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Die katalonische Frage

Die katalonische Frage

Worum geht es in Katalonien wirklich? Und welche Geschichte hat der aktuelle Konflikt?

Katalonien: Vergangenheit und Zukunft
von Luke Stobart

Der Kampf um das Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober, das vom katalanischen Parlament ausgerufen, von Spaniens Oberstem Gericht aber verboten wurde, ist zu einer der dramatischsten europäischen Entwicklungen der letzten Jahre geworden.

Als Folge von Angriffen auf Wahllokale, die von Bürgern besetzt wurden, um die Durchführung der Wahl zu gewährleisten, wurden rund neunhundert Menschen von der Polizei verletzt – darunter viele ältere Menschen und ein Mann, der vermutlich ein Auge verlieren wird, nachdem er von einem verbotenen Gummigeschoss getroffen wurde. In Katalonien führte diese Gewalt zwei Tage später zu massenhafter Teilnahme an einem Generalstreik, der die meisten öffentlichen Verkehrsmittel, Bauernhöfe, Hafenanlagen, kleinere Läden und den öffentliche Sektor stilllegte – wenngleich der Umstand, dass die katalanische Regierung den dadurch verlorengegangenen Lohn subventionierte, dazu beigetragen haben dürfte. Dies war ein politischer Streik, wie wir ihn seit den Kämpfen gegen die Diktatur von General Francisco Franco nicht mehr gesehen haben.

In dieser Nacht erschien der König von Spanien, Felipe VI, auf Fernsehbildschirmen im ganzen Land und verlor kein Wort über die Opfer oder den Kummer auf katalanischer Seite. Stattdessen hat der neue Monarch, der seit der Abdankung seines Vaters im Jahr 2014 versucht, ein Bild der Dialogoffenheit zu vermitteln, die katalanische Regierung (Generalitat) dafür verurteilt, sich „außerhalb des Gesetzes“ zu stellen. Er versprach, dem Gesetz wieder Geltung zu verschaffen und dass Katalonien ein Teil Spaniens bleiben werde. Da erwartet wird, dass die katalanische Regierung in den nächsten Tagen eine einseitige Unabhängigkeitserklärung (spanisch: declaración unilateral de independencia – DUI) abgeben wird, ist davon auszugehen, dass die Rede darauf zielte, den Boden für eine neue Offensive und Eskalation zu ebnen.

Die Vorgeschichte zu den Konfrontationen vom 1. Oktober ist ebenfalls schockierend. Die Polizei verhaftete Regierungsbeamte und hielt sie über Nacht fest, beschlagnahmte Stimmzettel und für das Referendum benötigte Materialien, überfiel Druckereien und Zeitungen, übernahm die Kontrolle über Kommunikationszentren und Webseiten (die von Hackern in ganz Spanien wiedereröffnet wurden) und „wachte“ über beschlagnahmte Wahlurnen. Der Oberste Gerichtshof Spaniens stimmte sogar zu, Führer der Unabhängigkeitsbewegung – ebenso wie den katalanischen Polizeichef – wegen „Volksverhetzung“ vor Gericht zu stellen, drohte mit der Verhaftung von mehr als siebenhundert katalanischen Bürgermeistern und stellte deftige Bußgeldbescheide gegen die Mitglieder des von der Generalitat ernannten Referendumsgremiums aus, um dessen Zusammenbruch zu erzwingen.

Eine sich radikalisierende Bewegung

Die gravierendste Entwicklung war indes ein partieller Putsch gegen die katalanische Selbstverwaltung. Madrid behält die Mittel für die von der katalanischen Regierung verwalteten Dienste, einschließlich Gesundheit und Bildung, „auf unbestimmte Zeit“ ein und hat versucht, durch einen paramilitärischen Befehlshaber der Guardia Civil das Kommando über die katalanische Polizei „Mossos“ an sich zu reißen, die sich dem aber widersetzt hat. Dies erschwerte den Versuch, den zivilen Ungehorsam während des Referendums niederzuschlagen. (…)

Viele Menschen, darunter reichlich solche, die nicht an einer Unabhängigkeit interessiert sind, empfinden die schrittweise Usurpation und die Angriffe als unerträglich. Während des Streiks gegen die Unterdrückung durch die Polizei am 3. Oktober schwenkten zahlreiche Menschen, um ihrer Ablehnung der Unabhängigkeit zu demonstrieren, spanische Flaggen, die gleichzeitig mit Botschaften überzogen waren, die ihrer Abscheu gegen das undemokratische Vorgehen Ausdruck verliehen. Die Errichtung von Absperrungen durch Streikposten und Aktionen zur Besetzung und Verteidigung der Wahllokale – angeführt von Grassroots-Komitees zur Verteidigung der Volksabstimmung – haben moderate katalanische Nationalisten mit Radikalen zusammengebracht, darunter viele Anarchisten, die alle „Nationalismen“ als rückschrittlich betrachten. (…)

Die eskalierenden Ereignisse lassen dramatische historische Erinnerungen wieder hochkommen. In den 1970er Jahren gab es Okkupationen und Demonstrationen zur Wiedererlangung der katalanischen Selbstverwaltung mit beträchtlichen Teilnehmerzahlen. Zuvor war die katalanische Regierung gewaltsam gestürzt worden: 1939 von Franco, aber auch schon 1934 als Reaktion auf die Erklärung der Eigenstaatlichkeit und noch viel früher nach einer blutigen Belagerung Barcelonas (die 1714 endete). In den letzten Wochen hat Madrid einen Ausnahmezustand zur Anwendung gebracht, der ebenfalls Erinnerungen an eine autoritäre Geschichte wachruft, obwohl das Land nun eine konsolidierte „Demokratie“ (sowie eine der größten Volkswirtschaften der Welt) sein soll.

Ebenso bedeutsam wie die Unterdrückungsoffensive war die Massenbewegung, die ihr Widerstand leistete. Am Tag des Referendums wehrte die Bewegung – an manchen Orten mit der Hilfe von Feuerwehrmännern – die mit schwerem Gerät anrückende Bereitschaftspolizei mit friedlichem, aber bestimmtem zivilen Ungehorsam ab. Seit den ersten Verhaftungen am 20. September, befinden sich Studenten und Oberstufenschüler in einem „permanenten“ Streik, und es finden jeden Abend kollektive Protestaktionen in Wohngegenden statt. (…)

Das Hauptorganisationsgremium – die katalanische Nationalversammlung (katalanisch: Assemblea Nacional Catalana – ANC), gegründet im März 2012, – hat einen pluralistischen Ansatz gewählt, der sich fast ausschließlich auf das Ziel der Erlangung von Staatlichkeit beschränkt. Es hat keine ernstzunehmende Kampagne zur Aufnahme eines konstituierenden Prozesses beim Gang in die Unabhängigkeit gestartet (um eine „Republik der 99 Prozent“ durch einen Partizipationsprozess für die Massen mit sozialen Bewegungen wie der beeindruckenden PAH-Wohnungsbewegung zu erreichen). So spektakulär die Proteste der Unabhängigkeit auch waren, so wenig waren sie in der Lage, die ärmsten Schichten der Gesellschaft zu mobilisieren (im Gegensatz zu Podemos und den neuen kommunalen Koalitionen). (…)

In Carmel, einer armen Nachbarschaft von überwiegend nicht-spanischen und spanischen Einwandererfamilien, lag die Wahlbeteiligung am 1. Oktober bei nur 10 Prozent. Es gibt immer noch viele Anhänger der Arbeiterklasse – vor allem in Teilen des ehemaligen industriellen „roten Gürtels“ Barcelonas, die das Gefühl haben, die katalanische Unabhängigkeit könne nur die lokale Bourgeoisie stärken oder im besten Fall ihr Leben nur unwesentlich verbessern. Radikale Aktivisten haben jedoch recht, wenn sie schildern, wie die Repression dazu geführt hat, dass die Fronten zunehmend um die Verteidigung der Demokratie gegen die autoritäre Herrschaft und nicht um die kontroversere nationale Kluft herum abgesteckt werden. (…)

Viele Bürger im restlichen Teil von Spanien tendierten dazu, katalanischen Nationalbestrebungen ablehnend gegenüberzustehen. Einige konservativen Wähler wurden durch Rajoys „Verteidigung Spaniens“ mobilisiert, wie man es an den Wochenenden der nationalistischen Proteste (zu denen viele Teilnehmer mit Bussen nach Katalonien gebracht wurden) erlebt hat. Wenn jedoch die Regierung von Madrid angenommen hat, durch ihr Durchgreifen schlicht an Popularität zu gewinnen, so hat sie die Stimmung im Land vielleicht falsch eingeschätzt. Verschiedene Berichte deuten darauf hin, dass die Bilder von Polizisten, die Stimmzettel und Wahlurnen beschlagnahmten, vielen Spaniern übel aufgestoßen sind. Darüber hinaus erzielte der Staatsapparat das erste von mehreren Eigentoren, als er Treffen zur Unterstützung der katalanischen Selbstbestimmung außerhalb Kataloniens verbot: Die davon ausgehende Botschaft war, dass die Zensur und die Verbote, die unter Franco stattfanden, zurückgekehrt waren … und das nicht nur nach „Cataluña“.

Seit dem 20. September fanden in spanischen Städten Dutzende von Protestveranstaltungen zur Unterstützung der Selbstbestimmung in Katalonien statt. Am 1. Oktober war Madrids symbolische Puerta de Sol voller Menschen, die sich gegen die Polizeigewalt in Barcelona aussprachen. Solchen Proteste – genau wie die in Katalonien – weisen eine bemerkenswerte Präsenz der Generation auf, die gegen die Diktatur gekämpft hat. Es war bewegend, Demonstranten bei einer Protestveranstaltung in Madrid zu sehen, die das Lied „L'Estaca“ aus den 1970er Jahren anstimmten – ein Lied auf Katalanisch darüber, wie Zusammenhalt einen Diktator niederwerfen kann. Am vergangenen Samstag fanden große Kundgebungen in der Hauptstadt und in Barcelona statt, zu denen die Menschen weiße Kleidung und weiße Fahnen trugen und einen Dialog zwischen beiden Seiten forderten. Wenngleich der Protest die katalanische Unabhängigkeitsbewegung fälschlicherweise in gleichem Maße für den wachsenden Konflikt verantwortlich machte, war er doch auch eine Form des Protestes gegen die staatliche Gewalt in Katalonien. Keiner dieser Proteste bedeutet, dass die meisten Spanier mit der katalanischen Unabhängigkeit sympathisieren. Aber sie zeigen, dass die Opposition gegenüber der Repression in ganz Spanien zunimmt. (…)

Weil so viele Bereitschaftspolizisten aus ganz Spanien hergebracht wurden, waren in einigen Regionen nur noch wenige Polizisten vor Ort. Eine Gruppe von gewählten Vertretern von Podemos und assoziierten Organisationen, die in Saragossa zusammentraf (um, als Reaktion auf die sich zuspitzende Krise, erfolglos und in etwas theatralischer Weise zu versuchen, einen neuen politischen Dialog anzustoßen), wurde von hunderten von Faschisten umringt. Als die Gruppe verstärkten Polizeischutz forderte, teilte man ihr mit, dass die örtliche Polizei nicht verfügbar sei, da sie nach Katalonien geschickt worden sei. (Positiv zu vermerken ist, dass durch die geringe Polizeipräsenz in der Madrider Region eine Gruppe von Migranten aus einem Internierungslager entkommen konnte.) (…)

Die weitreichenden Anstrengungen, das Referendum zu stoppen, verdeutlichen, dass die 42 Prozent eingereichter Stimmen – ein Prozentsatz, der leicht erhöht werden sollte, um 294.000 ausgefüllte Stimmzettel zu berücksichtigen, die von der Polizei konfisziert wurden – mit ihrer 90-prozentigen Unterstützung für die Unabhängigkeit als Mandat für die Fortführung des Weges in die Staatlichkeit verstanden werden. Die Mitte-links-Koalition Junts pel Sí (Zusammen für ein Ja) und der antikapitalistische CUP fordern eine schnellstmögliche einseitige Erklärung der Unabhängigkeit. Offensichtlich leistet die Staatsgewalt der Bewegung für eine katalanische Demokratie eher Vorschub als sie zu bremsen.

Ist auch der katalanische Nationalismus ein Problem?

In Spanien (und in viel geringerem Maße auch in Katalonien) gibt es viele Linke, die den Autoritarismus des Staates entschieden ablehnen, aber auch dem katalanischen Nationalismus eine Mitschuld an der Krise zusprechen. Es gibt eine Vielzahl von Aspekten, die dazu führen könnten, diese Haltung zu übernehmen. Es ist jedoch klar, dass viele dies tun, weil sie das Zerrbild der katalanischen Bewegung als bürgerlich dominiert und in der Hauptsache daran interessiert, ihre relativ hohen Steuereinnahmen nicht mit anderen spanischen Regionen, den ärmeren Süden eingeschlossen, teilen zu müssen, akzeptieren.

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum diese Sichtweise abzulehnen ist. Erstens kommt die Unterstützung für die katalanische Staatlichkeit im Wesentlichen aus dem linken Lager, so jedenfalls ordneten sich 72 Prozent derjenigen, die die Bildung einer katalanischen Republik noch vor dem Sommer unterstützten, selbst ein (verglichen mit 40 Prozent der Katalanen, die „nein“ wählen würden). Umfragen deuten auch darauf hin, dass mehr als die Hälfte derjenigen, die die Unabhängigkeit unterstützen, dies hauptsächlich aufgrund des Wunsches tun, politische Änderungen herbeizuführen, die Kompetenzen lokalen Regierens zu erweitern oder weil sie sich „missverstanden“ fühlen - Gründe, die nicht gerade als reaktionär bezeichnet werden können. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass Minderheitensprachen und Identitäten in Spanien in den Medien fast nicht vorkommen und manchmal als verdächtig gelten. Vor einigen Jahren haben das Verfassungsgericht sowie die konservative Regierung auf den Balearen (ein Territorium, in dem eine katalanische Dialektik gesprochen wird) dem Schulsystem auferlegt, den Gebrauch katalanischer oder verwandter Dialekte im Schulsystem zurückzufahren. Es gibt wenig Toleranz gegenüber der katalanischen Sprache und Identität in einem einsprachigen Spanien. (…)

Auch ist die katalanische Rechte in der pro-katalanischen Politik in der Tat erheblich weniger hegemonial, als es scheint. Vor dem ersten Riesenprotest für eine Unabhängigkeit im September 2012 verfolgte Convergència (liberale Rechtsnationalisten) das recht begrenzte Ziel, größere fiskalische Befugnisse innerhalb des bestehenden territorialen Rahmens zu erlangen. Die Partei war sogar in einer langfristigen Koalition mit einer regionalistischen Partei – Unió – gewesen, die sich später aufgrund der Unabhängigkeitsbestrebungen auflöste. Es brauchte eine Million Menschen, die für die uneingeschränkte katalanische Staatlichkeit protestierten, bevor Convergència sich dieses Ziel zu eigen machte. (…)

Ein weiteres Zeichen für die progressive Natur der Unabhängigkeitsbestrebungen ist, dass die Linke, seitdem „der Prozess“ im Herbst 2012 begonnen hat, in der Wählergunst gestiegen ist. Die Mitte-links-Partei ERC ist zur populärsten pro-katalanischen Partei geworden. Auch die CUP – eine radikale Plattform, die durch jahrelangen lokalen Aktivismus entstanden ist – hat hoffnungsvolle zehn Regionalsitze im Jahr 2015 erhalten. Dieser Durchbruch machte die CUP zum Königsmacher der Junts-pel-Sí-Allianz bei der Bildung einer Minderheitsregierung. Ein großes Mitgliedertreffen der CUP im Dezember 2015 war bei der Frage ob der Austeritätsbefürworter Mas mit der Präsidentschaft beauftragt werden sollte, gespalten. Dies führte dazu, dass Mas von Carles Puigdemont als Präsident abgelöst wurde, ein Ereignis, das den spanischen Redakteur der Financial Times zu der Klage veranlasste, dass eine kleine Gruppe von Antikapitalisten über die Zukunft einer Nation entscheide.

Die neugewonnene Verhandlungsmacht der CUP (und ihr militanter Geist) ermöglichte es ihr auch, Junts Pel Si darauf zu verpflichten, das Referendum vom 1. Oktober zu organisieren und die Koalition unter Druck zu setzen, Gesetze zu verabschieden, die Zwangsräumungen verbieten, ein Grundeinkommen garantieren und Migranten-Haftanstalten verbieten würden. Egal, wo die Grenzen der pro-katalanischen Politik liegen mögen, es ist ausgeschlossen, den Prozess einfach als einen Rutsch nach rechts zu sehen. Wenn die spanische Rechte es „anti-System“-CUP-Aktivisten anlastet, dass das Referendum stattgefunden hat, dann ist das nicht völlig von der Hand zu weisen.

Die Causa Katalonien seit den 2000ern

Der unmittelbare Grund für den „Souveränitätsprozess“ Kataloniens ist, dass die Versuche, das Territorium wie eine Nation innerhalb des spanischen Staates zu behandeln und ihm eine dezentrale Macht zu gewähren, die mit der des Baskenlandes vergleichbar ist, in den 2000er Jahren blockiert wurden. Eine Reform des katalanischen Autonomiestatuts, das von der Dreiparteienregierung unter Führung der Sozialisten 2003 eingeleitet wurde, wurde 2006 in einem Referendum bestätigt, dann von der damals ebenfalls „sozialistischen“ Zentralregierung abgeändert, vom Kongress weiter gekürzt und 2010 massiv vom spanischen Verfassungsgericht beschnitten.

Dies geschah nach einer langwierigen Kampagne gegen das Statut durch die rechtsgerichtete Partido Popular (PP). Besonders irritierend für viele Katalanen war die Streichung eines Bezuges auf Katalonien als „Nation“. Ein Hauptslogan der Proteste gegen das Urteil war: „Wir sind eine Nation.“ Nach dieser Entwicklung gewann eine mögliche Unabhängigkeit (im Gegensatz zu einem Bundesstaat oder einer Autonomieregion) an Popularität.

Eine lokale Bewegung gruppierte sich 2009, als Aktivisten im Küstendorf Arenys de Mar ein symbolisches Referendum veranstalteten, bei dem die Gemeinde als unabhängig vom spanischen Staat erklärt wurde. Ähnliche Befragungen verbreiteten sich in den folgenden Jahren und trugen dazu bei, dass sich Graswurzelnetzwerke von Gemeinden und Aktivisten bildeten, die später Teil der größeren Bewegung werden sollten.

Parallel zu diesen Entwicklungen veröffentlichten pro-katalanische Wirtschaftsliberale das „ökonomische Plädoyer für die Unabhängigkeit“, wonach alle Katalanen in der Unabhängigkeit um acht Prozent reicher wären. Dessen Logik wurde in dem stumpfen und mittlerweile diskreditierten Slogan „Spanien beraubt uns“ zusammengefasst, der von Präsident Mas verteidigt wurde und dabei half neue Unabhängigkeitskonvertiten, die während der Rezession Spaniens finanziell litten, zu gewinnen.

Natürlich gab es genügend Fälle von wirtschaftlicher Diskriminierung gegen Katalonien, um die Behauptung, beraubt zu werden, vernünftig erscheinen zu lassen. In das Territorium sind – zum Beispiel in die Verkehrsinfrastruktur – geringere Investitionen geflossen als in andere, wirtschaftlich ähnliche Regionen. Als eine von der katalanischen Sparkasse La Caixa kontrollierte Energiefirma versuchte, große spanische Energiekonzerne zu übernehmen, behaupteten die PP und die spanischen Arbeitgeber, dass dies zu „übermäßiger“ wirtschaftlicher Konzentration in Barcelona führen würde. (…)

Einige Kommentatoren haben die katalanische Krise mit einer unzureichenden Reform des spanischen Staates und der rechten Politik während des Übergangs vom Faschismus erklärt. Wenn die PP-Regierung die Verfassung gegen das Referendum in Stellung bringt, so ist dies das Ergebnis einer Verhandlung, die von Francos Regime dominiert wurde. Die grundlegenden Strukturen der Polizei und der Armee wurden kaum verändert, etwas das zumindest teilweise die sichtbare Kameradschaft zwischen der Rechten und der Polizei während dieses Konflikts erklärt (einschließlich eines Fotos eines Polizisten, der einen faschistischen Gruß macht, und der Nationalpolizei, die auf Twitter ihre Unterstützung für eine rechte Demonstration gegen die Unabhängigkeit ausdrückt. (…)

Trotzdem können die gegenwärtigen staatlichen Handlungen nicht vollständig auf einen unreformierten Faschismus zurückgeführt werden. (…)

Gleichzeitig sollten wir fragen, ob der Regimekonsens zugunsten der Repression auch Wurzeln hat, die nicht spezifisch für die Iberische Halbinsel sind. Sicherlich möchte kein kapitalistischer Staat seine Macht geschwächt sehen. Solche Verluste schwächen zwangsläufig die relative globale Wettbewerbsfähigkeit eines Staates. Der Verlust Kataloniens wäre ein besonders herber Schlag, da es fast ein Fünftel des spanischen BIP beisteuert und in Bereichen wie Tourismus, Kultur und Sport in einer höheren Gewichtsklasse spielt. Darüber hinaus könnte die Abspaltung von Katalonien auch die Abspaltung anderer nationaler Minderheiten – insbesondere des wirtschaftlich bedeutenden Baskenlandes – fördern. Wenn wir das Gefühl eines psychologischen Verlusts hinzufügen, das die Eliten (und ein wichtiger Teil der Nichteliten) empfinden, wenn ihre „imaginäre Gemeinschaft“ beschnitten wird (besonders, wenn sie sie als eine einzige nationale Einheit wahrnehmen), war die Antwort Madrids vielleicht vorhersehbar. (…)

Katalonien hat eine lange Geschichte (das Königreich Katalonien war einer der ersten Feudalstaaten mit einer Verfassung noch vor der Magna Carta, Anmerkung des Übersetzers): manchmal stolz – seine wirtschaftliche, politische und demokratische Frühreife – und manchmal beschämend, etwa in Bezug auf den beträchtlichen Wohlstand, den es aus der Sklavenproduktion in Kuba hat. Der entscheidende Punkt ist, dass Ausdrücke seiner Nationalität, Autonomie und Unabhängigkeit viel ausgeprägter und häufiger waren, als allgemein außerhalb der Region bekannt ist, auch auf dem Rest der Iberischen Halbinsel.

Katalonien ist ein Produkt des Versagen Spaniens

Wenn wir jedoch ein nationales Bewusstsein als das Gefühl einer territorialen „Gemeinschaft“ verstehen, das in der Neuzeit entstand, als die Menschen häufiger mit Staaten in Kontakt kamen, ist es fragwürdig, von einer ungebrochenen tausendjährigen Geschichte Kataloniens und des katalanische Nationalbewusstseins zu sprechen. (…)

Um die katalanische Frage – ebenso wie andere „Nationalismen“ von Minderheiten innerhalb des spanischen Staates – bestmöglich zu verstehen, müssen wir uns in der Tat auf die Grenzen und Misserfolge des spanischen Nationalprojekts konzentrieren. Spanien fiel von der Position als durch seine Eroberung und Plünderung Amerikas größtes Imperium der Welt hinter andere Staaten in Westeuropa und Nordamerika zurück. (…)

Die Autonomie kehrte erst 1981 nach den ersten großen Protesten der demokratischen Ära nach Katalonien und in das Baskenland zurück. Entscheidend dabei war, dass das eingeführte Territorialmodell Spanien in siebzehn „autonome Gesellschaften“ unterteilte, was jedem ein Regionalparlament und Macht unterschiedlichen Ausmaßes zugestand. Einige dieser Gemeinschaften – zum Beispiel Kantabrien oder Madrid – basierten nicht auf einer Geschichte territorialer Identität. Es ging einzig darum, baskische, katalanische und galizische Identitäten zu verwässern und zu neutralisieren. (…)

Insgesamt lässt sich in der gesamten modernen Geschichte Kataloniens ein allgemeines Muster erkennen: Anstatt das katalanische Nationalbewusstsein als ständiges Streben nach Schaffung oder Entwicklung eines nationalen Bewusstseins zu betrachten, ist es eine vielseitigere Reaktion auf die politischen und sozialen Grenzen des Projekts eines spanischen Nationalstaates. Der moderne Katalanismus war nie eine Arbeiterbewegung mit sozialistischer Dynamik, aber er war oft eine Form des Klassenkampfes, in dem die von der politischen Macht ausgeschlossenen Klassen – meistens die Mittelklasse –, die herrschenden Eliten herausforderten. Die Zeit seit der Diktatur stellt jedoch eine teilweise Ausnahme dar, da die katalanischen Arbeitgeber und ihre politischen Vertreter vom Zentralstaat kaum diskriminiert wurden und dennoch eine bedeutende Rolle im Katalanismus spielten. (…)

Eine solche Analyse würde nahelegen, dass der Versuch von Podemos, „progressiven Patriotismus“ mit einer Verteidigung des „plurinationalen“ Staates zu verbinden, nur begrenzte Erfolgsaussichten hat – auch in dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Partei bald eine Machtposition erreichen könnte, aus der heraus sie ihre Ideen verwirklichen könnte. Das weitaus wahrscheinlichere Ergebnis der gegenwärtigen Krise wird sein, dass Katalonien sich abspaltet oder Madrid versucht, das zu zerstören, was von seiner Autonomie übrig ist.

Manche Katalanisten würden es ablehnen, ihr politisches Projekt eher als das Ergebnis äußerer denn als innerer Ereignisse zu sehen. Sie könnten es sogar so verstehen, dass ein solcher reaktiver Katalanismus das Plädoyer für einen katalanischen Staat untergräbt. Doch muss die Frage gestellt werden: Warum ist der Wunsch nach einer katalanischen und baskischen Nation nur auf den spanischen Seiten dieser historischen Gebiete als Massenbewegung entstanden? Die offensichtliche Antwort ist, dass der französische Staat weitaus erfolgreicher war, Menschen dazu zu bringen, sich französisch zu „fühlen“. Auf der spanischen Seite haben sich diejenigen Mechanismen, die Menschen an ein Staatswesen binden, spät entwickelt und waren schwach.

Zum Beispiel wurde ein nationales Bildungssystem erst im späten 19. Jahrhundert geschaffen. Umfragen aus den 2000er Jahren deuten darauf hin, dass die Identifikation mit der spanischen Nation noch immer relativ schwach ist und interessanterweise im einsprachigen Gebiet der Extremadura sogar noch schwächer als in Katalonien. Das was den Katalanismus zu einem möglichen Weg hin zu einer neuen emanzipatorischen Politik macht, ist, dass darin ein Element politischer und sozialer Kritik enthalten ist, das seinem Kampf um Aufmerksamkeit ein emanzipatorisches Potential verleiht. Er wird daher notwendigerweise als Beleidigung bestehender Mächte angesehen, die darauf reagieren, indem sie ihre antidemokratische und gewalttätige Natur offenbaren.

Dennoch gibt es zwei Seelen in der Souveränitätsbewegung und auch für die progressive muss gekämpft werden, um die konservative zu überwinden – dies erkennt neben anderen auch die CUP an. Dies erfordert Klassenpolitik und -strategie sowie eine ehrliche Auseinandersetzung über die Grenzen nationaler Projekte. Es bedeutet, Wege zu finden, sicherzustellen, dass ein Bruch mit Spanien im Interesse der arbeitenden Bevölkerung liegt. Der Vorschlag der katalanischen Linken, einen konstituierenden Prozess zur Schaffung eines neuen politischen und sozialen Rahmens durch Massenbeteiligung einzuleiten, könnte dazu beitragen, in diese Richtung vorzudringen. (…)


Luke Stobart lehrt politische Ökonomie am Birkbeck College in London. Er schreibt über die neuen sozialen Bewegungen und Politik in Spanien und erforscht Einwanderungsfragen in Katalonien und Europa. Er hat an Bewegungen zur globalen Gerechtigkeit (Global-Justice), der Antikriegsbewegung und der Indignados-Bewegung in Barcelona teilgenommen.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Catalonia: Past and Future“ beim Jacobin Magazine. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektorats lektoriert.


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