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Die Unbeirrbaren

Die Unbeirrbaren

Die Gelbwesten-Bewegung kämpft trotz brutaler Repressionen Macrons um eine Neuerfindung der Demokratie.

von Richard Greeman

Nach fünf Monaten konstanter Präsenz an Kreisverkehren, Mautstellen und gefährlichen Samstagsmärschen hat die riesige, selbstorganisierte Bewegung, die unter dem Namen „Gelbwesten“ bekannt wurde, gerade ihre zweite „Versammlung der Versammlungen“ abgehalten. Hunderte autonomer Gelbwesten-Aktivistengruppen aus ganz Frankreich entsandten je zwei Delegierte — eine Frau, einen Mann — in die Hafenstadt St. Lazaire für ein Beratungswochenende vom 5. bis 7. April.

Nach Wochen der Auseinandersetzungen mit den örtlichen Behörden konnten die Gelbwesten 700 Delegierte im „Haus des Volkes“ in St. Lazaire willkommen heißen, und die dreitätige Abfolge von Hauptversammlungen und Arbeitsgruppen ging in einer Atmosphäre guter Kameradschaft reibungslos über die Bühne. Ein Schild an der Wand besagte:

„Keiner ist im Besitz der Lösung, aber jeder besitzt einen Teil davon.“

Ihr Projekt: ihre „kollektive Intelligenz“ zu mobilisieren, um ihren Kampf zu reorganisieren, strategisch zu planen, zu verlängern. Ihre Zielsetzung: die unmittelbaren Ziele durchzusetzen — Löhne und Renten, von denen man leben kann, die Wiederherstellung von Sozialleistungen und öffentlichen Dienstleistungen wie Schulen, öffentlicher Verkehr, Postämter, Krankenhäuser sowie die Besteuerung der Reichen und eine Beendigung steuerlichen Betrugs, um den Schutz der Umwelt zu finanzieren.

Ihr ehrgeizigstes Ziel ist wohl die Wiedererfindung der Demokratie. Ihre Erklärung endet mit dem Satz „Regierung des Volkes, vom Volk und für das Volk“. Ich frage mich oft, ob sie wissen, wer diesen Satz geprägt hat (Abraham Lincoln; Anmerkung der Übersetzerin.)

Gelb und Grün im Kampf vereint

Besonderes Augenmerk legten sie auf den Umweltschutz. Dabei bekräftigte man den Slogan „Ende der Woche, Ende der Welt. Dieselbe Logik, derselbe Kampf“, der sich im Französischen reimt. Die Versammlung ging noch weiter und forderte „alle Menschen auf, die der Enteignung der Lebenden ein Ende setzen möchten, sich dem gegenwärtigen System entgegenzustellen, um gemeinsam eine neue ökologische, bürgerliche, breite soziale Bewegung zu schaffen.“

Die ursprüngliche Gelbwesten-Bewegung hat sich offensichtlich von einem Protest gegen eine Erhöhung der Dieselsteuer, angeblich zum „Schutz der Umwelt“, weiterentwickelt. Weniger bekannt ist übrigens, dass nur 17 Prozent dieser Steuer tatsächlich dem Umweltschutz zu Gute kommen sollten. Macron hat sie jedoch ohnehin in einem frühen Versuch, die Bewegung zu befrieden, zurückgenommen.

Seitdem haben sich die Gelbwesten zaghaft den Umweltgruppen angenähert. Manche armen und der Arbeiterklasse zugehörigen Gelbwesten betrachten diese jedoch nur als Bürgerliche auf Fahrrädern, die zwar nett sein wollen, aber nicht bereit sind, direkt gegen das Establishment zu kämpfen.

Ihr Ruf nach Einigkeit ist also auch eine Herausforderung an die Umweltbewegung: „Schließt Euch uns im Kampf für soziale Gleichheit an und seid bereit, das gesamte System zu bekämpfen“.

Großartig! Wer hat gesagt, dass eine unstrukturierte, autonome Bewegung einfacher, nicht übermäßig gebildeter Menschen keine Strategien und Taktiken entwickeln kann?

Psychologen erklären, dass diese „Weisheit der Massen“ immer dann entsteht, wenn Menschen sich auf gleichberechtigter Basis und zwanglos begegnen (siehe auch: The Wisdom of Crowds: Why the Many Are Smarter Than the Few and How Collective Wisdom Shapes Business, Economies, Societies and Nations). Sie wächst durch Erfahrung wie auch Diskussionen und wird durch einen dialektischen Prozess geboren. „Keiner ist im Besitz der Lösung, aber jeder besitzt einen Teil davon.“ Dies war die Grundlage der direkten Demokratie in Athen, von der die Gelbwesten auch die Idee abschauten, Vertreter durch das Los zu bestimmen.

Autonomie

Die Versammlung der Versammlungen bestätigte erneut das Gründungsprinzip der Gelbwesten, nämlich politischen Parteien und auch Anführern fernzubleiben. Meiner Ansicht nach ist das ein Geniestreich. Jede vom Volk ausgehende Massenbewegung, an der ich die letzten 60 Jahre teilgenommen habe, wurde vom Establishment vereinnahmt — oder vernichtet.

Anführer richten ein Büro ein, versuchen Geld zu organisieren und an Macht zu gewinnen — letztlich lassen sie sich auf Kompromisse ein. Sie behandeln die gewöhnlichen Aktivisten wie eine Mailingliste, und die Macht und Dynamik der Massenbewegung schmilzt dahin — wie die Anti-Atomkraft-Bewegung, die einst Millionen mobilisierte. Irgendwann wird sie durch die Demokratische Partei geködert. Die Sozialistische Partei Frankreichs hat die „SOS Rassisme“ Organisation geschluckt — den Embryo einer dringend benötigten Menschenrechtsbewegung hier in Frankreich.

Instinktiv scheinen die Gelbwesten von Anfang an die tiefgreifende Kritik an der repräsentativen Demokratie aufgenommen und umgesetzt zu haben, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht und 1871 während der Pariser Kommune angewandt wurde.

Damals wurden den Delegierten begrenzte Mandate gegeben, die sofort widerrufen werden konnten. Sie rotierten regelmäßig und erhielten Arbeiterlöhne. Die Kommunarden forderten auch andere Städte auf, sich zu erheben und zu einer Föderation zusammenzuschließen — was genau dem Modus Operandi der Gelbwesten entspricht.

Europa

Diese Kritik an der Repräsentation erklärt die Haltung der Versammlung gegenüber den kommenden Wahlen zum Europa-Parlament, die als Probedurchlauf für die nächsten Parlamentswahlen gelten, wo Parteien ernsthaft um Stimmen konkurrieren werden. Die Angst, zum Zwecke politischer Ziele manipuliert zu werden, ist groß.

Letzten Monat erkannten Gelbwesten auf einer Pariser Demonstration eine Gelbwestenträgerin, die unter medialem Trommelwirbel gerade ihre Kandidatur, angeblich im Namen der Gelbwesten, bekanntgegeben hatte. Sie waren wütend und schrien sie an, bis sie sich, merklich erschüttert, zurückzog. Nicht schön, aber ein notwendiges Beispiel für alle, die lieber Politiker als Gelbweste sein möchten, ohne vorher bei den letzteren auszuscheiden.

Was Europa betrifft, nahm die Versammlung — weit davon entfernt, einen Frexit zu fordern — Kontakt zu sozialen Bewegungen in anderen Ländern der EU auf, um gemeinsam deren neoliberale Politik zu bekämpfen. Die Versammlung sah keinen Sinn darin, sich an dieser Wahlfarce zu beteiligen.

Wie jeder weiß, besitzt das Europäische Parlament weder Macht noch Präsenz. Es sitzt nicht einmal in Brüssel, wo die wichtigen Entscheidungen von Vertretern deutscher Banken und multinationaler Konzerne gefällt werden. Zudem schränkt es die Defizitfinanzierung der Mitgliedsstaaten ein, womit es für Frankreich illegal wird, die Sozialleistungen und Umweltsanierungsprogramme, die vom Volk gefordert werden, zu finanzieren.

Umstrukturierung und Reflexion

Die Versammlung der Versammlungen vom letzten Wochenende fiel mit Akt 21 des langen Kampfes der Gelbwesten zusammen, der darin bestand, öffentliche Plätze zu besetzen und Hoffnungen und Zorn zum Ausdruck zu bringen. Es kamen laut Zählung der Regierung jedoch nur 23.400 Menschen in ganz Frankreich zusammen, was die bisher geringste Beteiligung darstellt. Kein Wunder nach fünf Monaten blutiger Unterdrückung.

Wie üblich war die Polizei in ihrer ganzen Macht anwesend und hielt der Pariser Präfektur zufolge 14.919 Menschen an und filzte sie. Nach 21 wöchentlichen Kämpfen sind manche von uns zu erschöpft, zu verängstigt und/oder zu alt, um weiterhin wie beim „Stierlauf“ durch die Straßen zu rennen und Benzinkanistern auszuweichen.

„Wir dachten, mit einem Sprint wäre es getan. Tatsächlich aber befinden wir uns in einem Marathon und müssen uns vorbereiten“, gab ein Sprecher zu. Uns wurde klar, dass wir unsere Taktiken variieren, unsere Ziele verfeinern, unsere demokratischen Strukturen besser organisieren müssen, damit die Bewegung am Leben bleibt, und die Versammlung am letzten Wochenende versuchte, diese Herausforderung anzunehmen — beginnend mit dreiwöchigen Diskussionen und einer Reihe neuer Herangehensweisen.

Unter den neuen Taktiken war eine Aufforderung zu einem landesweiten Protest gegen die zunehmende Repression durch die Regierung Macrons und eine Forderung, alle Inhaftierten freizulassen — ob Gelbwesten oder Beteiligte an anderen „kriminalisierten“ Auseinandersetzungen. Die Aufforderung wendet sich auch direkt an die unterdrückten nordafrikanischen und Immigranten-Gemeinschaften, deren Jugendaufstand von 2005 brutal niedergeschlagen wurde. „(Die gewaltsame Repression,) die wir heute erleben, war jahrzehntelang Alltag in den ghetto-ähnlichen ‚Vororten‘“ und weiter: „Autoritarismus wird heute in der gesamten Gesellschaft angewandt.“

Macrons Reaktion: Propaganda und gewaltsame Repression

Im Gegensatz zu diesen Überlegungen überbrachte die Macron-Regierung letztes Wochenende die Ergebnisse ihrer offiziellen „Großen Debatte“, eines PR-Spektakels, das 12 Millionen Euro gekostet hat und den Präsidenten zeigt, wie er redegewandt Fragen eines ausgewählten Publikums aus Bürgermeistern und Lokalprominenz in Kleinstädten und Dörfern aus dem ganzen Land beantwortet. Insgesamt brachte Macron es auf 92 Stunden Redezeit.

Frankreichs gewählter Monarch heckte diese „Debatte“, deren Grenzen von vornherein festgelegt waren — Steuern für die Reichen und die Konzerne kamen nicht infrage —, als „Antwort“ auf die Forderung der Gelbwesten nach partizipativer Demokratie aus.

Die Ergebnisse boten keine Überraschung: Die Franzosen wollen „geringere Steuern, keine Kürzungen bei den Sozialleistungen“ (New York Times am 9. April). Auf die Frage, ob die „Große Debatte“ ein „Erfolg für Macron und seine Regierung“ gewesen sei, anworteten nur 6 Prozent der von BFM-TV Befragten mit „Ja“. Eine andere Umfrage zeigte, dass 35 Prozent der Franzosen noch immer den Gelbwesten zustimmen — letzten Dezember waren es noch 70 Prozent —, während nur 29 Prozent Macron gutheißen.

Abgesehen von PR-Maßnahmen war die wirkliche Reaktion der Macron-Regierung auf die Gelbwesten schonungslos: Verleumdung, gewaltsame Unterdrückung und scharfe neue Gesetze, die das Recht zu demonstrieren einschränken — ein Recht, das in der Erklärung der Menschenrechte und der französischen Verfassung verankert ist.

Macron und seine Minister haben die Gelbwesten öffentlich als „Antisemiten“, „Faschisten“, „einen hasserfüllten Mob“ und eine gewalttätige Verschwörung von „40.000 bis 50.000“ Terroristen „der extremen Linken und der extremen Rechten“ diffamiert, die darauf aus sind, französische Institutionen zu zerstören.

Dieses bösartige Zerrbild, von den Medien endlos wiedergegeben und von beängstigenden Bildern von Gewalt und Vandalismus gegen die Symbole des Reichtums und der Macht in Paris verstärkt, hat zum Ziel, die Protestierenden zu entmenschlichen, die man sonst leicht als arme Kleinstädter hätte erkennen können, die es einfach satt haben, ignoriert zu werden. Auf diese Weise dämonisiert, kann man die wirklichen Forderungen der Gelbwesten nach Würde und Gerechtigkeit ignorieren. Als eine Gefahr für Frankreich müssen sie mit allen Mitteln unterdrückt werden.

Seit November 2018, als die Gelbwesten-Bewegung plötzlich 300.000-Mann-stark aus dem Boden schoss, hat die Regierung eine beispiellose polizeiliche Brutalität entfesselt, indem sie militärspezifische Waffen gegen unbewaffnete Demonstranten einsetzte und damit Hunderte schwerer Verletzungen verursachte — einschließlich Erblindungen, des Verlustes von Gliedmaßen und gebrochener Gesichtsknochen.

Obwohl davon in den französischen Mainstream-Medien — die ja von der Regierung subventioniert werden und den Konzernen gehören — nichts zu sehen ist, wurde diese Gewalt der französischen Regierung wiederholt von Menschenrechtsgremien in Frankreich und der EU sowie von Michelle Bachelet, ehemaliger Präsidentin Chiles und UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, verurteilt.

Regierungsbrutalität endlich aufgedeckt

Als Präsident Macron sich am Samstag, dem 23. März, an der Riviera aufhielt, nahm die 73-jährige Geneviève Legay, Sprecherin der ATTAC-Ortsgruppe — der 20 Jahre alten Nichtregierungsorganisation, die vorschlägt, Steuern auf Finanztransaktionen zu erheben und sie sozialen Zwecken zuzuführen — an der Gelbwesten-Demonstration in Nizza teil, um sich gegen diese Repressionen auszusprechen. Als sie, eine Regenbogenfahne in der Hand, vom örtliche TV-Sender interviewt wurde, erklärte sie: „Wir sind hier, um zu sagen, dass wir ein Recht zu demonstrieren haben. Wir verlassen diesen Platz, wann wir wollen. Und wenn sie Gewalt anwenden … dann werden wir sehen. Ich habe keine Angst. Ich bin 73 Jahre alt, was kann mir schon geschehen? Ich kämpfe für meine Enkel, gegen Steueroasen und die Geldwäsche der Banken, gegen fossile Energie.“

Kurz danach befahl Polizeichef Souchi seiner schwer bewaffneten Bereitschaftspolizei, die friedliche Gruppe, in der Genviève Legay, stand, zu stürmen, woraufhin diese zu Boden stürzte und sich — umringt von Bereitschaftspolizisten — unter anderem einen Schädelbasisbruch und mehrere gebrochene Rippen zuzog. Wegen ihrer schweren Verletzungen liegt sie noch immer im Krankenhaus.

Am Montag stritten der Staatsanwalt und Präsident Macron kategorisch ab, dass sie Kontakt mit der Polizei gehabt hatte. Als der Präsident von einer Lokalzeitung interviewt wurde, brachte er eine scheinheilige Entschuldigung vor: „Wir wünschen ihr rasche Genesung und hoffen, dass sie ein bisschen ‚sagesse‘ lernt" (wörtlich übersetzt „Weisheit“, wird aber auch bei Kindern angewendet, wenn sie sich zu „benehmen“ lernen sollen).

Laut Frankreichs Präsident hätte sich Madame Legay als zerbrechliche alte Dame überhaupt nicht auf den großen Patz begeben sollen und sei nun von der Menge niedergetrampelt worden — der hochnäsige Macron scheint, ähnlich dem arroganten Trump, seinen Spaß daran zu haben, Geschädigte auch noch zu beleidigen.

Wie jedoch das TV-Interview beweist, war sich Geneviève Legay sehr wohl bewusst, dass sie ihr Leben riskierte, um das Demonstrationsrecht zu verteidigen. Sie hatte den Angriff nur wenige Augenblicke, bevor er von Polizeichef Souchi befohlen wurde, vorhergesehen.

Tatsächlich erzählen Videos vom Tatort und die Aussagen von Demo-Sanitätern und anderen Augenzeugen, darunter auch Polizisten, eine andere Geschichte. Offenbar schlug ihr ein Polizist mit einem Schild auf den Kopf und brachte sie zu Fall, woraufhin andere Polizisten sie blutend davonzerrten und den Sanitätern nicht erlaubten, sie zu behandeln. Möglicherweise haben sie sie auch getreten, als sie auf dem Boden lag — dies würde ihre gebrochenen Rippen erklären.

Als Madame Legay später alleine in ihrem Krankenhauszimmer lag — ihren Töchtern wurde ohne Erklärung der Zutritt verwehrt —, traten Polizisten ein und versuchten wiederholt, Madame Legay dazu zu bringen, zuzugeben, dass ein „Kameramann“ sie zu Boden gestoßen hatte. Als sie wiederholte, es sei ein Polizist gewesen, hörten sie auf, Notizen zu machen.

Währenddessen wurden Videos des Angriffs im Internet verbreitet und die unabhängige, leserfinanzierte Nachrichtenseite Médiapart sammelte Augenzeugenberichte und übergab sie dem Staatsanwalt, der am 29. März gezwungen wurde, seine Aussage zu revidieren und eine Beteiligung der Polizei zu bestätigen.

Am 8. April deckte Médiapart die vorsätzliche offizielle Vertuschung dieses Angriffs auf. Es stellte sich heraus, dass die für die Ermittlung zuständige Person — Hélène P., die Polizistin, die Madame Legay im Krankenhaus dazu gedrängt hatte zu erklären, sie sei von einem „Kameramann“ gestoßen worden —, niemand anderes war als die Lebensgefährtin von Polizeichef Souchi, der den Befehl „Stürmen! Stürmen!“ gegen die friedliche Gruppe, in der Madame Legay stand, gerufen hatte.

Dieser Skandal hat nun endlich, nach fünf Monaten gewalttätiger, wahlloser Angriffe auf Gelbwesten — die zwar auf YouTube, nicht jedoch im Fernsehen zu sehen waren — das Schweigen über die Brutalität der französischen Polizei gebrochen. Selbst der Tod von Zaineb Redouane, einer 80-jährigen Frau, wurde nicht eingestanden. Sie starb während einer Demonstration für mehr Wohnraum durch eine Tränengas-Granate, die direkt auf ihr Gesicht abgefeuert worden war, als sie an ihrem Fenster stand,– sie war ja nur eine Algerierin.

Macrons Lügen und Vertuschungen

Macron wurde also bei einer unverfrorenen Lüge ertappt, die die Polizeibrutalität vertuschen sollte. Gar nicht so außergewöhnlich wie man vielleicht denken könnte, angesichts des Skandals, der seit letztem Sommer wie Pech an ihm haftet. Gemeint ist die Benalla-Affäre, auch von Médiapart aufgedeckt und nach Macrons Sicherheitschef benannt, der letztes Jahr auf Video aufgenommen wurde, wie er eine geliehene Uniform der Bereitschaftspolizei trug und brutal mit einem Knüppel auf einen am Boden liegenden Demonstranten einschlug — offenbar einfach aus Spaß an der Freude.

Später wurde dann bekannt, dass Macrons Protégé und linke Hand Benalla in verschiedene internationale Intrigen und Betrügereien involviert war — und mit jedem neuen Beweis, der ans Licht kommt, verliert Macrons Image als Saubermann Frankreichs weiter an Glanz.

Trotzdem wird Macron, ein ehemaliger Sozialist, international noch immer als progressives, demokratisches Staatsoberhaupt angesehen, der Frankreichs archaische „Ausnahme“ vom neoliberalen Dogma effektiv modernisiert — im Kern ein Freund der Menschenrechte.

Die Dämonisierung der Gelbwesten und die De-facto-Zensur durch die Mainstream-Medien verschleiern bis heute die außerordentliche Brutalität seines Regimes.

Sogar die liberale „New York Review of Books“, die in den sechziger Jahren das Schema eines Molotow-Cocktails auf ihrer Titelseite abgebildet hatte, hält an dieser Sichtweise fest und gibt den Protestierenden die Schuld an der „Gewalt“.

Bevor wir uns also anderen Themen zuwenden, lassen Sie uns noch ein paar unangenehme Statistiken ansehen und dann die Rolle des Schwarzen Blocks so genannter „casseurs“ („Kaputtmacher“) bei der Aufrechterhaltung dieser Vorstellung untersuchen.

Wessen Gewalt?

Das offizielle Narrativ besagt, dass die Gelbwesten bis heute die Ordnungskräfte angreifen — man sieht ja auch oft im Fernsehen, dass sie Tränengasbehälter auf die Polizisten zurückwerfen. Innenminister Castaner war bis jetzt kategorisch: „Ich weiß von keinem Polizisten, der die Gelbwesten angegriffen hat.“ Hier die Statistiken:

Während der fünf Monate, in denen sie wöchentlich mit den Gelbwesten aneinandergeraten sind, wurde von keinem Polizisten berichtet, der ernsthaft verletzt wurde.

Demgegenüber listen die neusten offiziellen Zahlen des Innenministeriums 2.200 verwundete Demonstranten, 10 dauerhaft erblindete Augen, 8.700 Verhaftungen, 1.796 Verurteilungen, 1.428 abgefeuerte Tränengaskartuschen, 4.942 abgefeuerte Dispersionsgranaten und 13.460 abgefeuerte „Flashballs“ (Handfeuerwaffen mit Hartgummiprojektilen, Anmerkung der Übersetzerin) auf.

Die in der Schweiz hergestellten Flashballs sind als „beinahe tödliche Militärwaffen“ gelistet; sobald sie jedoch die Grenze zu Frankreich passiert haben, werden sie — hokuspokus — zu „Mitteln der Kontrolle von Menschenansammlungen“. Sie sind extrem stark und auf eine Entfernung von etwa 45 Metern sehr treffsicher. Die Anzahl der Kopfwunden macht deutlich, dass sie — wie auch Tränengaskartuschen und Granaten — absichtlich auf die Köpfe der Demonstrierenden abgefeuert wurden.

Médiaparts Liste führt 606 verwundete und einen getöteten Demonstranten auf, zudem fünf abgerissene Hände, 23 auf einem Auge Erblindete, 236 Kopfwunden (einschließlich weggerissener Kiefer) und 103 Angriffe gegen Journalisten auf. Von den Verwundeten waren 464 Demonstranten, 39 Minderjährige, 22 Zuschauer, 61 Journalisten und 20 Sanitäter.

Und die gewalttätigen Randalierer?

Was den Schwarzen Block und die anderen „Randalierer“ betrifft — sie haben sich bestimmt massenweise der Sachbeschädigung schuldig gemacht, haben jedoch meines Wissens weder Mitmenschen verwundet noch zum Erblinden gebracht oder gar zum Schwerstbehinderten geprügelt. Das ist für mich — jedoch offensichtlich nicht für die französischen Medien — ein bedeutender Unterschied. Ich habe noch nie in Fouquets Restaurant gespeist, bin aber sicher, dass es versichert ist.

Mein Problem mit dem Schwarzen Block auf Demonstrationen der Gelbwesten ist, dass sie nie verhaftet und auch nicht von Flashballs getroffen werden. Wenn Sie auf YouTube gehen, können Sie Dutzende von Videos mit maskierten Kerlen in schwarzer Kleidung sehen, die vor aller Augen mit Brechstangen auf Banken und Geschäfte einschlagen — und niemand hält sie je auf. Warum nicht?

Eine gewisse Anzahl Randalierer wurden als Provokateure im Dienste der Polizei identifiziert und gefilmt. Sie haben die Demonstrationen infiltriert und Dinge zerstört und wurden dann durch die Polizeilinien hindurch herausgeschleust. Dies ist eine alte Taktik der französischen Polizei — sie dient dem Zweck, das Image einer Demonstration zu zerstören und gewalttätige Repression zu rechtfertigen.

In Wahrheit jedoch ist ganz Europa voller zorniger junger Männer, selbsternannter Anarchisten, die das Establishment bekämpfen, indem sie dessen Symbole zerstören. Sie kommen aus ganz Europa.

Die Polizei lässt sie also gewähren und konzentriert sich auf ihre Hauptaufgabe — die große Menge gewöhnlicher Demonstranten brutal zu behandeln, um sie in Angst zu versetzen und damit den Dissens zu ersticken. Außerdem muss man als Polizist, der versucht, Vertreter des Schwarzen Blocks zu stoppen, eher damit rechnen, von diesen grün und blau geschlagen zu werden, als von Jugendlichen, Eltern mit Kindern und alten Leuten wie Geneviève und mir. Mir würde der Schwarze Block viel besser gefallen, wenn er die Polizisten bekämpfen würde, anstatt uns als lebende Schilde zu benutzen, während er seine nachvollziehbare Wut zum Ausdruck bringt und wir beschossen und mit Tränengas besprüht werden.

Rechtsprechung, die die Freiheit vernichtet

Die neuen „Anti-Randalier“-Gesetze, die Macron gerade durch die Instanzen boxt, werden die repressiven Maßnahmen gegen die Gelbwesten legalisieren und in Stein meißeln, sodass sie auch für Macrons Nachfolger — beispielsweise Marine LePen — dauerhaft zur Verfügung stehen werden. Sie haben nichts mit den wirklichen Randalierern zu tun — die ja offensichtlich bestehendes Recht brechen und einfach nur unter diesem Recht verfolgt werden müssten —, sondern ausschließlich damit, es Umweltaktivisten, Gewerkschaftlern und Gelbwesten unmöglich zu machen, zu demonstrieren.

Wenn Du also beispielsweise als Gelbweste einer Kleinstadt samstags den Zug nach Paris nimmst, musst Du damit rechnen, bis zu den Champs-Elysés mehrmals angehalten zu werden. Solltest Du Vaseline, Augentropfen, eine Skibrille, einen Fahrradhelm, einen Gesichtsschal oder — Gott bewahre! — eine Gasmaske in Deinen Rucksack gepackt haben, kannst Du verhaftet und noch am selben Tag in einem Schnellverfahren verurteilt werden. Schließlich gehörst Du einer „Gruppe an, die sich zum Zwecke der Zerstörung öffentlichen Eigentums und der Behinderung der Ordnungskräfte organisiert hat“.

Wenn Du dann auf einem echten Gerichtsverfahren mit Anwalt und allem Drum und Dran bestehst, wird man Dich natürlich mit Vergnügen in U-Haft stecken; wenn Du dann aber am Montag nicht zur Arbeit erscheinst, wirst Du Deinen Job verlieren — und wer kümmert sich dann überhaupt um die Kinder? Und wenn Du es irgendwann doch schaffst, an einer Demo teilzunehmen und diese Demo zu Sachbeschädigung führt, wird man Dich finanziell und rechtlich dafür zur Rechenschaft ziehen. Man könnte dich auch auf eine Liste gefährlicher Personen setzen und Dir verbieten, an weiteren Demonstrationen teilzunehmen — ganz, wie es dem lokalen Polizeipräfekt beliebt.

Die Besorgnis erregende Aussicht darauf, dass diese Polizeistaat-Praktiken zu Gesetzen werden könnten, brachte Pazifisten wie Geneviève Legay gemeinsam mit den Gelbwesten auf die Straße. Als sie im Krankenhaus interviewt wurde, wo sie noch immer unter Schmerzen liegt und sich von den zahlreichen Verletzungen erholt, sagte sie:

„Ich bin heute entschlossen, den Kampf weiter zu führen. Es ist wichtiger denn je, dies zu tun, wenn man die anti-demokratische Tendenz der Regierung sieht. (…) Die Gelbwesten unterstützen mich und ich werde auch sie weiterhin unterstützen. Ich werde nicht damit aufhören, unsere Rechte zu verteidigen, wie ich es fünfzig Jahre lang getan habe, und gegen staatliche Repression zu kämpfen, in welcher Form auch immer sie auftritt.“

Die Katze ist aus dem Sack

Sie wird nicht alleine sein. Die „Ligue des droits de l’homme“ (eine Nichtregierungsorganisation, die sich dem Schutz der Menschenrechte in Frankreich verschrieben hat; Anmerkung der Übersetzerin) und weitere fünfzig Bürgerrechtsorganisationen, religiöse Vereinigungen und weit links ausgerichtete Parteien haben gerade zu einer riesengroßen landesweiten Demonstration am 13. April für das Recht zu demonstrieren aufgerufen — gemeinsam mit den Gelbwesten. Ich hoffe, sie wird gigantisch.

Dass die Wahl auf einen Samstag fiel, ist bedeutsam, stellt es doch einen Akt der Solidarität mit den Gelbwesten dar, die bisher ganz alleine das Recht der Bürger auf Versammlungen auf öffentlichen Plätzen verteidigt haben — und dabei große persönliche Risiken eingegangen sind. 22 Wochen lang haben die Gelbwesten dieses grundlegende demokratische Recht wahrgenommen, indem sie sich grundsätzlich weigerten, die Polizei um Sondergenehmigungen zu bitten, die den Bürgern erlauben, sich auf öffentlichen Plätzen zu treffen oder durch die Straßen zu ziehen.

Stellen wir uns einmal vor, „Occupy Wall Street“ fände wöchentlich im ganzen Land statt, in Städten und auf Kreisverkehren. Ganz auf sich gestellt haben die Gelbwesten durch diese Akte zivilen Ungehorsams, dieses Proklamieren ihres Rechtes gegenüber der Stadt, Tausende von Verletzungen erlitten und Tausende von Verhaftungen erlebt. Nun erfahren sie endlich Wertschätzung und haben endlich Verbündete an ihrer Seite.

Neben den neuen Perspektiven, die aus der Versammlung der Versammlungen der Gelbwesten resultieren, markiert dieser neue Zusammenschluss von Gruppen eine neue Phase in ihrem langen und einsamen Kampf gegen Macrons hartes, antidemokratisches und neoliberales Regime — gegen dieses Regime in seiner ganzen unerbittlichen Tendenz, die relativen Fortschritte in den Lebensbedingungen, sozialen Dienstleistungen und persönlichen Freiheiten zunichte zu machen, die von früheren Generationen von Franzosen 1936 beim Generalstreik, 1945 bei der Befreiung und 1968 beim Generalstreik und dem Studentenaufstand errungen wurden. Eigentlich begann dies sogar schon 1789 mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in der das Recht der Bürger, ihren Beschwerden öffentlich Ausdruck zu verleihen, verankert wurde.

P.S. Währenddessen kämpft auch das algerische Volk, das ein Jahrhundert französischer Kolonialherrschaft, einen langen und blutigen Unabhängigkeitskrieg und mehr als sechzig Jahre einer korrupten polizeistaatlichen Herrschaft hinter sich hat, einen ähnlichen Kampf für Würde und Demokratie: Einmal wöchentlich gehen dort die Menschen — nicht samstags, sondern freitags — massenweise auf die Straße und demonstrieren — bisher friedlich. Die Gelbwesten von Montpellier haben sofort ihre Unterstützung zugesagt. Ironischerweise hat die algerische Polizei bisher davon abgesehen, Gewalt anzuwenden, während hier in Frankreich ein Grad an Repression gegenüber den Gelbwesten herrscht, der mich an die beklemmende Atmosphäre der Polizei-Repression erinnert, die ich als Student in Paris während des Algerien-Krieges erlebt habe.


Richard Greeman ist ein marxistischer Wissenschaftler, der sich bereits lange aktiv für Menschenrechte und Umweltschutz sowie gegen Kriege und Atomkraft engagiert.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Yellow Vest Movement Struggles to Reinvent Democracy as Macron Cranks Up Propaganda and Repression“. Er wurde von Gabriele Herb aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


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