Deshalb prüfe ich nach jedem Schritt sehr genau ihr Minenspiel und versuche mich so auszurichten, dass mir ihr strahlendes Lächeln ununterbrochen erhalten bleibt.
Als ich den optimalen Abstand unterschreite, dimmt Elfriede ihre Mimik sofort ein Stück herunter. Der Kontrast ist so deutlich, dass ich mich einen Moment lang vergesse und zum Scherz immer wieder einen Schritt vor- und zurückgehe: Lächeln hell, Lächeln dunkel, Lächeln hell, Lächeln dunkel — und so weiter. Ich bin mir sicher: Wäre jetzt ein Handwerker in unserer Nähe und würde den Abstand zwischen uns messen, käme er am hellsten Punkt ihres Minenspiels exakt auf eine Strecke von anderthalb Metern. Das war der Abstand, den Wissenschaftler in der Blütezeit von Elfriedes Leben für richtig befunden hatten, um die Ausbreitung von hochgefährlichen Krankheiten zu verhindern. Was waren das für Zeiten gewesen! Ewig wird Elfriede ihnen nachtrauern.
Einstweilen mustert sie mich mit strengem Blick. Sie stiert auf eine Ausbeulung an der Brusttasche meiner Jacke. Dort trage ich im Winter immer ein bis zwei Knoppers bei mir. Elfriede weiß das. Deshalb streckt sie ihren Zeigefinger aus und bohrt in die Beule, bis ich das Knuspern der Waffeln in der Plastikverpackung zu vernehmen meine. „Isst du immer noch diesen Dreck?“, fragt sie. „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass solches Zeug weder gesund noch klimafreundlich ist?“
Ich wische mir mit der Hand über die Brust, als wollte ich eine Fliege vertreiben. Weiteren Widerstand wage ich nicht. Schon jetzt schauen die Leute zu mir herüber, weil Elfriedes schrille Stimme die Luft zwischen uns zerschnitten hat. Also sage ich freundlich „Hallo“ und strecke der Guten die Hand entgegen. Sie aber rümpft die Nase und lässt ihren abschätzigen Blick weiter auf meiner Brusttasche ruhen. Um sie abzulenken, behaupte ich, ich würde gerade überlegen, ob ich mir einen Tesla bestellen soll.
„Einen Tesla?“, quietscht sie. „Du willst tatsächlich ein Produkt aus der Fabrik dieses Unmenschen Musk kaufen? Du weißt schon, dass das ein Rechter schlimmster Sorte ist? Er hat neulich sogar seinen rechten Arm ausgestreckt. Was meinst du wohl, was das bedeutet?“
Verlegen verschränke ich meine Hände auf dem Rücken und ziehe mit der rechten Fußspitze einen Kreis über den Boden. Wie sie das meine, nuschle ich mit gesenktem Haupt. Elektroautos seien doch eindeutig eine gute Sache. Und verreist wäre ich in diesem Jahr ja auch noch nicht. Da könne ich mir ja wohl einmal etwas gönnen und gleichzeitig etwas fürs Klima tun.
„Der Kampf gegen rechts steht über allem“, schimpft sie. „Denn im Rechten liegt das Böse. Und ohne das Recht ist alles gut.“
Ich stolpere über den zweiten Satz. Elfriede jetzt zu widersprechen, wäre gefährlich. Sie könnte mir auf dem Marktplatz eine solche Szene machen, dass mir in meiner Heimatstadt auf ewig ein Makel zurückbliebe. Also wiederhole ich ihr Mantra und bekenne mich mutig als Apostel gegen das Recht und alles Rechte. Ein zufriedenes Lächeln huscht über Elfriedes Gesicht. Während die Passanten an uns vorbeiziehen, hebt sie immer wieder ihre Hände, als wolle sie die Menschen segnen. Tatsächlich sind es Grüße, die sie mit ihrer Geste in die Welt schickt. Die Gegrüßten huschen rasch an ihr vorbei und ziehen das Genick ein — erleichtert, dass es diesmal nicht sie, sondern mich getroffen hat..
Ich gerate ins Grübeln. Wenn sich alle vor dem grausen, was Elfriede verkörpert — warum wagt dann keiner, ihr das ins Gesicht zu sagen? Warum kuschen wir vor dieser Frau, als hinge unsere Zukunft von ihr ab? Woher schöpft sie ihre Autorität und die Legitimation, uns mit ihrer Güte zu erdrosseln?
Während mir solche Fragen durch den Kopf gehen, sinkt meine Stimmung. Ich starre auf ihren Mund, aus dem tausend goldene Worte purzeln. Doch sie verpuffen vor meinen Ohren, weil sich in mir Gegendruck aufbaut. Dieser Gegendruck klatscht die Schallwellen aus ihrem Munde ab, bevor sie mein Gehirn erreichen. Am Ende sehe ich nur noch das vor mir, was ihre Worte eigentlich überspielen sollen.
Sie redet sich in Fahrt. Gerade echauffiert sie sich über die Leugner, die sich während der Coronazeit nicht haben spritzen lassen. „Zehntausende Tote haben die auf dem Gewissen“, poltert sie. „Sie sind genauso schlimm wie der Putin. Und jetzt sind sie auch noch seine Anhänger geworden. Was soll man auch erwarten von diesen rechten Horden? Wir müssen unsere Demokratie bis aufs Blut verteidigen. Wir dürfen uns das nicht von solchen Leuten vermasseln lassen“. Bei dem Wort „vermasseln“ rollt sie das „r“ so markant, dass es wie ein Schlag durch die Luft fährt. Überhaupt fallen die Konsonanten in ihren Schimpftiraden immer härter aus, als ob sie die Sätze in den Stein der Stadt ritzen wollte.
Mit Pupillen, die funkeln wie glühende Briketts, rudert sie mit den Armen und ballt ihre Fäuste. „Wenn wir nicht zum Kampf bereit sind, rollt der Russe über uns hinweg wie ein schauriges Gewitter!“, geifert sie.
„Wir müssen kämpfen — bis zum letzten Mann. Bis zur letzten Frau. Bis zur letzten Queerperson! Anders werden wir unsere Freiheit gegen die mordenden und brandschatzenden Kosaken aus dem Osten nicht verteidigen können…“
Unversehens hat sich ein Halbkreis aus Schaulustigen um uns gebildet, und alle Umstehenden lauschen Elfriedes Rede. Jedes Wort, das sie ausspuckt, wird von dem Kreis begierig aufgenommen. Einer der Zuhörer legt ergriffen seine Hand auf ein blaugelbes Schleifchen, das wie ein Orden auf seiner Brust prangt. Seine Augen werden feucht ob Elfriedes Ausführungen, die gerade vom Krieg gegen die Russen zum Krieg gegen den Klimawandel schwenken. Schon werden auch die jüngeren Zuhörer schwach und hängen an ihren Lippen wie Fliegen an einer Klebefalle.
„Nieder mit den Klimaleugnern und Querdenkfaschisten!“ poltert Elfriede.
Eine junge Frau aus dem Halbkreis packt ein paar Plüschhandschellen aus ihrer Handtasche und kettet sich am Gemüsestand fest. Als sich die Schließe in ihre Haut bohrt, stößt sie ein verzücktes „Ja“ aus. Die Menge fängt an zu jubeln und zu klatschen. Doch wenn ich in den Schatten hinter dem Halbkreis schaue, sehe ich vor allem verständnisloses Kopfschütteln und missmutige Blicke. Ich versuche, einen Schritt zurückzutreten und mich in den Halbkreis zu mogeln, damit es nicht so aussieht, als wäre ich Elfriedes emsigster Fürsprecher. Doch sogleich geht sie drohend hinter mir her und bohrt erneut ihren Finger in meine Brusttasche. Das Knoppers bricht, während sie mit hochrot angelaufenem Kopf auf mich einbrüllt. Scheinbar ist ihr meine Zwischenmahlzeit ein Dorn im Auge — der Tropfen, der ihr moralisches Fass zum Überlaufen bringt.
Sie bohrt jetzt so heftig, dass ich stolpere und mich gerade noch am Stand festhalten kann. Dabei stoße ich gegen jene Kiste mit gelben Melonen, von denen Elfriede sich zuvor eine gekauft hat. Ich stürze auf die Knie, während die Menge um mich tobt. Sie schimpfen jetzt alle auf mich ein, weil Elfriede in ihrem wütenden Eifer meine Verfehlung öffentlich gemacht hat.
„Knoppersfresser!“ schreit sie, „Klimaschädling! Umweltvernichter!“ Sie stemmt ihre Hände in die Hüften und beugt sich mit ihrem Oberkörper über mich. Ihre Blicke nehmen mich in den Fokus, als schaute sie auf eine Hornisse hinab, die sie am liebsten gleich zertreten würde — wenn nicht die Naturschutzgesetze dagegen sprächen.
Ich spüre, wie sich ein spitzer Kieselstein in meine linke Kniescheibe bohrt, will aufstehen, doch der Schmerz erschwert mir jede Bewegung. Eine der Passantinnen aus dem Schatten tritt durch den Halbkreis, hält mich am linken Unterarm und hilft mir hoch. Im selben Moment drillt Elfriede das obere Ende ihrer Melonentüte zu einem Griff, packt sie fest und schwenkt die Tüte in ihrer Rechten hin und her wie eine Hammerwerferin, die sich auf einen Abwurf vorbereitet. Die Melone liegt bleischwer in der Tüte, zwei Kilo Wasser und Fruchtfleisch, die bedrohlich an Elfriedes langem Arm baumeln. Plötzlich reißt sie die Tüte nach oben, holt aus und zieht mir die Melone mit einem wuchtigen Schlag über die Schläfe. „Knoppersfresser!“, ruft sie abermals, während beim Aufprall auf meinem Kopf der Boden der Papiertüte nachgibt. Die Melone kullert vor die Füße der Frau, die mir gerade aufgeholfen hat — im selben Moment verstummen die Anfeuerungen aus dem Kreis der Schaulustigen, als hätte jemand einen Knopf gedrückt.
Ich fasse mir verwundert an die Stirn und spüre, wie warmes Blut durch meine Finger rinnt. Als ich die Stille aus dem Kreis der Elfriede-Fans wahrnehme, schaue ich mich um, um herauszufinden, was die Menschen Verstummen ließ. Natürlich nehme ich an, ihre Aufmerksamkeit gälte mir, der ich blutig am Rande des Gemüsestandes liege. Vielleicht haben sie ja Mitleid mit mir und erkennen, dass Elfriede gerade die Grenze des guten Benehmens überschritten hat. Doch weit gefehlt. Sie starren alle mit offenen Mündern auf das Korpus Delicti, das vor den Füßen meiner Helferin zur Ruhe ausgerollt ist: eine Melone!
Einem Geistesblitz folgend, schaue ich noch einmal zu der Kiste, aus der Elfriede ihre Melone zuvor entnommen hat. Mit einem lauten Ratsch reiße ich das Schild mit der Warenbezeichnung von der Kiste, krame ein Taschentuch aus meiner Jacke und presse es mir gegen die Wunde. Elfriede hat inzwischen selbstzufrieden ihre Arme vor der Brust verschränkt. Von ihrem madonnenhaften Lächeln ist längst nichts mehr zu sehen. Stattdessen weidet sie sich an meiner Demütigung und scheint noch gar nicht bemerkt zu haben, dass die Stimmung im Halbkreis gekippt ist. Ich halte das Warenschild hoch, humpele den Halbkreis entlang und halte das Schild jedem einzelnen Zuschauer vors Gesicht. Die Minen der Anwesenden verfinstern sich. Nachdem ich meine Runde gemacht habe, starren alle mit fragenden und anklagenden Minen auf Elfriede. Sie bewahrt Fassung, als wäre kein Widerspruch groß genug, um sie in ihrer Rolle als Stadtheilige in Frage zu stellen. Um die Zweifler zu besänftigen, erwidert sie trotzig jeden kritischen Blick, worauf die Menschen im Halbkreis nacheinander schuldbewusst ihre Blicke senken.
Für mich ergibt sich dadurch endlich die Möglichkeit, mich unerkannt aus Elfriedes öffentlicher Darbietung zu schmuggeln. Also trete ich durch die Reihen ihrer Anhänger hindurch und mische mich unter die Unanständigen, die kopfschüttelnd an der Szenerie vorbeigehen. Das fühlt sich zwar an, als träte ich aus einer bunten Welt ins Schwarzweiß, doch mir ist es lieber, mich im Schatten zu bewegen, als mich im Licht der Wahrheit von einer Stadtheiligen sezieren zu lassen.
Als Nebengeräusch im Hintergrund höre ich, wie Elfriede gerade sagt: „Ich tue wenigstens etwas!“ und die Menge aus dem Halbkreis liturgisch wiederholt: „Sie tut wenigstens etwas!“
Das Schild „Honigmelonen, gelb, Herkunft: Costa Rica“ werfe ich in den nächsten Mülleimer. Nicht, weil ich mir dadurch die Achtung der Menge zurückkaufen möchte, sondern einfach, weil mich der Müll auf der Straße stören würde.

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