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Die Kraft der Wehrlosen

Die Kraft der Wehrlosen

Jürgen Fliege würdigt den verstorbenen Clemens Arvay durch einen Vergleich mit jener Lebensform, die der Naturforscher besonders liebte: Bäume.

Lieber Clemens, ich bin einer von wohl Hunderttausenden, die dir nie begegnet sind und die sich dir jetzt doch so nahe fühlen, dass es weh tut in unseren Herzen, von deinem Sterben zu hören.

Ich weiß nicht, wie weit eine Menschenseele schon gereist sein muss, um uns, die wir um dich trauern, noch wahrzunehmen? Ich weiß aber, dass man in den ersten vierzig Tagen nach einem Reiseantritt und dem Einsetzen der Trauer immer wieder auch das Gefühl hat, dass der, der gegangen ist, noch nicht weit ist — oft sogar ganz nah! In diesen Erscheinungen stehst du weniger deutlich vor uns wie im Fernsehen oder in deinen Büchern.

Eher schaust du in mancher Nacht über unsere Schulter, hinter unserem Rücken, dort, wo die Maler immer den personifizierten Tod eines sterbenden oder gestorbenen Menschen verorten. Und mit dieser alten Erfahrung, dass du noch bei uns bist, bin ich dir nah und schreibe und schicke dir ein paar Worte hinterher. Es ist sozusagen nachgetragene Liebe. Denn so wir unser Herz mit Wut und Hass über den Tod eines gefürchteten Menschen füllen können, so können wir es auch mit Liebe auffüllen für die, die wir geschätzt und bewundert hatten wie dich.

In den Worten unserer Sprache, die im Grunde die Lebenserfahrung und Weisheiten unserer Vorfahren in sich trägt, schreib ich dir einen Nachruf. Und den rufe ich dir, lieber Clemens Arvay, auf deiner Reise ja gleichsam in deinen Rücken. Der Rücken eines Menschen ist sein verletzlichster und ungeschütztester Körperteil.

Da flattert das Lindenblatt dem Siegfried zwischen die Schulterblätter und macht ihn verletzlich. Da kann er noch so ein Held sein, wie du einer warst. Und von dort, von hinten, aus der Deckung, aus dem Dunkel stechen die Jäger aller Zeiten zu, um ihr Jagdopfer zu töten. Das weiß jeder Jäger, jeder Hagen von Tronje und jeder Machtpolitiker, jeder Gossenjournalist auch, der seine Gegner zu Fall bringen will. Sag deinem Opfer nur etwas Dunkles, Dreckiges nach, wirf es ihm aus der Anonymität, aus dem Schutz der Menge hinterher, die es sich mit ihrer Einheitsmenge bequem gemacht hat. Das ist die Situation, in der er sich nicht wehren kann, und er bleibt früher oder später auf der (Jagd)strecke. Ach Clemens!

Unser Rücken also ist die Antenne unserer Seele für Verletzungen, Traumata und Todesangst. Und deswegen gibt es überhaupt Nachrufe.

Weißt du Clemens, solche Nachrufe in den Rücken von Reisenden können immer zwei Funktionen haben. Die erste kennen wir alle nur allzu gut: Ach kehr doch um, du lieber Mann, Vater, Kind und Leidensgenosse. Naturkind, Lauscher des Lebens und Gotteskind — Kehr doch um! In vielen durchweinten Nächten ist dieser Ruf zu hören.

Weißt du was Clemens, ich schreibe es deiner Familie, dass es uns mit solchem Schmerz auch nicht anders geht als unseren Apfelbäumen. Es waren ja auch die Bäume, die du uns immer als die ältesten und erfahrensten Geschwister der Schöpfung vorgestellt hast, als die großen Lehrer und Tröster der Menschen. Du hast so Recht! Und jetzt hat das Leben die Säge unvermittelt angesetzt und hat uns die Krone genommen. Und wir werden bluten und zu Tode betrübt sein wie ein Baum am Boden und dann wieder aus unseren Wurzeln, hoffend, junge Trauertriebe in den Himmel wachsen lassen.

Angsttriebe bringen keine schnellen Früchte — bei den Bäumen nicht und auch nicht bei uns. Auch Trauer muss reifen. Wie alles. Wachsen, reifen und vergehen.

Und ein Jahr oder auch zwei gehen wie bei den Bäumen bei uns ins Land, bis auch wir an unseren ehemaligen Angsttrieben neue Blüten und dann auch Früchte sehen. Ja, der Schmerz, der uns übermannt und dich nicht gerne reisen lassen will: Er ist ein Teil dieser Erde, er kommt und vergeht. Er hat und braucht seine Zeit.

Aber es gibt auch einen anderen Nachruf. Und zu dem sind wir hier in unseren Ländern, die deine Sprache sprechen, wie ein Chor zusammengetreten, um ihn dir nachzurufen, damit er in aller Ewigkeit nachhallt.

Wir stehen hinter dir, dem empfindsamen und da und dort sicher auch gekränkten und kranken Mann! Ja, wer denn sonst forscht und arbeitet an den Heilkräften, Resilienzen und Resonanzen in der Natur, wenn dies nicht auch sein eigenes seelisches Lebens-Thema wäre? Dies hast du schon vor den Coronajahren getan, und es wird, wie wir sehen werden, darüber hinaus Bestand haben. Wir stehen hinter dir, weit hinter dir irgendwo in dem langen internationalen Trauerzug und rufen dir nach, dass du dein Lebenswerk mit bewundernswerter Konsequenz erfüllt hast. Die Gabe deiner Empfindsamkeit wurde zu deiner Aufgabe. Auch für uns! Das ist es ja, was dem Leben erst Sinn gibt: Dass auch noch der kleinste Teil der Schöpfung sein Leben für das Ganze lebt.

Spirituell gesprochen, lieber Clemens, segnen wir dich: Wir sprechen Gutes in deinen Rücken. „Benedicere“ heißt es ja in der lateinischen Liturgie. Gut sprechen, segnen. Wir zielen damit auf das Lindenblatt, das nicht weit von deinem Herzen ist. Musst dich also nicht umdrehen! Wir stehen hinter dir. Alles wird gut. Geh deinen ewigen Weg, wie du ihn auf deiner Mutter Erde gegangen bist: geradeaus und in Ehrfurcht vor allem, was lebt in Ewigkeit und immer schon gelebt hat.

Und zum Zeichen unserer Liebe, unserer Verbundenheit und unseres Dankes werden wir überall in Europa, wo man dich kennt, in diesem Frühling Bäume pflanzen, die heimlich deinen Namen tragen. Ich sehe uns schon mit Spaten und Harke in unsere Gärten und Wiesen und Wälder ziehen. Überall! Diese Vision rührt mich so sehr, wie dein Tod mich rührt. Weißt du Clemens, da und dort werden es Apfelbäume sein, der heimlichen Sorte „Clemens Arvay“, die früh reifen. Und sogar weit draußen im Atlantik, auf den Kanarischen Inseln, pflanzen sie jetzt schon Olivenbäume für dich! Extra vergine Arvay!


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