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Die unterschätzte Zähigkeit

Die unterschätzte Zähigkeit

Putin wird in den Medien gern als erfolgloser Aggressor abgetan, aber eine russische Niederlage ist alles andere als sicher.

von Patrick Cockburn

Ich kam Ende 1999 als Korrespondent nach Moskau, als sich Wladimir Putin innerhalb von sechs Monaten aus der bürokratischen Unbekanntheit zum russischen Präsidenten aufschwang. Seinen raschen Aufstieg verdankte er der Unterstützung seines Vorgängers Boris Jelzin, dem Erfolg im Tschetschenienkrieg und der Hoffnung der Russen, dass er das Chaos und die Armut, die sie seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ertragen mussten, beenden würde.

Damals fielen mir Putins kühles Lächeln und sein athletischer Gang auf, die beide selbstbewusst den Eindruck einer geschäftsmäßigen Autorität vermitteln sollten. Ich fragte mich, ebenso wie viele Russen, die sich für sein öffentliches Auftreten interessierten, wie dieser Mann wirklich ist. Ein Witz in Moskau, der sich an den Spott über sowjetische Führer in der Vergangenheit anlehnte, lautete: „Wird es jemals einen Personenkult um Putin geben? Nein, denn um einen solchen Kult zu bekommen, muss man zuerst eine Persönlichkeit haben.“

Mit diesem Spruch wurde Putin wahrscheinlich unterschätzt. Und auf jeden Fall konnte er sich dank seiner Kontrolle über die russischen Medien als kompetenter, „knallharter“ nationaler Führer präsentieren. Aber für mich blieb er immer eine schwer fassbare Figur, ein Experte für die Mechanismen der Machtübernahme und des Machterhalts in Russland, der gleichzeitig einen breit angelegten Appell an den russischen Nationalismus richtet.

Ich habe versucht, einen historischen Führer zu finden, dessen Leben Putins Karriere widerspiegeln könnte. Kurz bevor er im Jahr 2000 zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, nannte mir ein russischer Freund eine Passage aus dem vernichtenden Urteil des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck über Napoleon III., den er als „Sphinx ohne Rätsel“ beschrieb: aus der Ferne eine Erscheinung, aus der Nähe ein Nichts.

Die Analogie scheint heute noch passender, da sowohl Napoleon III. als auch Putin mit überhitztem Nationalismus handelten, der in einer glorreichen Vergangenheit wurzelt, als ihre Länder auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen — im Falle Russlands das Zarenreich und die Sowjetunion, im Falle Frankreichs Napoleon I. auf seinem Zenit.

Beide Herrscher wurden immer arroganter, je länger sie regierten. Napoleon III. stürzte sich 1870 in den Deutsch-Französischen Krieg, etwa 22 Jahre nachdem er im Jahr 1848 zum ersten Mal die französischen Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, und wurde vernichtend geschlagen. Nach fast genau der gleichen Zeitspanne marschierte Putin in die Ukraine ein und musste feststellen, dass er den ukrainischen Widerstand unterschätzt, die russische militärische Stärke übertrieben und eine starke Gegenreaktion der NATO-Mächte falsch eingeschätzt hatte.

Putins politische Persönlichkeit ist bis heute ein Rätsel, viele Experten verurteilen ihn als wahnsinniges Monster und Kriegsverbrecher. Aber eine solche Beschreibung, die durch die Gräueltaten in der Ukraine gerechtfertigt sein mag, ist kaum hilfreich, um zu bestimmen, was er als Nächstes tun wird, was angesichts seiner absoluten Macht in Russland den Frieden in Europa bestimmen wird.

Scheitern als großer Lehrmeister

Westliche Regierungen geben vor zu wissen, was sein Denken bestimmt. „Auch wenn wir glauben, dass Putins Berater Angst haben, ihm die Wahrheit zu sagen“, so Jeremy Fleming, Leiter des Nachrichtendienstes GCHQ (Government Communications Headquarters, deutsch Regierungskommunikationszentrale), „müssen dem Regime die Vorgänge und das Ausmaß dieser Fehleinschätzungen glasklar sein.“

Zwar ist ein Scheitern für Regierungen wie für Einzelpersonen ein großartiger Lehrmeister, aber es könnte nur dazu führen, dass die russischen Streitkräfte fortan klüger kämpfen, da sich ihre gescheiterten mehrgleisigen Vorstöße, die jeweils zu schwach waren, um ihre Ziele zu erreichen, nun auf den Donbass und die Südostukraine konzentrieren.

Die Enthüllungen Flemings und hochrangiger Militäroffiziere vermitteln das bedrohliche Gefühl, dass die russischen Fehler unumkehrbar sind. Pentagon-Sprecher Jim Kirby sagt, dass „die Tatsache, dass er (Putin) vielleicht nicht alle Zusammenhänge kennt, dass er vielleicht nicht ganz versteht, in welchem Ausmaß seine Streitkräfte in der Ukraine versagen, das ist ein wenig beunruhigend“.

Die Aussagen der amerikanischen und britischen Offiziere und Beamten sind jedoch nicht neu. Selbst wenn Geheimdienste über geheime Informationen verfügen, sagen sie selten etwas, was deren Existenz offenbaren würde. Die CIA versuchte beispielsweise verzweifelt, die Tatsache zu verbergen, dass sie das Autotelefon des sowjetischen Staatschefs Leonid Breschnew abhören konnte.

Kein leichter Ausweg

Putin hat fast alles falsch eingeschätzt, was mit seinem Einmarsch in der Ukraine zu tun hat, aber die Anzeichen mehren sich, dass auch die NATO-Mächte in Wunschdenken verfallen, wenn sie beginnen, das Fell des Bären zu verteilen, obwohl er noch atmet. Die Leistung der russischen Armee mag bisher miserabel gewesen sein, aber das wird nicht unbedingt so bleiben. In den vergangenen Kriegen im Irak und in Afghanistan waren die westlichen Regierungen in selbstzerstörerischer Weise bereit, ihrer eigenen Propaganda zu glauben, dass ein besiegter Feind auf der Flucht sei.

Putin — wie töricht seine ursprüngliche Entscheidung zum Angriff auch sein mag — hat immer noch eine schlagkräftige Armee in der Ukraine, während die NATO-Mächte dort keinen einzigen Soldaten haben. Dies ist eine wichtigere strategische Tatsache als Anekdoten über russische Panzer, die absichtlich ihre eigenen Kommandeure überfahren oder deren Ausrüstung sabotieren.

Vor allem die britische Regierung geht davon aus, dass der Krieg nur in eine Richtung gehen kann, und argumentiert, dass ein Friedensabkommen heute verfrüht wäre, weil Putin damit aus dem Schneider sei und von der Ukraine Zugeständnisse verlangen könnte, die bei weiteren militärischen Erfolgen, die die Minister für unvermeidlich halten, vermieden werden könnten. Eine hochrangige britische Regierungsquelle wird mit den Worten zitiert:

„Wir denken, dass die Ukraine militärisch in der stärkstmöglichen Position sein muss, bevor diese Gespräche stattfinden können.“

Er sagte, Putin dürfe nicht einfach aus der Ukraine abziehen, und Boris Johnson besteht darauf, dass die Sanktionen verschärft werden, bis die russischen Truppen die Ukraine einschließlich der Krim verlassen.

Offensichtlich soll die Ukraine für Russland ein tödlicher Sumpf bleiben, so wie Afghanistan für die Sowjetunion in den 1980er-Jahren oder der Irak für die USA und Großbritannien ab 2003.

Ungeachtet der Tatsache, dass ein langer Krieg die Ukraine zu einem irakischen oder afghanischen Ausmaß an Tod und Verwüstung verdammen könnte, wird dabei davon ausgegangen, dass das militärische Pendel vorhersehbar ist und nur in eine Richtung ausschlägt ― eine Annahme, die durch die Hälfte aller Kriege in der Geschichte widerlegt wurde.

Putins machohaftes Selbstverständnis

Während seiner ersten beiden Jahrzehnte an der Macht im Kreml wurden Putins Leistungen innerhalb Russlands und in der ganzen Welt überbewertet. Seit er den Einmarsch in die Ukraine befohlen hat, wird er gerne als verrücktes, aber wirkungsloses Monster abgetan, das einer unvermeidlichen Niederlage entgegengeht. Möglicherweise wird genau das passieren, aber diejenigen, die Putin am energischsten dämonisieren, gehen paradoxerweise davon aus, dass er sich in der Niederlage mit ruhiger Zurückhaltung agieren wird, wenn es um den Einsatz von chemischen oder nuklearen Waffen geht.

Ein Scheitern in der Ukraine könnte Putin aus dem Kreml vertreiben, so wie der Erfolg im Tschetschenienkrieg vor 22 Jahren ihm die Türen geöffnet hat. Im Idealfall könnten er und sein engster Kreis sich wie Jelzin und seine Familie in den Ruhestand zurückziehen, wobei ihnen körperliche Unversehrtheit und riesiger Reichtum garantiert wären, aber eine Flucht würde Putins Macho-Selbstverständnis widersprechen.

Das Gerede darüber, ihn als Kriegsverbrecher anzuklagen, was nur nach einem vom Ausland unterstützten Regimewechsel in Moskau geschehen würde, kommt ihm zugute, da es seine Behauptung, der russische Staat sei bedroht und müsse sich verteidigen, glaubwürdiger macht.

In den nächsten Monaten werden wir — nach mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht — vielleicht sehen, wer Wladimir Putin wirklich ist.

Mich frustriert, dass es viele gibt, die die Kriegsgräuel verurteilen, sie dann aber als Grund für die Fortsetzung eines Krieges anführen, der unweigerlich zu noch mehr Gräueltaten führen wird. Wenn die Aussage „Krieg ist eine Gräueltat“ mehr als eine Plattitüde sein soll, dann ist die einzige Möglichkeit, das Töten zu beenden, den Konflikt zu beenden. Das bedeutet nicht, dass Kriegsverbrecher ungeschoren davonkommen, sondern die Erkenntnis, dass Kriege solche Verbrechen zwangsläufig mit sich bringen— wenn auch nicht weniger schuldhaft.

Dennoch gibt es eine wachsende Zahl von Politikern und Experten, die bereit sind, bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen, um den russischen Bären zu besiegen. Zum Teil wird dies durch die Empörung der Bevölkerung über die russische Brutalität gegen Zivilisten angeheizt, die jeden Abend im Fernsehen zu sehen ist. Politiker, vor allem in Washington und London, genießen den Gedanken, dass Russland im ukrainischen Sumpf gefangen ist, ohne sich groß darum zu kümmern, was mit den mehr als 40 Millionen Ukrainern geschieht, die auf diesem Schlachtfeld leben.

Besorgniserregend ist auch der fast schon leichtfertige Glaube, dass Putin in diesem Konflikt niemals taktische Atom- oder Chemiewaffen einsetzen würde. Woher diese Zuversicht kommt, ist mir ein Rätsel. The Economist schreibt ernsthaft, dass „die beste Abschreckung darin besteht, dass die NATO der verschleierten Drohung Putins entgegentritt und deutlich macht, dass eine nukleare oder chemische Gräueltat zu Russlands völliger Isolation führen würde“. Das wird den Kreml wirklich zum Erzittern bringen.

Unter dem Radar

Die von Russland in der Ukraine begangenen Gräueltaten sollten zu einer stärkeren Verurteilung ähnlicher Verbrechen in Aleppo, Gaza, Raqqa, Sanaa, Mosul und an unzähligen Orten in Afghanistan führen. Aber irgendjemand wird immer die Hand heben und sagen, dass dies ein „How-about-ismus“ ist — ein dummes Argument, das zu einer Charta der Heuchler geworden ist. Es widerspricht auch dem gesunden Menschenverstand: Würde jemand behaupten, dass die Veröffentlichung eines Mordes in Lancashire die Abscheulichkeit eines Mordes in Kent irgendwie abwertet? Doch auf dem Höhepunkt der Bombardierung der Ukraine wollen eine Reihe von US-Senatoren genau das tun, indem sie eine Untersuchung der israelischen Bombardierung des Gazastreifens einstellen.


Patrick Cockburn ist ein irischer Journalist und seit 1979 Korrespondent im Nahen Osten, zunächst für die Financial Times, seit 1990 für den Independent. Er wurde 2005 mit dem Martha-Gellhorn-Preis für Kriegsberichterstattung und 2006 mit dem James Cameron Memorial Award ausgezeichnet. Sein aktuelles Buch War in the Age of Trump: The Defeat of ISIS, the Fall of the Kurds, the Conflict with Iran erschien im Sommer 2020.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien am 4. April 2022 unter dem Titel „Putin is Being Written Off as an Ineffectual Monster, but a Russian Defeat is Far From Guaranteed bei CounterPunch. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


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