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Die Vordenkerin

Die Vordenkerin

Die Ideen Rosa Luxemburgs können uns bei der Suche nach Kapitalismus-Alternativen bis heute inspirieren.

Was haben die Ideen von Rosa Luxemburg mit den international aufkeimenden Sozialismus-Vorstellungen heute noch zu tun?

Kann Sozialismus die Demokratie retten? So die Grundfrage einer Debatte, die seit den letzten Wahlen in den USA an Fahrt gewinnt. Im New Yorker las man im vorigen Sommer eine Reihe von Interviews, die „the S-word“ zum Thema hatten. Unter anderem mit der 29-jährigen Alexandria Ocasio-Cortez, die es mit dem Selbstverständnis als Sozialistin zum neuen politischen Rockstar bringen konnte — siehe Freitag Nr.1/19. Wie Berni Sanders auch. Aber was meinen sie und andere damit?

Sie werden kaum an Rosa Luxemburg denken, der es ein Hauptanliegen war, Demokratie und Sozialismus zu versöhnen. Unter den US-Linkeren wächst aber ein Konsens, dass Kapitalismus Ungleichheit produziert, der zu Oligarchien führt, die die Demokratie untergraben. Diese Oligarchien bergen die große Gefahr, den Weg zum Faschismus zu bahnen, was nur durch Sozialismus verhindert werden könne. So etwa Theo Horesh am 13. Dezember 2018 auf der linken Plattform commondreams.org. Nur Sozialismus könne die Oligarchie aufbrechen, sozialen Ausgleich schaffen, so dass Demokratie effektiv zu funktionieren vermöge. Man sieht dort zwei junge Frauen, die ein Transparent hochhalten: Demokratischer Sozialismus — Kapitalismus hat uns im Stich gelassen! Neben das S-Wort ist ein knallrotes Herz gemalt.

Immer wieder wird betont, Sozialismus müsse mehr Gleichheit bringen, ohne dabei die Freiheit auszulöschen. Die Rolle des Marktes müsse respektiert werden, ohne ihn die Gesellschaft dominieren zu lassen.

Sozialismus könne den drohenden Faschismus nicht stoppen, wenn es missglückt, die Rutschbahn von der Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft zu stoppen. Zu stoppen sei eine marktgerechte Demokratie also, wie sie Noch-CDU-Kanzlerin Merkel angestrebt hat. Diese Begrifflichkeit verdeutlicht, was mit dem S-Wort wohl am ehesten verbunden wird: Eine funktionierende soziale Marktwirtschaft sozialdemokratischer Prägung, wie sie in den 60er und 70er Jahren in Europa, speziell in Skandinavien, doch verdammt noch mal funktioniert hat.

Dabei wird gern die damalige Konkurrenz mit dem realsozialistischen System übersehen, das sich neben der Sowjetunion über China, Teile Asiens, den Nahen Osten und das noch nähere Osteuropa ausgebreitet hatte. Diese Konkurrenz hatte den westeuropäischen Gewerkschaften und deren verbündeten sozialdemokratischen Parteien ein so existentielles Gegengewicht zugemessen, dass sie in spürbarem Umfang soziale Zugeständnisse von Unternehmen, ideologische Hilfe von deren Medien und gar materielle Zuwendungen selbst von Geheimdiensten wie der CIA bekamen. Von all dem kann keine Rede mehr sein.

Mit dem Schwächerwerden und dem schließlichen Wegfall der Systemkonkurrenz konnte das Kapital seine Verwertungsbedingungen auf brutale Weise über den ganzen Globus ausdehnen. Und keine Sozialdemokratie mit derzeitigem Antlitz ist fähig, es darin zu stoppen.

Stattdessen, oder wohl deshalb, befindet sie selbst sich im freien Fall. Das Wall Street Journal kommt zu dem Schluss, dass der Neoliberalismus nicht mehr demokratisch abwählbar sei.

Aber von so viel Geschichtsbewusstsein wollen sich offenbar viele junge Leute nicht beirren lassen. Die Generation, deren politisches Bewusstsein in den Jahren des ökonomischen Kollapses 2008 bis 2010 und der im Grunde anhaltenden Finanzkrise geprägt wurde, kommt zu überraschenden Einsichten. 2016 hat das Institute of Politics der Harvard Kennedy School junge Leute zwischen 18 und 29 Jahren befragt. Eine Mehrheit, nämlich 51 Prozent, hat den Kapitalismus abgelehnt. Diese Gruppe sah voller Ängste in die Zukunft. Genau ein Drittel befürwortete als Ausweg den Sozialismus. In dem Umfrage-Institut war man von dem Ergebnis so erstaunt, dass man ausschließen wollte, dass etwas nicht korrekt gelaufen sei. Deshalb ließ man die Umfrage mit größerer Repräsentanz in derselben Altersgruppe wiederholen. Und kam zu demselben Ergebnis.

Die Direktorin des Institutes, John Della Volpe, fand oder erfand tröstliche Erklärungen. Wenn diese jungen Leute von Sozialismus sprechen, würde ihnen ein kanadisches Gesundheitswesen vorschweben, nicht etwa ein sowjetisches. Sie wünschten eine Mischung aus Teddy Roosevelts Square Deal, also Chancengleichheit und Sozialleistungen für alle, aber auch Schutz der Mittelklasse vor zu extremen Forderungen der Gewerkschaften, und dem New Deal des späteren Franklin Roosevelt, also den Erhalt der Demokratie während der Weltwirtschaftskriese der 30er Jahre. Das gelang durch couragierte Eingriffe des Staates zugunsten von dringend benötigten Sozialleistungen und vorsichtiger Regulierung der Finanzmärkte. Sein Hauptziel hat aber auch der New Deal nicht erreicht: eine gerechte Verteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen. Und das ist bis heute die sich steigernde Erblast des Kapitalismus.

Kenner der Szene neigen eher dazu, dass den jungen Leuten diese Details der eigenen Geschichte nicht sonderlich präsent sind, und schon gar nicht die Unterschiede diverser Health-care-Systeme. Wenn sie von Sozialismus sprächen, meinten sie vor allem etwas, was das Gegenteil von dem ist, was sie gegenwärtig erleben. Immerhin ist die soziale Kluft in den USA in vielen Bereichen fast zehn Mal so groß wie etwa in Frankreich. Deshalb kommt in der jetzigen US-Debatte auch die Frage auf, weshalb die Betroffenen, wenn sie schon so kritisch denken, nicht ansatzweise so reagieren wie eben die Gelbwesten in Frankreich.

Das könnte damit zu tun haben, dass ihre Eltern viel stärker verinnerlicht und vermittelt haben: Das eigene, schwere Schicksal ist auch die eigene Schuld. An die Spitze wachsen eben angeblich nur die Besten. Dieses Leistungsdenken herrscht zwar auch in neoliberalen Ordnungen wie der französischen. Aber die französische Kultur beweist immer wieder, dass sich ganz tief im Langzeitgedächtnis ihrer Bürger doch auch ein Reststolz auf die weltverändernde, revolutionäre Leistung von 1789 erhalten hat: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Während in den USA, aber auch in weiten Teilen Europas einschließlich Westdeutschlands, der Begriff Gleichheit eher diffuse, antikommunistische Reflexe auslöst.

An dem Punkt kommt man nicht umhin zu erwägen, welche Folgen im kollektiven Mehrheits-Bewusstsein einer Nation fehl- oder niedergeschlagene Revolutionen wie die Novemberrevolution von 1918 hinterlassen haben. Und damit auch die Ideen der Revolutionärin Rosa Luxemburg. Hätte sie neben den Begriff Sozialismus auch ein rotes Herz gemalt? Wenn die auf Piktogramme reduzierte Ikonografie damals schon so fortgeschritten gewesen wäre, durchaus denkbar. Denn entgegen dem Klischee, wonach die rote Rosa immer die radikalste unter den Radikaldemokraten gewesen wäre, hat sie in entscheidenden Momenten durchaus erfolglos versucht, einen „etwas verfeinerten Radikalismus“ durchzusetzen.

So vor hundert Jahren auf dem Gründungsparteitag der KPD in Berlin. Dort wandte sie sich entschieden dagegen, die neue Partei kommunistisch zu nennen. Dies würde ihre Aufgabe behindern, die „Verbindung zwischen den Revolutionären des Ostens und den Sozialisten Westeuropas“ herzustellen. Sie wurde überstimmt …

In ihrem Sozialismus-Modell gab es zwei Kernpunkte: die Frage der demokratischen Repräsentation und die Ausdehnung der Demokratie auf die Wirtschaft.

Beides war für sie Voraussetzung einer sozialistischen Demokratie, die sich von der bürgerlichen mit ihrem „herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit“ grundlegend unterscheiden sollte.

Die arbeitende Masse sollte aufhören, eine regierte Masse zu sein, stattdessen in freier Selbstbestimmung leben. Wenn es nun Überlegungen gibt, die Demokratie durch Sozialismus zu retten, so müsste konsequenterweise bedacht werden, ob das nicht heißt, die bürgerliche Demokratie durch eine sozialistische zu ersetzen, die bisher zwar angedacht, aber nie umgesetzt wurde. Rettung also nicht durch Rückkehr zu Gewesenem, da das Gewesene weder wieder herstellbar, noch für alle tauglich wäre, sondern nur durch etwas wirklich Neues.

Eine Rätedemokratie zum Beispiel, wie sie sich nach allen Revolutionen, so auch im November 1918 spontan herausgebildet hatte. Arbeiter- und Soldatenräte, deren Mandat sehr eng an den Wählerwillen gebunden werden sollte. Im Unterschied zu den sogenannten freien Mandaten westlicher Parlamentarier, deren Freiheit darin besteht, den Wählerwillen gegen die Parteiraison auszutauschen zu dürfen. Was einen Großteil des Frusts der sich so nicht vertreten Fühlenden ausmacht. Weshalb der Rätegedanke später immer wieder belebt wurde, euphorisch von Hannah Arendt, aber auch von den Jusos und den Grünen. Vergeblich.

Vor einhundert Jahren würdigte die SPD im VORWÄRTS zwar die „Errungenschaften der Revolution“, bekämpfte sie aber gleichzeitig durch einen Geheimpakt mit Generälen der Obersten Heeresleitung. Die Regierung Ebert gab vor, nur den bolschewistischen Terror der Spartakustruppe verhindern zu wollen, ließ aber selbst auf terroristische Weise die ganze Revolution zusammenschießen. Und duldete gar, dass gerade die Führer der KPD skrupellos ermordet wurden, die die spätere Stalinisierung der Partei sehr wahrscheinlich verhindert hätten. Rosa und Karl. Die unaufgearbeitete Geschichte liegt im Wege wie eine Falle.

Das gilt auch für die Frage, wie die Funktionslogik des Kapitalismus tatsächlich gebrochen werden kann. Nämlich die permanente Maximierung von Wachstum und Profit auf Kosten der Natur und des Gemeinwohls und die Reduzierung des Menschen auf eine Konsummaschine.

Die zentralistische Planwirtschaft hat diese Logik zwar teilweise gekappt, was durchaus emanzipatorische Momente hatte, aber sie hat die Effizienz des Profitsystems gleich mitgekappt. Zwischen Krieg, Knast und Kanal konnte Rosa Luxemburg ihre Wunschvorstellung von der Herrschaft des Volkes über den Wirtschaftsprozess der Gesellschaft nicht mehr konkretisieren.

Sicher, Abschaffung der Kriegs- und Rüstungsindustrie, Vermenschlichung des Charakters der Arbeit und Sozialisierung der Großbetriebe. Aber wie viel Hierarchie würde eine auf Gemeineigentum basierende Wirtschaft verkraften oder auch brauchen? Und worin genau bestünde die neue Qualität der Verfügungsgewalt gegenüber dem früheren Staatseigentum? Fragen, die der Realsozialismus mit immer neuen ökonomischen Systemen angefangen hatte auszuprobieren, die aber durch den eklatanten Mangel an Spielraum für Experimente und Abweichung, für sozialistische Demokratie, nicht abschließend beantwortet werden konnten.

Wenn nun also eine Kraft gebraucht wird, die in der Lage ist, sich der Gefahr neuerlichen Faschismus entgegenzustemmen, so kann nur gelten: Zukunft ist zu Ende gebrachte Geschichte.


Quellen und Anmerkungen:

Eine leicht gekürzte Fassung erschien zuerst in: Freitag Nr. 2, 10.1.2019


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