In vielen Begründungen zur Verweigerung öffentlicher Räume in Deutschland wird im Kontext von Palästina-Veranstaltungen immer wieder das „Argument“ vorgeschoben, dass die Sicht der Veranstalter einseitig sei. Dies stände im Widerspruch zu wissenschaftlichen Standards, für deren Einhaltung sie Tag und Nacht eintreten würden.
Das jüngste Beispiel kommt aus München. Dort war für den 28. November 2025 ein Seminar mit dem Titel „The Targeting of the Palestinian Academia“ geplant. Dieses Vorhaben löste umgehend einen „Offenen Brief“ aus, den das „Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender (NJH)“ verfasste — mit der „Bitte“, „die für den 28. November am Institut für den Nahen und Mittleren Osten angekündigte Veranstaltung ‚The Targeting of the Palestinian Academia‘ einer umfassenden Prüfung zu unterziehen und bis dahin auszusetzen“.
Die Begründung für diese Verhinderung ist bereits ein besonders markantes Zeichen für wissenschaftsferne Andeutungen und verdachtsbestimmter Ungereimtheiten:
„Wir haben eine Reihe öffentlich zugänglicher Informationen, Screenshots, Zitate und Social-Media-Beiträge zusammengetragen, die auf erhebliche Probleme im Hinblick auf Wissenschaftlichkeit, Sicherheitslage und mögliche antisemitismusrelevante Inhalte hinweisen.“
Was meinen die Autoren mit „erhebliche Probleme im Hinblick auf Wissenschaftlichkeit“? Wer beschwört „eine Sicherheitslage“, die die Stadt München nicht im Griff haben könnte? Am Ende dieser Andeutungskaskade dürfen selbstverständlich „mögliche antisemitismusrelevante Inhalte“ nicht fehlen.
Kann es also möglicherweise gar nicht um diese Andeutungen gehen, sondern um die Eindeutigkeit von Vorwürfen, die nicht „problematisch“ sind, weil man sie nicht belegen kann, weder in diesem Seminar, noch an anderen öffentlichen Orten, sondern aufgrund der vorliegenden Fakten, die unbestreitbar sind, wenn man internationale Gerichte (IGH/ISGH) und die dort laufenden Verfahren anerkennt?
In diesem Beitrag geht es um einen Vorwurf, den man auf den ersten Blick nicht vom Tisch wischen möchte. Wer möchte als unwissenschaftlich gelten, wenn man das für erwiesen hält, weil man in seinem Tun „einseitig“ ist. Tatsächlich sollte es in diesem Seminar darum gehen, unter anderem folgende Vorwürfe darzulegen und zu begründen:
„Das Strafvollzugssystem und die Gefangenen“
„Bildungsmord in Gaza: Herausforderungen und Widerstandsfähigkeit akademischer Einrichtungen“
„Bildungsmord durch das Gesetz“
„Das Strafvollzugssystem Israels und unerbittliche Gewalt“
Die Unterzeichner des Offenen Briefes kommen zu dem Schluss:
„Fehlende wissenschaftliche Balance
Die gesamte Veranstaltung ist ausschließlich mit palästinensischen Referenten besetzt, teilweise mit offener politischer Agenda. Es fehlt jegliche andere israelische oder internationale forschungsbasierte Perspektive. Damit ist der wissenschaftliche Mindeststandard eines multiperspektivischen Diskurses klar verfehlt.“
Bloggerin Angelika Seifriz zerpflückt die angeblich notwendige „wissenschaftliche Balance“ kurz und knapp:
„Das Argument, es fehle die israelische Perspektive, ist ein Nullargument, da es suggerieren will, es sei Pflicht im akademischen Diskurs, auch die Gegenseite im eigenen Vortrag zu Wort kommen zu lassen.
Das widerspricht jedoch der akademischen Freiheit. Standard ist nämlich, dass die ‚Gegenseite‘ eine Antwort auf die vorgebrachten Thesen in einer eigenen Veranstaltung, in einem eigenen Paper et cetera gibt.
Oder hat jemand schon mal was von dieser ‚wissenschaftlichen Balance‘ gehört, die verlangt, dass man in einem Seminar über Sexismus zwangsläufig auch die Perspektive der Täter darstellen muss? Oder Vertreter des Neoliberalismus automatisch auch keynesianische oder sozialistische Theorien vorzustellen haben?
Den jüdischen Hochschullehrenden wäre es natürlich freigestanden, die vorgebrachten Thesen Wort für Wort zu zerpflücken und zu widerlegen.
Aber mit falschen Argumenten und Lobbyarbeit vorauseilend eine Veranstaltung zu unterbinden, ist das Gegenteil von Wissenschaftsfreiheit: Es ist Zensur!“
Tatsächlich reichte diese Mischung aus Andeutungen und „wissenschaftlichen Sondergesetzmäßigkeiten“, aus, um zu verhindern, genau darüber zu diskutieren und zu streiten. Das Seminar wurde abgesagt.
Die Unterzeichner des „Offenen Briefes“ haben ihre Absicht erreicht. Man darf sie in dieser Siegesstimmung also auch fragen, ob sie sich — absolut kurzzeitgedächnis-tauglich — an die Veranstaltungen in Düsseldorf und Wiesbaden im Oktober 2025 erinnern? Ja, klingelt es? Ein Mann, den sie sicher kennen, das „deutsche Gesicht der israelischen Armee (IDF)“: Der Ex-Militärsprecher Arye Sharuz Shalicar. Er sieht sympathisch aus, ist in Berlin aufgewachsen und spricht folglich fließend deutsch. Gerne wird er von allen Genozidfreunden und -leugnern in Deutschland herumgereicht. Auch Umarmungen sind drin, wie die von Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen Philipp Peyman Engel mit besagtem Shalicar.
Wenn er mal nicht erklärt, dass die Hamas an allem schuld ist und dass alles am 7. Oktober 2023 begann und, wie sein Chef Benjamin Netanjahu angekündigt hat, mit Sparta-Plus enden soll, macht er gerne in der Freizeit Jagd auf Journalisten. Das machen seine Kameraden auch. Doch er erschießt sie nicht, hier in Deutschland, sondern erstellt „Feindeslisten“.
Haben die Unterzeichner des Offenen Briefes auch in diesem Fall die absolute Einseitigkeit dieser Veranstaltung beklagt? Wurde eine (palästinensische) Gegenstimme eingeladen? Wurde ein Aufruf verfasst, der diese fehlende wissenschaftliche Balance anmahnt? Nein.
Sie waren so begeistert einseitig, seinen Kriegserlebnissen zu lauschen, weil es ihnen bei ihrer Einseitigkeit vor allem um eines geht: Das Monopol darauf zu wahren.
Einseitig. Aber ja doch.
Man kennt diesen Vorwurf, der wie Konfetti in den Raum geworfen wird, wenn ausnahmsweise im „öffentlichen Raum“ nicht das passiert, was im medialen, staatsnahen Sektor seit Jahren ganz selbstverständlich ist. Erst im Corona-Ausnahmezustand und nun seit zwei Jahren mit Blick auf den Genozid in Gaza/Palästina und der Beihilfe dazu durch die deutsche Bundesregierung.
Sehr lange und bestens abgeschirmt haben sie in TV-Sendungen und Talkshows unter sich geredet: Genozidleugner und Kriegsbefürworter, „Verteidigungsrecht“-Krieger in Israel, den USA und Deutschland. Erst in den letzten paar Monaten muss man als Alibi jemanden in die Runde aufnehmen, der dieser eingespielten Phalanx widerspricht — mit möglichst vielen Einwürfen und Schikanen.
Das fanden alle gut und wissenschaftlich, also demokratisch „ausbalanciert“, gerade jene, die jetzt wild und gekonnt „Einseitigkeit“ rufen, damit ihre Einseitigkeit unangetastet bleibt.
Obwohl man all dies und mehr einwenden, den Kartenspielertrick schnell aufdecken kann, stellt sich dennoch die Frage:
Wollen wir einseitig sein?
Nehmen wir einmal den Vorwurf der Einseitigkeit ernst, also für bare Münze — und spielen sie — beidseitig — aus.
Wenn man eine Veranstaltung gegen den Faschismus, gegen faschistische Tendenzen in Europa machen will, müsste man doch — um nicht einseitig zu sein — die Vorzüge des Faschismus berücksichtigten und darlegen?
Wenn man eine Veranstaltung gegen den Rassismus machen will, müsste man — um nicht einseitig zu sein — die schönen Seiten des Rassismus darlegen und würdigen?
Und wenn man eine Veranstaltung gegen den Antisemitismus machen will, müsste man — um nicht einseitig zu sein — den gewaltigen wirtschaftlichen und psychosozialen Gewinn darlegen, den man mit Antisemitismus erzielen und erwirtschaften kann?
Das gälte sicherlich auch für die Verurteilung der systematischen Folter in israelischen Gefängnissen. Müsse man dann — um nicht einseitig zu sein — die Folterer mit viel Empathie zu Wort kommen lassen?
Und wenn man — wir kommen zum Ausgangspunkt zurück — eine Palästina-Veranstaltung machen will, müsse man — um nicht einseitig zu sein — neben dem Vorwurf des Völkermordes und der Kriegsverbrechen auch den großartigen Nutzen von Kriegsverbrechen, die hohe Kunst des Genozides gebührend erwähnen und die tadellosen Motive der Genozid-Beteiligten ins Licht rücken, anstatt all dies zu „dämonisieren“?
Das gälte selbstverständlich auch für eine Kritik an der Besatzungspolitik Israels im Libanon, in Syrien, im Westjordanland und in Ost-Jerusalem. In diesem Fall müsse man dann gleichzeitig zeigen und herausarbeiten, welchen unschätzbaren Gewinn eine Besatzung mit sich bringt und wer alles davon profitiert?
Habe ich das jetzt alles richtig verstanden?
Ich möchte den vielen wohlmeinenden und ausgewogenen Antworten mit einer einseitigen Antwort zuvorkommen:
Einseitig ist nicht die Betrachtungsweise.
Einseitig sind die Grundbedingungen für diesen über 70 Jahre anhaltenden Kriegszustand.
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Quellen und Anmerkungen:
Offener Brief zur geplanten Veranstaltung „The Targeting of the Palestinian Academia“ am 28. November 2025, Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender (NJH) vom 13. November 2025: https://n-j-h.de/offener-brief-zur-geplanten-veranstaltung-the-targeting-of-the-palestinian-academia-am-28-november/
Angelika Seifriz, Facebook-Beitrag vom 21. November 2025: https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=pfbid0wJ6ARXyJz3phgn46pKp3T4nGC8Z5ouMPuBMdocGNdqZdayAgGjwHpcFuopdYGspPl&id=100012809088377
LMU sagt Seminar mit Palästina-Thematik ab, Forschung & Lehre vom 18. November 2025: https://www.forschung-und-lehre.de/politik/lmu-sagt-seminar-mit-palaestina-thematik-ab-7394
Das „deutsche Gesicht“ der israelischen Armee (IDF), Wolf Wetzel, 2025: https://wolfwetzel.de/index.php/2025/09/21/das-deutsche-gesicht-der-israelischen-armee-idf/
A Mentsh is Mentsh — und ein Glitch, Wolf Wetzel, 2024: https://wolfwetzel.de/index.php/2024/03/19/a-mentsh-is-mentsh-und-ein-glitch/
Wenn Kabarettisten von Bord gehen und Abtrünnige über Bord geworfen werden, Wolf Wetzel, 2023: https://wolfwetzel.de/index.php/2023/08/01/wenn-kabarettisten-von-bord-gehen-und-abtruennige-ueber-bord-geworfen-werden-teil-ii/
Offener Brief an Markus Lanz, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2022/06/14/offener-brief-an-markus-lanz
Die Stadt, der Müll und die Abfuhr | vorläufiger Schlussakt, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2023/05/16/die-stadt-der-muell-und-die-abfuhr-vorlaeufiger-schlussakt/
Malteser unterbinden Veranstaltung mit Guérot und Krone-Schmalz im Mainzer Haus der Kulturen, NDS vom 14. Juli 2023: https://www.nachdenkseiten.de/?p=101037
Serdar Somuncu verabschiedet sich von der Bühne: „Ey, ich hab’ keinen Bock mehr“, RND vom 10. Mai 2023: https://www.rnd.de/kultur/serdar-somuncu-verkuendet-abschied-von-der-buehne-ey-ich-hab-keinen-bock-mehr-BEZ4TTFP5RCN3FVTLY5MH2K7HI.html



