Zum Inhalt:
Die Massenarmut

Die Massenarmut

Ein Obdachloser aus Berlin erklärt im Rubikon-Videointerview: „Unsere Gesellschaft ist so aufgebaut, dass man bescheißen muss.“

2013 nehme ich Carsten zum ersten Mal wahr. Bei Wind und Wetter sitzt er in Berlin am Savignyplatz wie viele andere Obdachlose auch, aber er fällt mir dadurch auf, dass er Bücher liest. Wenn ich in Berlin auf Tournee bin, wohne ich in einem Hotel ganz in der Nähe des Savignyplatzes und fahre ab und zu mit der S7 Richtung Hackescher Markt, um dort, in den zahlreichen Cafés, meinen Vormittag zu verbringen. Immer wieder gehe ich an Carsten vorbei, immer wieder spüre ich, dass er anders ist als andere Obdachlose, die auf der Straße leben.

Ab und zu stecke ich ihm einen kleinen Geldbetrag in seinen Becher, wir lächeln und nicken uns zu, wir haben Sympathie füreinander und aus purer Neugier beginne ich, ihn immer wieder mal in kleine Gespräche zu verwickeln. Offen und ehrlich gibt Carsten mir Auskunft, dass er freiwillig auf der Straße lebt, dass er die empathielose, kalte Ellenbogen-Gesellschaft irgendwann nicht mehr ertragen konnte und das Leben auf der Straße ihm noch die Freiheit lasse, Mensch sein zu dürfen, wenn auch aus meiner Perspektive gesehen unter völlig menschenunwürdigen Bedingungen.

Aber Carsten beklagt sich nicht, ganz im Gegenteil, er macht auf mich einen sehr klaren, zufriedenen, nahezu spirituellen Eindruck und wirkt ganz und gar nicht als ein Opfer, das an seiner Armut zugrunde geht.

Eines ist mir an dieser Stelle wichtig zu betonen, es liegt mir fern, Armut zu bagatellisieren, im Gegenteil, es erschreckt mich zunehmend auf meinen Tourneen durch Deutschland, wie viele Menschen in einem der reichsten Länder der Erde so jämmerlich zugrunde gehen.

Auf Carsten trifft das aber nicht zu. Als ich ihn jetzt Mitte Dezember wieder auf seinem Stammplatz sitzen sehe, frage ich ihn nach einem persönlichen Video-Interview und wir verabreden uns für den nächsten Tag. Herausgekommen ist ein sehr berührendes Gespräch mit einem Mann, über dessen Worte es sich besonders jetzt zur Weihnachtszeit mehr als nachzudenken lohnt.



Finden Sie Artikel wie diesen wichtig?
Dann unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende.

Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem kleinen Dauerauftrag oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder unterstützen Sie uns durch den Kauf eines Artikels aus unserer Manova-Kollektion .

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.

Weiterlesen

Der Homo Token
Thematisch verwandter Artikel

Der Homo Token

In der „Truman Show“ sprechen Flavio von Witzleben und Tom-Oliver Regenauer über die digitale Erfassung des Planeten samt seiner Lebewesen sowie über den Einzug der KI in die Schulen, um Kindern von klein auf Systemtreue einzutrichtern.

Die Waffenstillstandlüge
Aktueller Artikel

Die Waffenstillstandlüge

Trumps „Friedensplan“ ist zum Scheitern verurteilt. Noch nie hat sich ein Volk mit dauerhafter Knechtschaft und Unterdrückung abgefunden. Die Palästinenser werden da keine Ausnahme bilden.

Unnötiges Misstrauen
Aus dem Archiv

Unnötiges Misstrauen

Die Mainstreammedien haben uns oft belogen — dass die Situation unseres Ökosystems brenzlig ist, bleibt dennoch wahr.