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Die überfällige Revolution

Die überfällige Revolution

Unabhängige Medien sind unabdingbar — heute mehr denn je.

Der Titel dieses Beitrags stammt von Rubikon-Herausgeber Jens Wernicke. Es war zunächst nur ein Vorschlag, natürlich, aber jeder, der schreibt, weiß, was mit solchen Vorschlägen passiert. Sie entwickeln einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Revolution! Unabhängigkeit! Freiheit! Das passt zu Stil und Botschaft dieses Portals — auch oder gerade weil wir ahnen, wie schwer es ist, solche Versprechen Wirklichkeit werden zu lassen. Ist der Rubikon „frei“? Hängt das Portal nicht von den Menschen ab, die es machen, und vielleicht noch mehr von denen, die es unterstützen?

Ist der Rubikon, um dies zuzuspitzen, nicht sogar gezwungen, zur Antithese eines Journalismus zu werden, der im Moment eher wie die PR-Abteilung von Regierungen, Parteien, Konzernen zu arbeiten scheint?

Was würde aus diesem Portal werden, wenn die großen Redaktionen plötzlich wieder ihren Job machen? Wenn sie den Auftrag der Öffentlichkeit erfüllen (1) und ganz unaufgeregt und ohne Wertung alles liefern, was wir brauchen, um zu handeln, zu wählen, zu entscheiden? Würde dann noch jemand für ein Portal wie Rubikon schreiben oder spenden? Zusammengefasst: Gibt es überhaupt „unabhängige Medien“?

Mir hat die Überschrift von Jens Wernicke trotzdem gefallen, weil ich so über Walter Lippmann schreiben und dabei gleich für einen der Gedankengänge werben kann, die mein neues Buch tragen. Das Rubikon-Publikum kennt diesen Lippmann wahrscheinlich als „Vordenker am Beginn des amerikanischen Imperiums“ (Paul Schreyer) oder als Vater des Neoliberalismus (2). Was will ich von einem Mann, der zum innersten Zirkel um US-Präsident Thomas Woodrow Wilson gehörte und später von einer Regierung der Experten träumte, von einer Gesellschaft, in der Männer wie er die große Herde führen?

Es gibt einen zweiten Walter Lippmann, etwas jünger, geschockt von dem, was er gerade auf den Schlachtfeldern Europas gesehen hat und bei den Friedensverhandlungen von Paris. Die „Krise der westlichen Demokratie“, schreibt dieser junge Walter Lippmann schon vor über einhundert Jahren, ist „eine Krise des Journalismus“.

Sein Argument: Jede Regierung braucht Zustimmung und lässt sich dabei von den „Nachrichten“ leiten. Diese „Nachrichten“ aber werden von Medieneigentümern bestimmt, von „Propaganda“ und „Interessengruppen“ verstümmelt und zudem noch von den „Konventionen“ beeinflusst, die in einer ganz bestimmten „gesellschaftlichen Gruppe vorherrschen“. Das Milieu, das die Redaktionen füttert, ist zugleich ihre beste Kundschaft — bis heute.

Walter Lippmann lässt an Reportern und Redakteuren — damals tatsächlich fast ausschließlich Männer — kein gutes Haar. Sein Urteil, unterfüttert mit dem, was die Zeitungsleser in den USA von den militärischen Kämpfen in Europa und aus den Verhandlungsräumen erfahren haben: oft unfähig, nicht ausreichend gebildet und „überwiegend“ der Überzeugung, dass „ihre höchste Pflicht“ nicht der Bericht sei, sondern die Belehrung sowie der Auftrag, „die Zivilisation zu retten“ und „die Nation auf Kurs zu halten“ (3). Kurz: Wir müssen den Journalismus anders organisieren, wenn wir wirklich Demokratie haben wollen.

Bevor das in konkrete Vorschläge mündet, geht der junge Walter Lippmann einen Umweg über den Begriff der Freiheit und damit dorthin, wo Jens Wernicke diesen Beitrag gerne haben wollte. Zu diesem Umweg gehört eine Absage an die „klassische Freiheitsdoktrin“ — eine Absage an John Milton, John Stuart Mill und Bertrand Russell.

Walter Lippmann: Selbst das „edelste Plädoyer für die Freiheit, das die englische Sprache kennt“, liefert Argumente für die „Inquisition“, weil es im „Kern“ eines jeden dieser klassischen Freiheitskonzepte immer um „Gleichgültigkeit“ gehe. Um dies zu verstehen, genügt es hier vielleicht, John Stuart Mill zu zitieren: „Soweit muss die individuelle Freiheit begrenzt werden, dass niemand anderen Menschen Schaden zufügen darf“ (4).

Seit dem Krieg gegen ein Virus wissen wir, dass es nicht weit her ist mit einer Freiheit, die diesem Theoretiker folgt.

Mit der Gleichgültigkeit ist es schlagartig vorbei, sobald eine Krise kommt. Anderthalb Meter Abstand und eine Maske, bitte, weil du den anderen sonst eine tödliche Krankheit bringen könntest — völlig egal, ob du das glaubst oder nicht.

Walter Lippmann: „Fragen von Eigentum, Regierung, Wehrpflicht, Besteuerung“ oder Kriegsursachen „werden auf diesem Planeten niemals als gleichgültig toleriert oder unangetastet bleiben, ganz gleich, wie viele edle Argumente für die Freiheit vorgebracht werden oder wie viele Märtyrer dafür ihr Leben opfern“ — vor allem dann nicht, wenn sich eine Gesellschaft „bedroht fühlt. Und steht eine Revolution bevor, so wird die Jagd auf Ketzer gar zu einer respektablen Beschäftigung.

Mit anderen Worten: Wenn die Leute keine Angst haben, haben sie auch keine Angst vor Ideen; haben sie jedoch Angst, so breitet sich diese auf alles aus, was aufrührerisch erscheint oder auch nur damit in Zusammenhang gebracht werden kann“ (5).

Walter Lippmann geht es so kurz nach einem echten Krieg folgerichtig nicht um Meinungsfreiheit, sondern um die „Quellen“, um den „Schutz vor Propaganda“, um „Beweisstandards“, um „Kriterien der Schwerpunktsetzung“ (6).

Mit Hannah Arendt gesprochen: Es geht ihm um einen Journalismus, der „Tatsachenwahrheiten“ zur Richtschnur seines Handelns macht — das, was der Mensch nicht ändern kann (7). Erst die Information über die Tatsachen, aus möglichst vielen Blickwinkeln, versteht sich, und dann die Meinungen. Walter Lippmann besetzt den Begriff deshalb neu. Freiheit ist bei ihm alles, was „den Wahrheitsgehalt der Informationen, die unser Handeln bestimmen“, schützt und steigert (8).

Diese Definition führt zurück zur Überschrift dieses Beitrags, weil Walter Lippmann daraus Vorschläge für eine Medienrevolution ableitet und für die Ausbildung von Journalisten. Ich weiß, dass dieser Link für Kenner der Ideengeschichte geradezu grotesk wirken muss. Der Walter Lippmann von 1920 ist aber noch nicht der Zyniker der Macht, der ganz ruhig beschreiben kann, wie die Nachrichten „arrangiert“ werden (9), und damit einen Propaganda-Lobbyisten wie Edward Bernays inspiriert, die Manipulation der Massen zu einer Kunst zu verklären und zu einer unumgänglichen Herrschaftstechnik (10).

Der junge Lippmann nimmt die Versprechen Demokratie und Frieden ernst. Was er daraus für den Journalismus ableitet, liest sich auch ein Jahrhundert später noch wie eine Gebrauchsanweisung für die Zukunft. In Schlagworten: Das „Verlagsgeschäft unter größere gesellschaftliche Kontrolle“ bringen. Einen „großen unabhängigen Journalismus schaffen, der Maßstäbe für den kommerziellen Journalismus setzt“. Diplome von Journalistenschulen „zu einer notwendigen Voraussetzung für die Praxis der Berichterstattung“ machen. Neue Standards für Qualität etablieren — etwa: „auf Teufel komm raus die Wahrheit“ sagen oder Transparenz bei Quellen und Urhebern.

Dieser junge Walter Lippmann weiß auch, worum es in den Medienschulen gehen müsste — um Reflexion vor allem — wer instrumentalisiert mich wofür, welche Grenzen sind meiner eigenen Erkenntnis gesetzt und warum braucht es „eine unparteiische Berichterstattung“ — sowie um Sprache. „Eng verwandt mit einer Ausbildung zur Hinterfragung der Plausibilität von Sachverhalten ist eine strenge Disziplin in der Verwendung von Wörtern“ (11).

In diesem Absatz steckt mehr, als ein Rubikon-Herausgeber braucht, um die Existenz seines Portals zu legitimieren. Maßstäbe für den kommerziellen Journalismus setzen, Reflexion anregen und einfordern, nach der Plausibilität von Narrativen fragen und vor allem nach der Sprache. Stachel sein im Fleisch der Leitmedien und sicher auch ein Hoffnungsschimmer für all diejenigen, die um die Grenzen der eigenen Erkenntnis genauso wissen wie um die permanente Instrumentalisierung von Redaktionen, die nicht nur dem Imperativ der Aufmerksamkeit verfallen sind, sondern auch den Verführungen der Macht (12).

Als Walter Lippmann die Eigentumsordnung zumindest im Bereich der Presse radikal infrage stellt, hat er eine existenzielle Katastrophe in den Knochen, einen Krieg, der für die Zeitgenossen wie aus dem Nichts kam und in Europa eine Epoche beendete, die für Sicherheit stand und ein besseres Leben für alle versprach. Die alte Ordnung zerfiel vor aller Augen, und wie die neue aussehen würde, stand in den Sternen.

Aus dem Osten drohte sogar eine sozialistische Revolution — und von innen kurzzeitig auch. Vielleicht braucht es solche Katastrophen, um das zu denken, was vorher undenkbar war. Fast zur gleichen Zeit wie Walter Lippmann schlägt Karl Bücher, Nestor der akademischen Journalistenausbildung in Deutschland, vor, den Verlegern die Anzeigen zu entziehen und die Lokalpresse zu kommunalisieren. Bücher gießt das 1919 sogar in einen Gesetzentwurf für die bayerische Räteregierung. Sein Ziel: weg von einer „öffentlichen Meinung“, die vom „Kapital“ geprägt wird sowie von der „privilegierten großen Bourgeoisie“, hin zu einer „freien Tagespresse“, die „schwebende politische Fragen“ erörtert (13).

Karl Marx, natürlich. „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“ (14). Das Grundgesetz ist da eher Ermunterung als Hindernis. Artikel 14 und 15 erlauben zumindest theoretisch Enteignungen — mit Entschädigung —, wenn es um das „Wohl der Allgemeinheit“ geht. In der alten Bundesrepublik stand dieser Wunsch schon einmal auf der Tagesordnung (15), nach 1968, nach den Protesten gegen Axel Springer — Bild hat mitgeschossen.

Mehr Gemeinwohl als das, was Walter Lippmann unter Freiheit versteht, geht eigentlich nicht. Den „Wahrheitsgehalt der Informationen, die unser Handeln bestimmen“, schützen und steigern. Ohne Medienimperien in Privathand bricht fast alles in sich zusammen, was unsere Freiheit heute einschränkt.

Walter Lippmann führt nicht weiter aus, wie er sich „einen großen unabhängigen Journalismus“ vorstellt und „größere gesellschaftliche Kontrolle“. Genossenschaften? Crowdfunding? Publikumsräte? Eine Rechenschaftspflicht? Wenn ja: Wer muss wem berichten? Lizenzen auf Zeit zu vergeben und dann auch wieder zurückzunehmen von uns oder unseren Vertretungen?

Der Weg in die Freiheit, so viel scheint sicher, führt nur über eine gesellschaftliche Debatte, die sich diesen Fragen stellt. Wie kann es sein, dass wir die „Informationen, die unser Handeln bestimmen“, von Unternehmen herstellen lassen, die zuallererst ihren Gewinn maximieren wollen und müssen?

Warum erlauben wir, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk von der Politik und von Wirtschaftslobbys kontrolliert wird? Müsste es nicht eher umgekehrt sein?

Sagt der Journalismus nicht selbst, dass er gerne eine „vierte Gewalt“ sein möchte? Warum bezahlen wir für Leitmedien, die behaupten, neutral und unabhängig zu sein, aber permanent PR für das kreative urbane Milieu machen und alles demontieren, was diesem Milieu in die Quere kommt? Und sollte der Rundfunk nicht denen gehören, die ihn finanzieren beziehungsweise finanzieren müssen?

Ich kann diese Debatte hier nicht vorwegnehmen und damit auch nicht sehr viel konkreter werden. Im Moment hilft mir Erik Olin Wright, ein Soziologe aus den USA, der fast sein ganzes Forscherleben damit verbracht hat, nach einem Kompass für den „emanzipatorischen gesellschaftlichen Wandel“ zu suchen. Die Richtung kennen, ohne die gesamte Karte vor Augen zu haben. Wright spricht sogar von einem „sozialistischen Kompass“, will aber auf keinen Fall zurück in das Osteuropa vor 1989.

Im Sozialismus von Erik Olin Wright haben die Menschen das Sagen — weil ihnen die Produktionsmittel gehören und weil sie freiwillig in Vereinen, Gruppen und Parteien zusammenarbeiten, um staatliche und wirtschaftliche Macht zu zähmen.

Demokratie ernst nehmen: Das ist die Formel, die daraus für die Überwindung des Kapitalismus folgt. Oder: die „gesellschaftliche Macht über die Wirtschaft“ ausweiten. Das klingt fast so wie bei Walter Lippmann. Das Mantra von Erik Olin Wright: „im Hier und Jetzt“ so handeln, dass die Alternative wahrscheinlicher wird.

Wie das gehen soll? Die Antwort, etwas abstrakt: in „den Räumen und Rissen“ des Kapitalismus „Institutionen, Verhältnisse und Praktiken“ entwickeln, die „die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen“ (16). Das ist ein Trost für die, die nicht an Revolutionen glauben und selbst Reformen für schwierig halten, aber zugleich auch ein Argument für das Projekt Rubikon sowie ein Ansporn für alle, die dieses Projekt kritisieren. Es geht besser, keine Frage. Packen wir es an, am besten alle zusammen.


Am 20. Juli 2021 erscheint mit Michael Meyens „Die Propaganda-Matrix: Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft“ bereits der fünfte Teil der Corona-Aufklärungsoffensive des Rubikon-Verlags ― Sie helfen uns sehr bei Kalkulation und Produktion, wenn Sie das Buch bereits jetzt vorbestellen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Vgl. Horst Pöttker: Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Zum Verhältnis von Berufsethos und universaler Moral im Journalismus. In: Rüdiger Funiok, Udo Schmälzle, Christoph Werth (Hrsg.): Medienethik — die Frage der Verantwortung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1999, S. 215-232
(2) Vgl. Walter Ötsch, Silja Graupe: Der vergessene Lippmann — Politik, Propaganda und Markt. Einführung. In: Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird. Frankfurt am Main: Westend 2018, S. 9-53
(3) Walter Lippmann: Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News. Frankfurt am Main: Edition Buchkomplizen 2021, S. 21-24, 45, 65
(4) Ebenda, S. 31, 33, 36f.
(5) Ebenda, S. 34, 38
(6) Ebenda, S. 52
(7) Hannah Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. 3. Auflage. München: Piper 2016, S. 92
(8) Lippmann: Illusion, S. 55
(9) Lippmann: Die öffentliche Meinung, S. 84
(10) Vgl. Edward Bernays: Propaganda. New York: H. Liveright 1928
(11) Lippmann: Illusion, S. 25, 58f., 62, 64, 66, 74
(12) Vgl. Michael Meyen: Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand. Wie uns die Medien regieren. Frankfurt am Main: Westend 2018
(13) Karl Bücher: Zur Frage der Pressereform. In: Gesammelte Schriften. Tübingen: H. Laupp’sche Buchhandlung 1926, S. 391-429, hier 396
(14) Karl Marx: Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen. Von einem Rheinländer. Sechster Artikel. In: Rheinische Zeitung vom 19. Mai 1842
(15) Vgl. Horst Pöttker: Zum demokratischen Niveau des Inhalts überregionaler westdeutscher Tageszeitungen: Wissenschaftstheorie und Methodologie — Normative Theorie der Demokratie — Quantitative Inhaltsanalyse. Hannover: SOAK 1980
(16) Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 11, 170f., 488


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