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Die Schönheit in der Krise

Die Schönheit in der Krise

In einer Zeit der zunehmenden Vergröberung des politischen Diskurses ist es nötig, wieder mehr Feinsinnigkeit zu wagen.

Das Geheimnis der Optimisten

Unsere Welt ist oberflächlich und banal geworden. Jeder Anflug von Mystik, von Erhabenheit und von Feinsinnigkeit wird umgehend totgeschlagen, und das bereits in unseren eigenen Gedanken und Empfindungen. Idealismus: etwas für naive Menschen. Religiosität: etwas für ungebildete Menschen. Mitgefühl: etwas für Masochisten. Schönheit: etwas für Traumtänzer, die die simplen Gleichungen, die physikalischen Gesetzmäßigkeiten und die biochemischen Vorgänge nicht kennen, die das Empfinden von Schönheit erzeugen. Und das doch nur in uns, in unserer Wahrnehmung, in unserer Vorstellung, in unserer Einbildung. Denn „dort draußen“ existiert keine Schönheit. Nichts ist an sich schön, nichts ist aus sich selbst heraus schön. Das gibt es nicht, und wer das doch glaubt, der weiß halt nichts. Damit ist das Thema Schönheit für viele beendet.

Die Wirklichkeit zeichnet jedoch ein ganz anderes Bild. Wenn wir uns nur einen Tag lang selbst aufmerksam beobachten, können wir sehen, wie ergreifend und berührend die Schönheit ist, sobald sie uns „dort draußen“ jäh begegnet. Ein zufälliger Blick auf eine Rose am Wegesrand erzeugt ein flüchtiges, aber sehr tiefes Wohlgefühl, und wenn man dann auch noch so geistesgegenwärtig und vernünftig ist, um an der Rose zu schnuppern, wird unser ganzes Wesen von jetzt auf gleich von einer stillen Freude ergriffen.

Das Lächeln eines Kindes erfüllt uns mit derselben Freude. Der anstimmende Chor in einer Symphonie beschert uns einen Schauder. Die Farbenpracht des Blätterwaldes im Herbst ist ein Genuss für das Auge. Das saftige Grün des Sommers, diese reiche Fülle der Natur, bereichert unsere Gesundheit und unsere Stimmung. Ein liebevolles Wort erhebt unser ganzes Wesen — und das geschieht immer, ganz gleich, wie es uns zuvor ging.

Das Geheimnis der Optimisten liegt nicht darin, dass sie etwas Schönes sehen beziehungsweise empfinden, was nicht da wäre. Ihr Geheimnis ist sehr viel tiefgründiger. Es offenbart sich unter anderem, wenn man das Wort „schön“ näher betrachtet.

Schönheit schauen

„Schön“ gehört zur Wortgruppe von „schauen“ und bedeutete ursprünglich „ansehnlich; das, was gesehen wird“. Schön kommt also nicht ohne schauen aus, wenn man es richtig verstehen will. Also schauen wir auch unter „schauen“ nach: Schauen ist laut Wortherkunft nicht automatisch synonym mit „sehen“, auch wenn es landläufig so verwendet wird. Schauen bedeutet weit mehr, nämlich das absichtliche Blicken oder Beobachten und — in gehobener Sprache — sogar das innere, geistige Sehen (1).

Das heißt, Schönheit ist abhängig vom „gerichteten“ Schauen, gerichtet in der Hinsicht, dass es von einer Absicht begleitet wird. Die Absicht liegt natürlich darin, einen Sinn für die Schönheit entwickeln zu wollen, mit Betonung auf wollen. Man muss wollen können, wie Kant sagen würde. Schönheit ist das, was gesehen wird, sie ist „an-sehn-lich“. Um sie mit den physischen Augen sehen zu können, muss man das Schauen schulen. Das Schauen wiederum ist ein inneres, geistiges Sehen, also etwas, das in uns geschieht.

Insofern stimmt es: Schönheit empfinden wir in uns — das haben Empfindungen so an sich. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit, wie wir jetzt erkennen. Denn wir brauchen auch den äußeren Gegenstand, der durch seine ihm eigene Schönheit unser uns innewohnendes Schönheitsempfinden anspricht. Wäre es nicht so, bräuchten wir nicht Ausschau nach Schönheit zu halten und würden nicht von der äußeren Schönheit angesprochen werden.

Mit anderen Worten, es braucht einen Sinn, damit man Schönheit erkennen kann. Einen feinen Sinn, einen Feinsinn: Feinsinnigkeit.

Jetzt, in dieser weltweiten Krise, haben wir also einen starken Verbündeten: die Schönheit. Sie wird verkannt und nicht mehr erkannt, befindet sich in einer Notlage, und auch viele von uns befinden sich in einer solchen. Wenn wir uns mit der Schönheit zusammentun, das absichtliche Schauen schulen und Schönheit „dort draußen“ wiederfinden, erwecken wir sie gleichzeitig in uns zum Leben. Sie wird unsere Aufmerksamkeit neu ausrichten, unsere Wahrnehmung von Grund auf verändern, und man muss schon zugeben: Es ist ein erhabenes und erhebendes Gefühl, selbst in der größten Zwangslage zu schönen Empfindungen fähig zu sein. Oder etwa nicht?

„Die Blume vergeht, aber die Schönheit bleibt“

Es wird sogar noch besser. Wer die Schönheit bald überall und ohne Anstrengung erkennt, findet hinter der äußeren Erscheinung eine unendliche, ewige Schönheit. „Die Blume vergeht, aber die Schönheit bleibt“, schrieb schon Hans Scholl von der Kriegsfront in Russland an seine Mutter und an seine Schwester (2). Die Schönheit bleibt natürlich in uns bestehen, und wieder stimmt es: Schönheit empfinden wir in uns. Aber auch diesmal ist es nur zur Hälfte wahr, denn sie ist eben auch subtil überall gegenwärtig, in jedem Moment, in jedem Herzschlag, in jedem Atemzug. Unsere kultivierte Feinsinnigkeit wird es uns ermöglichen, sie unter allen Umständen und in jeder Situation schauen zu können.

Bei Menschen, die beispielsweise das Lachen und Rufen von spielenden Kindern als belästigenden Krach empfinden und darin nicht die Schönheit erkennen, sehen jetzt wir den Fehler in der Wahrnehmung: Sie sind auf irgendeine Art und Weise ver-rückt, ihre Wahrnehmung ist vom Normalzustand ver- oder abgerückt. Menschen wiederum, die auf diese Ver-rückten losgehen und gar mit ihnen zu streiten beginnen, müssen noch verrückter sein. Die Kinder vor dem Verrückten beschützen? Ja. Über den Verrückten herfallen und ihn seinerseits beschimpfen? Sinnlos. Dieses Beispiel darf man gern auf aktuelle Geschehnisse übertragen, denn am Grad der Auseinandersetzung, den man mit anderen eingeht oder der im eigenen Gefühls- und Gedankenleben vorherrscht, lässt sich gut ablesen, wie viel Schönheit man zu schauen imstande ist.

Apropos Schönheit: Jemand behauptete einmal, die Schönheit käme nie allein daher. Dieser Jemand postulierte, zur Schönheit würden auch das Wahre und das Gute gehören, so wie der Ast und das Blatt zum Baum. Wenn es schon erhebend und erhaben ist, in den schrecklichsten Momenten zu schönen, feinen Empfindungen fähig zu sein, wie schön muss es dann sein, wenn das auch noch gut und wahr ist?!

Lasst uns mehr Feinsinnigkeit wagen — jetzt erst recht!


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Duden Band 7: „Etymologie“. Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 1989. S. 647 und S. 622f.
(2) http://www.kultour-innovativ.de/Schoen.pdf


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