Am Abend möchte ich mir einen Film anschauen. Mit der Fernbedienung zappe ich zu Netflix und suche mir etwas „Schönes“ aus. Wenn ich allein bin, schaue ich am liebsten Thriller. Was darf es sein? Ein Klassiker? Etwas Modernes? Dirty Harry?
Ich navigiere durch die Programmmenüs. Auf etlichen Vorschaubildern ist schon vermerkt, ob mir der Film mutmaßlich gefallen wird. Die für mich passendsten Angebote hat Netflix mit einem Siegel aus zwei erhobenen Daumen gekennzeichnet. Irgendwann werde ich fündig und entscheide mich für Im Westen nichts Neues.
Bevor ich den Film starte, warnt mich eine Einblendung, auf welchen Ebenen das ausgesuchte Produkt mein psychisches Wohlbefinden gefährden könnte. Zum Beispiel bekomme ich den Hinweis auf gesundheitsgefährdende Stroboskopeffekte. Außerdem, so lese ich, könnte der Film womöglich Szenen enthalten, die mich verstören. Was soll ich tun? Soll ich die Auslösetaste drücken? Oder begebe ich mich doch lieber auf die Terrasse?
Draußen herrschen frühsommerliche Temperaturen. Als ich Netflix wieder verlasse, lande ich zufällig auf dem Zweiten. Der Wettermoderator erklärt mir vor blutroter Wetterkarte, wo es aktuell besonders heiß ist. Um die 26 Grad soll es bei mir haben.
Was harmlos klingt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als klimatisches Fiasko. Die 26 Grad sollen sich nämlich nicht wie 26, sondern wie 32 Grad anfühlen. Der Moderator rät, ich solle den Schatten aufsuchen, wenn es mir zu heiß wird. Außerdem sagt er, bei solchen Temperaturen müsse man immer ausreichend trinken.
Deshalb drehe ich den Terrassentürhebel wieder zurück und schenke mir lieber ein Glas Wasser ein … ich zögere.
Ich erinnere mich, wie ich vor Kurzem meinen Sohn vors Haus schickte, weil es mich draußen bei gefühlten 20 und realen 16 Grad gefröstelt hatte. Er sollte für mich nachschauen, wie warm sich das Wetter für ihn anfühlte. Also trat er durch die Haustür und verweilte einen Moment auf dem sonnenbeschienenen Hof. Nach geschätzten 20 Sekunden rieb er sich bibbernd die Arme und sagte: „12 Grad“. Als er sein Urteil verkündete, trug er eine Jogginghose und ein kurzes T-Shirt. Bei gefühlten 20 Grad hätte seine Kleidung also ausreichen müssen. Wollte er mir etwa einen Streich spielen? Wie sollte ich wissen, ob mit mir alles in Ordnung war, wenn er die Sache nicht ernst nahm? Doch auch als ich ihn zur Rede stellte, blieb er bei seiner Schätzung: 12 Grad. Mein Frösteln war demnach keinem sich anbahnenden Infekt geschuldet, sondern es beruhte tatsächlich auf den Witterungsbedingungen. Wie sollte ich bei meinem bibeldicken Impfbuch auch Fieber bekommen?
Von der Erinnerung gestählt, fasse ich mir ein Herz und öffne vorsichtig die Terrassentür. An der Sonne ist es warm. Es gibt jedoch keinen Grund, sich im Haus zu verkriechen. Wenn man mich jetzt ohne Vorinformation nach der Temperatur fragte, käme mir als Erstes die Formulierung „so ungefähr 25 Grad“ in den Sinn. Ich entschließe mich daher, noch kurz in den Wald zu fahren und dort eine Runde zu drehen.
Das Waldgebiet meiner Wahl liegt ca. 5 Kilometer vom Haus entfernt. Mit einem Anflug schlechten Gewissens (CO2 und so) schnappe ich mir den Autoschlüssel und setze mich hinters Steuer. Als ich den Zündschlüssel umdrehe, suche ich mir erst einmal passende Musik aus. Ich entscheide mich für Metallica, No Leaf Clover. Damit sich die Musik tiefer einprägt, drehe ich den Lautstärkeregler nach oben. Doch als ich den Rückwärtsgang einlege, korrigiert mein Skoda den Geräuschpegel auf ein gesundes und sozialverträgliches Maß. Nichts soll meine Konzentration ablenken, wenn ich auf den Stichweg vor meinem Haus zurücksetze. Die donnernden E-Gitarren und das aufbrausende Sinfonieorchester mutieren zu einem kaum noch hörbaren Grundrauschen. All das geschieht zu meinem Besten. Denn die Menschen, die das Auto konstruiert haben, sorgen sich um meine Gesundheit — und um die Gesundheit derjenigen, die ich durch einen unbedachten Fahrstil gefährden könnte.
Die Musik kehrt erst zurück, als ich an der nächsten Einmündung abbiege. Mein Weg führt durch eine Dreißigerzone. Sie wurde eingerichtet, weil die Anwohner sich durch die Fahrgeräusche belästigt fühlten. Da ich selbst in der Gegend wohne und dort auch viele Kinder unterwegs sind, befürworte ich die Verkehrsregelung.
Ein Junge nähert sich der Fahrbahn über den Gehsteig. Sein Alter schätze ich auf ungefähr 15 Jahre. Er benutzt einen E-Scooter, mit dem er ganz schön Tempo machen kann. Ich verlangsame meine Fahrt, damit er vor mir über die Straße schießen kann. Schließlich möchte ich keinen Unfall riskieren, und auch die Laune meiner Nachbarn liegt mir sehr am Herzen.
Beseelt von friedvoller Stimmung, tuckere ich durchs Wohngebiet. Die 26 Grad Außentemperatur erwärmen meinen Skoda inzwischen spürbar, sodass mich schon bald ein Anflug von Missmut überkommt. Ich drehe den Belüftungsregler nach oben und stelle auf kalt, worauf das Gebläse unangenehm rauscht. Der Ton unterwandert meine Metallica-Klänge und schiebt sich als grölende Dissonanz zwischen mich und meinen Kunstgenuss. Die Musik gebietet mir, den Regler wieder zurückzudrehen. Andererseits bin ich zu wehleidig, um die ansteigende Wärme hinter dem Lenkrad zu ertragen. Deshalb schalte ich auf Radio.
Das Brabbeln im Hintergrund dient mir als Orgelpunkt zu meinen fahrerischen Lebensäußerungen. Am Ende fühle ich mich, als würde ich einen Einkaufswagen durch einen Selbstbedienungsladen steuern. Mir ist warm und wohlig zumute. Im Wagen stellen sich Bedingungen ein, die man zu Johann Sebastian Bachs Zeiten wahrscheinlich „wohltemperiert“ genannt hätte.
Hinter der nächsten Kurve beginnt erneut eine Dreißigerzone. Am Straßenrand erblicke ich eine elektronische Anzeigetafel. Derweil flattert am Rathaus erhaben die Regenbogenflagge und verkündet mir warm ihre Botschaft von Menschlichkeit und Toleranz.
Ich bremse, damit die Anzeigetafel mir einen Smiley zeigt. Kurz darauf lächelt mich das Bewertungsmännchen tatsächlich an und verkündet: „Sie fahren 26 km/h!“
Ich biege ab ins Viertel der Bessergestellten, wo vor einer alten Stadtvilla ein alter 2CV mit Oldtimerkennzeichen parkt. An seinem Heckflügel klebt standesgemäß eine Sonnenblume, auf der „Atomkraft? Nein, danke!“ steht. Das Gefährt mutet an wie ein Relikt aus meinen Kindertagen. Mich beschleicht das Gefühl, dass an dem Bild irgendetwas nicht stimmt. Doch leider macht es nicht Klick. Für mein Gefühl gibt es keine passenden Worte. Etwas liegt in der Luft. Aber was?
Inzwischen nehme ich im Hintergrund Nachrichten wahr. Der Sprecher verkündet, die Bundesregierung habe ein neues Sondervermögen für Kriegsgerät lockergemacht.
Die Stimme von Pistorius dringt durch die Lautsprecher und faselt etwas von „Kriegstüchtigkeit“ und „Zeitenwende“. Wenn die jungen Leute nicht freiwillig zur Armee gehen, müssse man sie eben zwingen, sagt er. Außerdem könnten wir den Israelis ja nicht für alle Zeit unsere „Drecksarbeit“ aufbürden.
Wir sollten vielmehr selbst Hand anlegen und „Verantwortung übernehmen“. Mit meinen 55 Jahren ergreift mich die Rede ungemein. Ich spüre, wie sich unter meinem Auge eine Träne bildet und über die Wange rinnt. Ich bin so ergriffen, dass ich beinahe anhalten und mir vor Stolz an die Brust fassen möchte. Welch großartige Menschen doch unser Land regieren!
Meine Begeisterung hält noch an, da leitet mich das nächste Straßenschild auf den Waldparkplatz. Die Bundeswehr hat davor ein großes Plakat platziert. Die Worte „DAS GEFÜHL, WENN EINE GANZE ARMEE HINTER DIR STEHT“ prangen darauf. Im Vordergrund ist ein Soldat*innen zu sehen, bei dem es sich ebenso um einen pubertierenden 18-Jährigen oder um eine junge Frau handeln könnte. Dahinter lächeln zwei Männer im besten Alter in die Kamera. Offenbar handelt es sich um Offiziere, denn sie schauen väterlich und abgeklärt drein. Und ganz im Hintergrund? Da wird es lustig; denn da tummelt sich eine Horde Soldat*innen, von denen sich jede*r Einzelne als Gebüsch verkleidet hat. Stramm stehen sie da, die Jungs und Mädels, und ich muss unweigerlich an den E-Scooter-Fahrer in der Dreißigerzone denken. Wäre er als Busch über die Straße gefahren, hätte er wahrscheinlich an einen Kugelstrauch erinnert, den der Wind über den Wüstenboden rollt.
In meinem wohltemperierten Auto finde ich all das gut und wünsche mir nichts mehr als weitere Investitionen in Kriegstechnik und in unsere Bundeswehr. Schließlich arbeiten die modernen Waffensysteme ökologisch einwandfrei und töten wirklich nur das ab, was unbedingt tötungswürdig ist:
Ich muss also nicht befürchten, dass bei einem Bombenabwurf außer dem Russen und dem Iraner vielleicht auch noch irgendwelche Bären, Eichhörnchen oder Schmetterlinge zu Schaden kommen. Und gibt es da nicht etwa schon Bomben und Panzer, die auf ihren Metallhüllen Umweltengel tragen? Vielleicht lassen sich auf den Waffen ja auch noch Schildchen anbringen, aus denen hervorgeht, wie sie sich „anfühlen“. Zum Beispiel könnte man auf eine Landmine schreiben: „Trennt Arme und Beine vom Körper. Fühlt sich aber an wie eine Schürfwunde!“
Was die akustische Umweltverschmutzung durch Kriegsgerät anbelangt, scheint mir indessen noch Nachholbedarf zu bestehen. Nach wie vor sind die Sprengkörper laut und vermögen das Wohlbefinden zarter besaiteter Zeitgenossen zu stören. Wenn also in der fernen Nachbarschaft eine Panzerschlacht tobt, könnten 30er-Zonen eventuell nicht mehr ausreichen, um den Unbill der Lärmbelästigung von uns fernzuhalten. Das könnte jene jungen Menschen verwirren, die aufgrund ihres sozialen Status und ihrer überragenden genetischen Eigenschaften vom Kriegsdienst befreit sind. Darum gehört zu einer guten Vorbereitung auf kriegerische Ereignisse auch zwingend die Investition in Abschirmtechniken, die Bessergestellte vor Lärmbelästigungen und anderem Unbill schützen.
Aus meiner Sicht sollten alternativlose Schlachten mit alternativlosen Waffen in Zukunft an Orte verlegt werden, die weitab der Wohnviertel unserer Kriegsplaner und Schlachtengestalter liegen. Schließlich sind sie es, die kämpferische Auseinandersetzungen vorbereiten und durchdenken müssen. Wenn es also ständig in ihrer Umgebung kracht und knallt, beeinträchtigt das womöglich ihre Kontemplation und schmälert unseren Kriegserfolg. Außerdem sollen die Kinder der Planer ja nicht von Stroboskopeffekten und Gewaltszenen verstört werden. Der Unterschichtsangehörige, der versucht seine zerfetzten Gedärme zurück in den Bauchraum zu schieben; der Offizier, der wimmernd im Graben neben seinen abgetrennten Gliedmaßen liegt; der Säugling, der von einem Querschläger zerfetzt worden ist. All das sind Bilder, die nicht unbedingt schön sind. Sie könnten daher die Moral von denjenigen untergraben, die das einzig Richtige und Wahrhafte tun. Oder wollen wir vielleicht demnächst russisch lernen?
Auf meinem Spaziergang durch den Wald denke ich über „die“
Atombombe nach. „Sterben musst du sowieso, schneller geht's mit Marlboro“, schießt es mir durch den Kopf. Was haben wir als Kinder über diesen Spruch gelacht? Am Horizont türmen sich Gewitterwolken auf, die an einen Atompilz erinnern. Wie viele von den Krachern bräuchte es eigentlich, um uns auszulöschen? Hat Robert Oppenheimer bei Wasserstoffbomben nicht von einer Todeszone von etwa 400 Kilometern gesprochen? Wie wäre es wohl, wenn plötzlich eines dieser Dinger auf uns herabfiele?
Wenn ich an die anderen Todesarten denke, fände ich so etwas Apokalyptisches sogar gut. Der Tod durch die Bombe wäre ein grandioser Höhepunkt für mein wenig grandioses Leben.
Am Ende könnte ich sogar mit meiner ganzen Familie durch die Himmelspforte treten. Oder gibt es vielleicht sogar schon Nukleartechnik, die bestimmte Gruppen von Menschen von der Zerstörung ausklammert? Dürfen bessere Menschen im letzten Moment reklamieren, dass sie ihr Leben lang nur winzige CO2-Fußabdrückchen hinterlassen haben? Fühlen sie sich deshalb so sicher? Schützt sie das vor der Bombe?
Zurück im Auto ploppt auf meinem Handy ein Warnhinweis auf: „Gewitter — Warnstufe rot“. Offenbar bin ich gerade rechtzeitig zurück. Schon stellt sich feiner Nieselregen ein, der Was-Weiß-Ich-Für-Giftstoffe und Viren enthalten könnte. Wenn der Regen so fein nieselt, kann im Grunde nur der Klimawandel daran schuld sein. Und es kann nur bedeuten, dass die Tropfen später noch anschwellen. Am Ende verwandeln sie sich womöglich sogar in Hagel. Für solche Fälle liegt eine Wolldecke im Kofferraum, die ich zur Not zwischen mich und die rauen Elemente platzieren kann. Wenn die Frontscheibe dann von den üblichen, tennisballgroßen Hagelbrocken durchschlagen wird, federt die Decke deren Aufprall auf meinem Körper ab. Ich hole sie sicherheitshalber auf die Fahrerseite und platziere sie auf meinen Oberschenkeln. Nach wie vor streichelt sanfter Nieselregen meine Fenster. Ich bin froh, dass ich unter diesen brandgefährlichen Umständen an keiner kriegerischen Auseinandersetzung teilhaben muss.
Die Sache mit dem Kriegsdienst kann ich eh ad acta legen. Schließlich gehe ich auf die Sechsundfünfzig zu. Wenn es also tatsächlich knallen sollte, wird sich das vermutlich gaaanz weit von mir entfernt abspielen: mit jungen, motivierten Kriegern, die ihrem Land noch etwas zu geben haben (Augen, Ohren, Hände, Füße, Arme, Beine, das Leben und so weiter). Wenn ich könnte, würde ich mich freiwillig melden. Wenn „wir“ nämlich im Osten in den Kampf ziehen, geht es letztlich um die Verteidigung unserer Lebensweise, unserer Werte und unserer Demokratie.
Doch Männer wie ich — wahre Männer, die mutig handeln und sich zu opfern bereit sind — kommen im Krieg leider erst ganz am Ende zum Zug. Dann nämlich, wenn die meisten Schlachten schon geschlagen sind, und der Staatstroß sein letztes Aufgebot an die Front schickt.
Ein letztes Mal denke ich an Pistorius, und wieder kullert mir ein Tränchen über die Wange. Wenn wir doch endlich Ziele im Inneren Russlands angreifen könnten — das würde mir helfen, all dieses Elend besser zu ertragen.

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