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Die Umetikettierung

Die Umetikettierung

Palästinensische Menschenrechtsorganisationen werden von Israel unter Terrorverdacht gestellt — die Methoden, mit denen man sie überwacht, sind höchst fragwürdig.

Im Oktober wagte der israelische Verteidigungsminister Benny Gantz, sechs international bekannte palästinensische Menschenrechtsorganisationen als „Terrororganisationen“ zu bezeichnen. Harsche Kritik kam von zahlreichen Menschenrechtsorganisationen im In- und Ausland wie auch von einigen Politikern und Politikerinnen, aber der große Aufschrei blieb aus. Dabei wäre dieser absolut nötig, weil auch die Finanzierung dieser Menschenrechtsorganisationen durch deutsche und internationale Organisationen wie Medico, Brot für die Welt, Misereor und anderen gestoppt würde, wenn die Klassifizierung als „Terrororganisation“ aufrechterhalten würde.

Warum? Nach Artikel 24a des israelischen „Terrorbekämpfungsgesetzes“ aus dem Jahr 2016 wird jede Person, die sich mit einer Terrororganisation solidarisiert — auch durch die Veröffentlichung von Lob, Unterstützung oder Ermutigung — mit drei Jahren Gefängnis bestraft. Dies gilt für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der sechs palästinensischen Organisationen und für alle Menschen, die sich mit ihnen solidarisch erklären.

Der israelische Verteidigungsminister gab als Grund für die Bezeichnung „Terrororganisation“ an, dass diese Organisationen mit der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) zusammenarbeiten würden. Beweise für diese Behauptungen: Fehlanzeige.

Menschenrechtsorganisationen werden von der Spionagesoftware Pegasus ausspioniert

Die sechs Menschenrechtsorganisationen wurden von der Spionagesoftware Pegasus der israelischen NSO Group überwacht. Auf den Handys mehrerer Mitglieder wurden Spuren des Pegasus-Trojaners gefunden. Gegenüber der New York Times bestritten das Büro des israelischen Premierministers und das Verteidigungsministerium, die Pegasus-Software eingesetzt zu haben.

Die Software ermöglicht Zugriffe auf Kamera und Mikrofon eines Smartphones und kann den Standort, Kalendereinträge und Adressen abfragen.

„Da die Software direkt ‚im Handy‘ und damit an der ‚Quelle’ sitzt, können auch Nachrichten, die über Messenger-Apps mit Ende-zu-Ende Verschlüsselung versendet werden, noch vor der Verschlüsselung im Klartext abgefangen und ausgelesen werden. Das ermöglicht ein ‚live‘ mitlesen“ (1).

Bereits im Juli hatte ein internationales Pegasus-Recherche-Projekt von mehr als 80 Medienschaffenden in zehn Ländern, unter anderem Süddeutsche Zeitung, NDR, WDR, Die Zeit, Guardian, Washington Post, enthüllt, wie Staaten die NSO-Spähsoftware weltweit gegen Menschenrechtsaktivisten und -aktivistinnen, Journalisten und Journalistinnen sowie Oppositionelle einsetzen. So wird auch der Mord an Jamal Ahmad Khashoggi 2018 im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul mit NSO in Verbindung gebracht.

Im Juli dieses Jahres erhielt Amnesty International eine Liste, auf der über 50.000 Zielpersonen der NSO Group stehen sollen. Darunter befinden sich neben dem französischen Regierungschef Emmanuel Macron auch der Präsident des Europäischen Rates Charles Michelle (2).

BKA und BND nutzen Spähsoftware Pegasus

Obwohl die Spionagesoftware heftig kritisiert wird und neben Amnesty International viele Organisationen einen internationalen Exportstopp für die Überwachungssoftware der Firma NSO fordern, hat auch das Bundeskriminalamt (BKA) die Spähsoftware Pegasus erworben und nutzt sie seit diesem Jahr für das Ausspionieren von Verdächtigen. Laut BKA werden in „einer mittleren einstelligen Zahl von Ermittlungsverfahren Personen mithilfe von Pegasus überwacht“ (3). Im Oktober wurde bekannt, dass auch der Bundesnachrichtendienst (BND) Pegasus einsetzt, um damit im Ausland zu spionieren.

Besonders brisant an dieser Überwachungsmethode ist, dass die Kunden, also auch BKA und BND, die Software nicht autonom bedienen können.

Sie sind auf die Mithilfe der NSO Group angewiesen und liefern diesen die zur Durchführung der jeweiligen Abhörmaßnahmen notwendigen Informationen, beispielsweise die zu überwachende Telefonnummer. Das heißt, alle staatlichen Behörden und Geheimdienste, die Pegasus benutzen, können das nur in Kooperation mit der israelischen Firma NSO, die damit über alle Einsätze ihrer Überwachungssoftware informiert ist! Schon allein diese Tatsache müsste ausreichen, BKA und BND die Nutzung zu verbieten, da die Weitergabe von durch Pegasus gesammelten Informationen möglich ist und dies einen gravierenden Verstoß gegen die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik darstellt.

USA sanktionieren Pegasus-Software

Die USA scheinen die Gefahr der Software erkannt zu haben und setzten Anfang November 2021 die NSO Group und eine weitere israelische Softwarefirma namens Candiru auf die „Entity List“. Auf der „Entity List“ führt die US-Regierung Unternehmen, Personen oder Regierungen, deren Aktivitäten „den nationalen Sicherheits- oder außenpolitischen Interessen der Vereinigten Staaten zuwiderlaufen“. Der Handel mit diesen unterliegt strengen Beschränkungen und ist teilweise nur mit einer Ausnahmegenehmigung des Ministeriums erlaubt.

Als Begründung für die Strafmaßnahme gegen die NSO Group und Candiru wurde angegeben, dass diese Unternehmen „Spionagesoftware entwickelt und an ausländische Regierungen geliefert haben“. Die Software sei zur „Überwachung von Regierungsbeamten, Journalisten, Geschäftsleuten, Aktivisten, Wissenschaftlern und Botschaftsmitarbeitern eingesetzt“ worden (4). NSO hat diese Vorwürfe zurückgewiesen und betont, dass ihre Kunden ausschließlich staatliche Behörden sind. Das darf allerdings stark bezweifelt werden.

Ermutigt von dieser Maßnahme der US-Regierung dürfte Apple dazu gebracht haben, kürzlich gegen das Unternehmen Strafanzeige einzureichen. Der US-Konzern will gerichtlich ein Nutzungsverbot aller Applegeräte und Software durch die NSO Group erstreiten. In der Klage wird auch eine „Wiedergutmachung“ für das Ausspähen von Nutzern gefordert, weil dies gegen US-Recht verstoßen habe.

Wie die israelische Zeitung Haaretz am 23. November 2021 meldete, stehen die Firma NSO Group und das Unternehmen Candiru aufgrund der eingeleiteten Strafmaßnahme und Klagen vor der Zahlungsunfähigkeit (5).

Angesichts dieser Entwicklung und der überaus großen Gefahr, die von der Spionagesoftware ausgeht, sollten die Bundesregierung und die EU-Mitgliedsstaaten dem US-Beispiel folgen und den Einsatz der Software verbieten.

BDS-Kampagne fordert Verbot

Das Nationale Komitee der palästinensischen BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) hat auf die Veröffentlichung von Amnesty International schnell reagiert und den Aufruf „Vereint gegen Cyber-Überwachung und Repression“ gestartet und ein Verbot der Cyber-Überwachung gefordert.

In seinem Aufruf analysiert das Komitee die israelische Militär-, Sicherheits- und Überwachungstechnologie, die „die Grundlage für Israels Beziehungen zum Rest der Welt“ bildet.

„Das israelische Militär hat in Zusammenarbeit mit seinen Universitäten und Forschungszentren nicht nur die Technologie und Methodik entwickelt, die zur Unterwerfung und Unterdrückung der Palästinenser eingesetzt werden. Es hat auch ein ausgeklügeltes System eingerichtet, das seine ‚felderprobte‘ Militär- und Massenüberwachungstechnologie auf den profitablen globalen Markt der Überwachungsindustrie lenkt“ (6).

Israel hat die höchstentwickelte Überwachungsindustrie der Welt mit einer großen Expertise nicht nur bei der Sammlung und Verarbeitung von Daten, bei der Gesichtserkennung, sondern auch bei den „Tools zur Benutzerverfolgung“, die für polizeiliche Zwecke, Wahlmanipulationen und mehr eingesetzt werden.

Durch die illegale Dauer-Besetzung der Westbank und des Gaza-Streifens ist Israel auch das perfekte Digital-Labor für die Bekämpfung von Aufständen und die Kontrolle von Menschen.

Die jungen Soldaten und Soldatinnen der israelischen Armee „erhalten in den riesigen Entwicklungsabteilungen, die das Militär gegründet hat, alle Freiheiten, um in der digitalen Welt an der Spitze zu sein“; so berichtet der israelische Autor Ronen Bergman über seine mehrjährige Recherchearbeit in der israelischen Digitalindustrie (7).

Das Militär ist der Motor und Innovationstreiber für die mehr als 5.000 Start-ups, die gern von US- und anderen Westkonzernen gekauft werden. Häufig werden die Firmen von Ex-Offizieren der israelischen Armee gegründet, die „ihre Erfahrungen bei der Fern- und Nah-Erkennung, Bekämpfung und Tötung von Palästinensern in ‚ziviler’ unternehmerischer Form“ nutzen (8). So war auch der NSO-Mitbegründer Shalev Hulio mit der israelischen Armee gegen die Zweite Intifada im Westjordanland eingesetzt.

Aufgrund ihrer Gefährlichkeit nicht nur für die Aufstandsbekämpfung, sondern insbesondere auch für demokratische Gesellschaften sollten diese Unternehmen und Technologien viel stärker in Politik und Medien diskutiert werden. Sie sind ein bedeutender Faktor für die zunehmende Aushöhlung der Bürgerrechte, was auch durch einige Corona-Maßnahmen befördert wird.

Menschenrechtsorganisationen = „Terrororganisationen“?

Wer sind die international bekannten palästinensischen Menschenrechtsorganisationen, mit denen zahlreiche Organisationen auf der ganzen Welt zusammenarbeiten und die jetzt als „Terrororganisationen“ gebrandmarkt sind und deren Existenz auf dem Spiel steht?

Die folgende kurze Vorstellung ist dem Newsletter #193 des Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP) entnommen, in dem weitere Informationen zu diesem unglaublichen Skandal stehen (9).

Addameer („Gewissen“ auf Arabisch) ist die bedeutendste Organisation in Palästina, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzt. Sie bietet Gefangenen rechtlichen Beistand und kämpft für die Beendigung von Administrativhaft, Folter, Inhaftierung von Minderjährigen, Isolationshaft und mehr. Sie wurde 1991 gegründet.

Al-Haq („das Recht“ auf Arabisch) ist die bekannteste Organisation für Menschenrechte und die Umsetzung des Völkerrechts in Palästina, die eine entscheidende Rolle bei der Vorbereitung der palästinensischen Klagen vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ISGH) spielte. Al-Haq wurde 1979 gegründet.

Defense for Children Palestine (DCI) ist ein Zweig der Organisation Defense for Children International, einer Organisation, die über die Behandlung, Verhaftungen, Tötungen und die medizinische Versorgung von Kindern unter israelischer Besatzung berichtet. Sie wurde 1979 gegründet.

Die Union of Agricultural Work Committees (UAWC) ist eine Organisation von Agrarwissenschaftlern, die 1986 als Nichtregierungsorganisation (NRO) gegründet wurde, um palästinensische Landwirte zu unterstützen, die in ihrer landwirtschaftlichen Arbeit durch Bewegungseinschränkungen, Beschränkungen bei der Verwendung von Düngemitteln und Vandalismus an landwirtschaftlichen Geräten und Ernten durch die Armee und Siedler behindert werden.

Die Union of Palestinian Women’s Committees (UPWC) ist eine fortschrittliche feministische NRO, die die Arbeit mehrerer Frauenkomitees im Westjordanland und im Gazastreifen koordiniert. Sie wurde 1980 gegründet.

Das Bisan Research & Development Center ist eine feministische Forschungs-NRO, die sich für eine Kultur der Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde einsetzt. Sie wurde 1989 gegründet.

Zahlreiche Organisationen kritisieren die Diffamierung der palästinensischen Menschenrechtsorganisationen heftig; Human Rights Watch und Amnesty International erklärten, es handele sich dabei um einen …

„entsetzlichen (...) Angriff der israelischen Regierung auf die internationale Menschenrechtsbewegung. Seit Jahrzehnten versuchen die israelischen Behörden systematisch, Menschenrechtsbeobachter mundtot zu machen und diejenigen zu bestrafen, die die repressive Herrschaft Israels über die Palästinenser kritisieren. Während Mitarbeiter unserer Organisationen mit Abschiebung und Reiseverboten konfrontiert waren, haben palästinensische Menschenrechtsverteidiger stets die Hauptlast der Repressionen zu tragen.

Diese Entscheidung ist eine alarmierende Eskalation, die die Arbeit der prominentesten zivilgesellschaftlichen Organisationen Palästinas zum Erliegen zu bringen droht. Das jahrzehntelange Versagen der internationalen Gemeinschaft, schwerwiegende israelische Menschenrechtsverletzungen anzufechten und sinnvolle Konsequenzen daraus zu ziehen, hat die israelischen Behörden zu diesem dreisten Vorgehen ermutigt“ (10).

Letztendlich geht es darum, den Menschenrechtsorganisationen den Geldhahn zuzudrehen, denn ohne die Hilfsgelder von außen werden die Nichtregierungsorganisationen gezwungen, ihre Arbeit einzustellen.

Philip Weiss, Herausgeber von mondoweiss, einem elektronischen Nachrichtenportal mit Fokus auf Israel, Palästina und den USA, kommentierte am 9. November 2021:

„Als die Strategie, die Spender davon zu überzeugen, nicht mehr zu spenden, massiv scheiterte, hat Israel den einseitigen, gewaltsamen Schritt unternommen, diese Organisationen zu Terrororganisationen zu erklären, und damit hat es die administrative Macht geschaffen, jede Spende zu blockieren, die aus jedem Land der Welt auf die Bankkonten der Organisation in Ramallah überwiesen wird...

Der einzige Grund für die Einstufung ist, dass sie die Spenden stoppen wollen. Damit hat die israelische Regierung das Konzept des Terrorismus völlig entleert, so wie sie es auch mit dem Antisemitismus tut. Wenn jeder ein Antisemit ist, dann ist es niemand, wenn jeder ein Terrorist ist, sogar Menschenrechtsverteidiger, dann ist niemand ein Terrorist...

Das Ziel war, diese Organisationen zum Schweigen zu bringen, ihre Büros zu schließen und ihre Arbeit zu stoppen, die von Israel zu Recht oder zu Unrecht als strategische Bedrohung angesehen wird, nicht als Sicherheitsbedrohung, sondern als politisch-strategische Bedrohung“ (11).

Wenn einmal ein Staat, der sich als „einzige Demokratie im Nahen Osten“ versteht, Menschenrechtsorganisationen als „Terrororganisationen“ bezeichnet, ist Gefahr im Vollzug, da es andere Staaten zur Nachahmung einladen könnte. Bei uns wurde bereits einigen progressiven Organisationen die Gemeinnützigkeit entzogen, was durchaus als erster Schritt in Richtung Ächtung verstanden werden kann.

Autoritäre Regierungen auf dem Vormarsch

Der im November 2021 veröffentlichte Bericht des „Internationalen Instituts zur Förderung von Demokratie und demokratischer Teilhabe“ (IDEA) warnt vor erstarkenden autoritär-repressiven Regierungen auch in EU-Staaten und konstatiert mit Blick auf Corona: „Zwei Drittel der europäischen Länder verhängten Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und der Vereinigungs- und Bewegungsfreiheit.

Diese Einschränkungen hatten weitreichende Auswirkungen auf andere Grundrechte und demokratische Prinzipien, wie beispielsweise das Recht auf Bildung für Schulkinder und das Recht auf Arbeit für die vielen Erwachsenen, die ihre Arbeitsplätze verloren haben.“ Der „wahre Lackmustest für die Widerstandskraft der Demokratien“ sei dabei die „Verhältnismäßigkeit von Notfallmaßnahmen“ (12).

Wie weiter mit den Menschenrechtsorganisationen?

Bislang sind weder aus Regierungskreisen der USA noch aus Europa klare Beschlüsse über die weitere mögliche Kooperation und Finanzierung der palästinensischen Menschenrechtsorganisationen gefasst worden, aber am 16. November 2021 haben mehr als 100 globale Stiftungen und Geldgeber, die meisten aus den USA, einen offenen Brief verfasst und ihre Solidarität mit den Menschenrechtsorganisationen betont:

„Als globale Geldgeber für Menschenrechte und Demokratie wird dieser Versuch, unsere Finanzierung und Solidarität ‚abzuwürgen’, nicht funktionieren. Wir stehen an der Seite der palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Menschenrechtsverteidiger“ (13).

Palästinensische Autonomiebehörde braucht Geld

Mitte November hat sich in Oslo das „Ad Hoc Liaison Committee“ (AHLC) der zusammengeschlossenen palästinensischen Geberländer getroffen, wozu auch der für regionale Kooperation zuständige Minister Issawi Frej von der linken israelischen Meretz-Partei gehört. Israel wirbt für mehr Geld für die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) von Präsident Mahmud Abbas, die vor dem Kollaps steht.

Seit 2008 ist die internationale Finanzhilfe für die PA um 85 Prozent gesunken, von 1,2 Milliarden auf 184 Millionen US-Dollar für 2021. Im Westjordanland drohe in diesem Jahr ein Haushaltsdefizit von 1,36 Milliarden Dollar, so ein im November veröffentlichter Weltbankbericht. Wegen der Geldnot könne die Autonomiebehörde weder den Kampf gegen Corona führen, noch die Gehälter für das Heer der öffentlich Bediensteten bezahlen. Das macht Minister Issawi Frej Sorgen:

„Die Vernachlässigung in den vergangenen Jahren hat eine finanzielle Krise geschaffen, die nicht nur die Palästinensische Autonomiebehörde bedroht, sondern die gesamte Region“ (14).

Mahmud Abbas, der schon lange das Vertrauen der Palästinenser verloren hat, ist für die Israelis ein Garant dafür, dass die Sicherheitskooperation mit den palästinensischen Sicherheitskräften im Westjordanland funktioniert. Kürzlich traf sich der neue Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, Ronen Bar, heimlich in Ramallah mit dem Palästinenser-Präsidenten. Israel unterstützt Abbas, um die Machtübernahme der Hamas im gesamten Palästinensergebiet zu verhindern und um Israels Kontrolle über die von der PA verwalteten Gebiete zu sichern.

Darum fordert Israel jetzt von den internationalen Geberländern finanzielle Hilfe für Abbas und wirbt für ein neues Konzept im Umgang mit den Palästinensern und Palästinenserinnen: die Lebensumstände der unter Besatzung lebenden Bevölkerung soll verbessert werden, um Eskalationen zu vermeiden.

Nach dem Völkerrecht ist Israel verantwortlich für die besetzten Gebiete und bettelt nun die internationale Gemeinschaft um Gelder für die Palästinensische Autonomiebehörde an. Die israelische Regierung ist verantwortlich für den Verlust von Milliarden US-Dollar, die der palästinensischen Wirtschaft durch die Besatzung und zahlreiche diskriminierende Maßnahmen und insbesondere durch die Bombardierungen Gazas und andere militärische Aktionen entstehen.

Gräueltaten der israelischen Siedler und Sicherheitskräfte

Angesichts der Gräueltaten der israelischen Siedler und Sicherheitskräfte kann von einem angeblich neuen Konzept der Besatzungspolitik keine Rede sein.

Die Angriffe der Siedler auf palästinensische Dörfer und Ländereien im besetzten Westjordanland haben sich in der ersten Jahreshälfte 2021, verglichen mit den beiden Vorjahren, verdoppelt. Auch die Zahl der illegalen Siedlungen wächst ständig.

Tagtäglich werden Palästinenser und Palästinenserinnen, auch Kinder, terrorisiert und bei nächtlichen Razzien festgenommen; werden Olivenbäume zerstört, wird Palästinensern und Palästinenserinnen der Zutritt zu ihren Feldern verwehrt, oft mit grausamer Gewalt.

In diesem Jahr ist palästinensisches Land in der Größe von 200 qkm von Siedlern geraubt worden. Mithilfe von Soldaten werden die Landbesitzer gewaltsam vertrieben, sodass immer mehr palästinensisches Land in israelische Hände gelangt. Neben diesem Landraub nehmen auch die illegalen Siedlungen zu.

Seit Juli, seitdem die neue Besatzungsregierung im Amt ist, wurden mehr als 60 palästinensische Zivilisten bei Demonstrationen in der Westbank getötet.

Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) listet zweiwöchentlich akribisch Menschenrechtsverletzungen durch israelische Streitkräfte und Siedler auf.

Beispielhaft werden einige Gewaltakte, begangen in den beiden Wochen zwischen dem 5. und 18. Oktober 2021, skizziert. In dieser Zeit verletzten israelische Streitkräfte 159 Palästinenser und Palästinenserinnen im gesamten Westjordanland; die meisten wurden bei Protesten gegen Siedlungsaktivitäten im Bezirk Nablus verwundet.

  • Israelische Streitkräfte erschossen einen 14-jährigen palästinensischen Jungen, ein weiterer wurde verletzt und festgenommen.
  • Israelische Streitkräfte führten 113 Durchsuchungen und Festnahmen durch und verhafteten etwa 150 Palästinenser und Palästinenserinnen im gesamten Westjordanland.
  • Bei mindestens 23 Gelegenheiten gaben die israelischen Streitkräfte in der Nähe des Grenzzauns und vor der Küste des Gazastreifens Warnschüsse ab, angeblich um Zugangsbeschränkungen durchzusetzen (15).

Gewalt in AL Aksa Moschee

Seit Mai 2021 dreht sich die Gewaltspirale immer schneller, als die israelische Militärpolizei das von Vertreibung bedrohte Ost-Jerusalemer Viertel Sheikh Jarrah stürmte und gewaltsam in die Al Aksa Moschee, die drittheiligste Stätte des Islam, eindrang und dort Tränengas versprühte sowie Betende verprügelte.

Die Polizei wütete beispiellos, feuerte „Gummigeschosse“ in Gesichter, setzte Schlagstöcke, Stinkwasser, Blendgranaten und berittene Pferde ein und warf immer wieder Tränengaskanister in Wohnhäuser.

Das Filmmaterial über das brutale Vorgehen in der Al-Aqsa-Moschee verbreitete sich in den sozialen Netzwerken und ließ die Proteste eskalieren.

Amnesty International berichtet:

„Am 12. Mai versammelten sich Hunderte jüdische Extremisten auf der Promenade von Bat Jam bei Tel Aviv, nachdem sie Mitteilungen von der politischen Partei Jewish Power und anderen Gruppen erhalten hatten. Überprüftes Videomaterial zeigt Dutzende von Aktivist_innen, die Geschäfte in arabischem Besitz angreifen oder Angreifende ermutigen. Zu denen, die verprügelt wurden, gehört Said Musa, der noch dazu von jüdischen Angreifer_innen mit dem Roller überfahren wurde. Nur gegen sechs Personen wird wegen dieser Angriffe ermittelt.

Auch Politiker_innen und Angehörige der Regierung stifteten zur Gewalt an. Am 11. Mai brachen Unruhen aus, nachdem Itamar Ben-Gvir, ein Abgeordneter der Partei Jewish Power, seine Anhänger_innen in Lod und anderen Städten aufgerufen hatte, Steinewerfer_innen zu erschießen“.

Molly Malekar, Direktorin von Amnesty Israel, fügt hinzu:

„Die Tatsache, dass jüdische Staatsangehörige Israels, darunter auch prominente Persönlichkeiten, offen zu Gewalt gegen Palästinenser_innen aufstacheln dürfen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, verdeutlicht das Ausmaß der institutionalisierten Diskriminierung, der Palästinenser_innen ausgesetzt sind, und den dringenden Bedarf an Schutz“ (16).

Dringender Appell aus Israel

Angesichts der Gewaltexzesse im Mai 2021 haben über 800 israelische Juden und Jüdinnen einen Offenen Brief an die internationale Gemeinschaft verfasst und

„rufen die internationale Gemeinschaft zur sofortigen Verteidigung der Palästinenser in Gaza, der Westbank, Jerusalem, Galiläa, dem Negev, al-Lydd, Yafa, Ramleh, Haifa und im gesamten historischen Palästina auf….

Als Individuen, die auf der Seite der Unterdrückenden stehen und die seit Jahren versuchen, die öffentliche Meinung in Israel zu verändern, um die Grundlagen des gegenwärtigen Regimes zu ändern, sind wir längst zu dem Schluss gekommen, dass es unmöglich ist, das jüdische Vorherrschaftsregime ohne Intervention von außen umzuwandeln.

Wir rufen die internationale Gemeinschaft auf, sofort zu intervenieren, um Israels gegenwärtige Aggressionen zu stoppen, die Forderungen der palästinensischen Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung anzunehmen; auf die Verwirklichung des palästinensischen Rückkehrrechts hinzuarbeiten und historische Gerechtigkeit herbeizuführen; eine gerechte und demokratische Lösung für alle zu erreichen, die auf der Entkolonialisierung der Region und der Gründung eines Staates für alle seine Bürger beruht“ (17).

Wie andere Hilferufe, die Israelis in den letzten Jahren an die internationale Gemeinschaft richteten, ist auch dieser eindrückliche Brief ohne große Wirkung geblieben. Das Schweigen und Nichtstun ist beschämend und macht fassungslos. Engagierten Menschen- und Völkerrechtlern bleiben nur die ständige Forderung nach Einhaltung der Internationalen Menschenrechtskonventionen, die alle EU-Mitgliedsstaaten unterzeichnet haben und die Forderung nach einem Aussetzen des EU-Israel Assoziierungsabkommens, das am 1. Juni 2000 in Kraft getreten ist und die Vertragsstaaten zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet.

Wenn die EU ihr eigenes Abkommen ernst nimmt, müsste sie es sofort suspendieren. Aufgrund anhaltender Menschenrechtsverletzungen hat die EU schon einmal ein Assoziierungsabkommen ausgesetzt: das mit Sri Lanka wegen der Diskriminierung der Tamilen.

In den letzten Jahren gab es immer wieder Kampagnen für eine Aussetzung des Abkommens mit Israel, solange Israel an dem Siedlungsbau festhält und andere gravierende Menschenrechtsverletzungen begeht.

Auch als Vertragsstaaten der Vierten Genfer Konvention haben die EU-Mitglieder die Verpflichtung, die Achtung dieser Konvention zu sichern. Durch die stillschweigende Duldung rechtswidriger Praktiken, wie zum Beispiel dem in Artikel 49 der Konvention ausdrücklich verbotenen Siedlungsbau in besetzten Gebieten, verletzen die europäischen Vertragsstaaten ihre eigenen rechtlichen Verpflichtungen.

Völkerrecht und die Menschenrechtskonventionen müssen angesichts des Säbelrasselns in vielen Regionen der Welt wieder viel stärker ge- und beachtet werden. Das müssen auch zivilgesellschaftliche Organisationen viel lauter fordern!


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/spysoftware-pegasus-bka-einsatz/
(2) https://www.amnesty.ch/de/themen/ueberwachung/dok/2021/projekt-pegasus-spionage-gegen-zivilgesellschaft
(3) https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/spysoftware-pegasus-bka-einsatz/
(4) https://www.heise.de/news/Spyware-Pegasus-USA-verhaengen-Sanktionen-gegen-NSO-Group-und-andere-6250364.html
(5) https://www.haaretz.com/israel-news/tech-news/israeli-spyware-firm-nso-at-risk-of-defaulting-after-u-s-blacklisting-1.10408897
(6) http://bds-kampagne.de/2021/07/22/ein-aufruf-aus-palaestina-vereint-gegen-cyber-ueberwachung-und-unterdrueckung/
(7) Ronen Bergman. Der Geheimdienst-Experte über Israels Spione, ihre gezielten Tötungen und den gescheiterten Atomdeal mit dem Iran, Handelsblatt 11. Mai 2018
(8) https://www.nachdenkseiten.de/?p=74434 20. Juli 2021: Lauschangriff mit israelischer Besatzungs-Technologie, Werner Rügemer
(9) https://bip-jetzt.de/
(10) https://www.heise.de/tp/features/Israel-Frontalangriff-auf-Menschenrechtsorganisationen-6227182.html
(11) https://mondoweiss.net/2021/11/pressure-grows-on-u-s-to-accept-or-reverse-israels-act-of-tyranny-but-state-dept-ducks-the-question/ Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)
(12) https://taz.de/Demokratie-weltweit-auf-dem-Rueckzug/!5816845/ und https://www.idea.int/our-work/what-we-do/global-state-democracy
(13) https://mondoweiss.net/author/open-letter/
(14) https://www.sueddeutsche.de/politik/israel-palaestinenser-finanzhilfe-konflikt-1.5466779, 17.11. 2021, Peter Münch
(15) https://www.icahd.de/un-ocha-bericht-ueber-den-schutz-der-zivilbevoelkerung-5-10-18-10-2021/ und https://www.ochaopt.org/poc/5-18-october-2021
(16) https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/israel-polizei-gewalt-gegen-palaestinensische-demonstrierende
(17) https://jews4decolonization.wordpress.com/ und http://sicht-vom-hochblauen.de/israelische-juden-rufen-auf-zum-stopp-der-israelischen-apartheid-ein-offener-brief-an-die-internationale-gemeinschaft/


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