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Gesunde bringen keinen Profit

Gesunde bringen keinen Profit

Warum herkömmliche „Reformen“ des Medizinbetriebs ins Leere laufen.

Jens Spahn wollen derzeit alle auf einen Kaffee treffen. Eine rätselhafte Anziehungskraft scheint von dem Jungdynamiker auszugehen. Sandra Schlensog, Deutschlands agilste Hartz- IV-Empfängerin – jene Dame, die Spahn per Petition aufforderte, einen Monat lang von der Stütze zu leben – hat schon einen Termin: Am 28. April wird der neue Gesundheitsminister sie in Karlsruhe besuchen. Man sieht: Unsere Politiker kümmern sich echt um die Sorgen der kleinen Leute.

Auch Arnold Schnittger wollte Jens Spahn treffen. Anfang April lief er, seinen behinderten Sohn Nico im Rollstuhl vor sich herschiebend, von Hamburg nach Berlin. Eine 1-Mann-Demo, um auf den Pflegenotstand aufmerksam zu machen. Inspiriert hat ihn hierzu – Sie ahnen es bereits – Jens Spahn. „Als der 66-jährige Fotograf erfuhr, dass Jens Spahn (CDU) zum Gesundheitsminister wird, entschied er spontan, zu dessen Amtssitz zu pilgern“, berichtet „Der Tagesspiegel“. Warum der ganze Aufwand? „Ich möchte ihm meinen Sohn nicht anvertrauen, wenn er alt ist“, sagt Schnittger.

Tut er Deutschlands wahrscheinlich nächstem Bundeskanzler da nicht Unrecht? Jens Spahn hat von Beginn seiner Amtszeit an eine ganze Reihe heißer Eisen angepackt: Den Pflegenotstand erkannte er messerscharf als eines der brennenden Probleme in unserem Gesundheitswesen. Ebenso wie lange Wartezeiten beim Arzt. Des Weiteren forderte er die Krankenkassen auf, ihre Beiträge zu senken. Auch die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung des Gesundheitswesens durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber fällt in seine Schaffensperiode – selbst wenn dies weniger sein Verdienst ist als das der SPD, die diese Entscheidung in einem heroischen Verhandlungsmarathon in den Koalitionsvertrag hineingedrückt hatte.

Gesundheitsminister der Herzen

Also doch der Gesundheitsminister der Herzen? Im Interview mit dem „General-Anzeiger“ verweist Spahn zunächst auf sein eigenes umfangreiches Körperertüchtigungsprogramm und setzt so einen kräftigen Impuls für eigenverantwortungsorientierte Gesundheitsfürsorge. Er fordert Patientinnen und Patienten außerdem auf, einfach weniger ärztliche Versorgung in Anspruch zu nehmen – sicher der Königsweg zu Einsparungen im Gesundheitswesen.

„Unsere hochwertige Rund-um-die-Uhr-Versorgung sollte möglichst nur in Anspruch genommen werden, wenn es auch wirklich nötig ist. Sonst leiden die, die wirklich schnell Hilfe brauchen.“

Als nächstes fordert Spahn – in seiner Altersgruppe offenbar unvermeidlich – mehr Digitalisierung im Gesundheitswesen. „Viele Arzt-Patienten-Kontakte sind einfache Rücksprachen. Diese Rücksprachen könnten über eine digitale Online-Sprechstunde erledigt werden.“ Meint er damit, Patienten sollten ihrem Arzt einfach mailen, statt ihn durch ihre physische Anwesenheit zu belästigen? Oder geht es in Richtung des ohnehin schon reichlich in Anspruch genommenen „Dr. Google“ (eines Diagnosesystems, bei dem man durch Eingabe von Symptomen erfahren kann, was einem wahrscheinlich fehlt)?

Spahn – das politische Notfallprogramm?

Vielleicht winkt am Ende des von Spahn angestoßenen Innovationsprozesses sogar das „Medizinisch-holografische Notfallprogramm“ (MHN), das wir aus der Serie „Star Trek Voyager“ kennen – auf jeden Fall eine Form der Patientenbetreuung, die Humanressourcen einsparen würde. Man könnte das Programm beliebig kopieren und in jeder Arztpraxis bereitstellen. Das MHN wird nie müde, tritt nicht in den Streik und belastet Arbeitgeber nicht durch Gejammer über angebliche Überarbeitung, wie wir es von organischen Pflegekräften kennen.

Neben Digitalisierung hat der CDU-Mann noch einen weiteren Hoffnungsschimmer für ein funktionierendes Gesundheitssystem ausfindig gemacht. Sie dürfen raten – es ist das Wirtschaftswachstum. „Eine gute Wirtschaftspolitik für mehr Wachstum ist die entscheidende Voraussetzung für leistungsstarke Sozialsysteme, die den Menschen wirklich helfen.“ Meint: Wenn die Wirtschaft gut läuft und die Staatskassen relativ prall gefüllt ist (wie im Moment), können wir den Bürgern ein gewisses Niveau der Gesundheitsversorgung gewähren – sonst halt nicht! Es kann ja nur Geld verteilt werden, das da ist. Und wenn keins mehr da ist, müssen wir unterversicherte Patienten eben vor die Tür weisen, wie Michael Moore in seinem Dokumentarfilm „Sicko“ anschaulich darstellt.

„Kranken hilft man“

Worum geht es eigentlich im Gesundheitswesen? Man könnte es mit einem Satz zusammenfassen: „Kranken hilft man.“ So lautet der zentrale Satz in Nick Cassavetes Hollywood-Drama „John Q – Verzweifelte Wut“. Denzel Washington spielt darin einen Vater, der das Krankenhauspersonal mit Waffengewalt dazu zwingen will, an seinem Sohn eine lebensrettende Herzoperation vorzunehmen. Warum das Krankenhaus das nicht ohnehin tut? John Q. ist „unterversichert“. Man lässt den Jungen lieber sterben, als eine Operation durchzuführen, die sich „nicht rechnet“. „Kranken hilft man.“ Das wäre eigentlich ein ganz einfaches Motto, für alle spontan verständlich. Und war da nicht mal die Rede von einem „Hippokratischen Eid“?

Der Begriff „Kranke“ ist natürlich an sich schon ein Auswuchs beklagenswerter linker Gleichmacherei. Er unterscheidet nicht zwischen solventen Kunden und armen Schluckern, zwischen Privat- und Kassenpatient. Die SPD ging mal mit der Idee einer Bürgerversicherung in die Koalitionssondierungen.

Die Aufhebung der Zwei-Klassen-Medizin war angeblich beabsichtigt. Klang recht gut, ich befürchtete aber schon damals, dass wieder nur eine drittklassige Sache dabei herauskommen würde.

Jetzt hat es leider gar nicht geklappt. Die Bürgerversicherung war von den wichtigen Projekten der SPD das einzige, das die Partei im Zuge der Verhandlungen gänzlich fallen ließ. Vielleicht konnte Spahn die aufmüpfigen Sozen davon überzeugen, dass das Problem „Zwei-Klassen-Medizin“ gar nicht wirklich existiert!? Ebenso wie Hartz IV ja nichts mit Armut zu tun hat. Überhaupt ist dies eine Hauptargumentationslinie Jens Spahns: Alles sei ohnehin schon gut, so wie es ist.

„Privat oder Kasse?“ – die Schicksalsfrage

In Grunde waren Privatversicherungen nie etwas anderes als ein Auswuchs der unsolidarischen neoliberalen Eigenverantwortungslogik. Wenn Privatversicherte – bei meinen Eltern durfte ich das miterleben – in ein Krankenhaus eingeliefert werden, dann werden sie als erstes nicht etwa gefragt, wie es ihnen geht; sie müssen ein Formular unterschreiben, in dem sie sich verpflichten, einen Betrag zu bezahlen, der etwa dreimal so hoch ist wie das, was einem Kassenpatienten abgeknöpft wird. Das Geld dürfen sie sich dann später von der Privatkasse zurückholen.

Notgedrungen korrumpieren solche Regelungen den Medizinbetrieb. Wer nicht vom Fuß bis zur Haarspitze von Selbstlosigkeit durchdrungen ist, bei dem sind fortan Privatpatienten einfach beliebter. Arztpraxen sowie Kliniken geben sich keine allzu große Mühe, den „Zweitklassigen“ gegenüber zu verbergen, wie weit unten sie auf der Prioritätenliste stehen.

„Privat oder Kasse?“ wird man gleich am Eingang gefragt, was eigentlich merkwürdig ist, weil sich ein privater und ein Kassen-Nierenstein ja gleichermaßen Schmerzen bereiten.

Wenn die Bürgerversicherung je wieder auf die Tagesordnung käme – etwa im Zuge einer leidenschaftlich herbeigesehnten Koalition Nahles/Bartsch/Hofreiter –, so käme es ganz darauf an, welche Variante sich durchsetzen würde.

Ökonomie über alles

Was bei all diesen „Gesundheitsreformen“ aber zu allererst auffällt, ist die Tatsache, dass es sich ausschließlich um Gesundheitsfinanzierungsreformen handelt. Die Ökonomie, die eigentlich eine dienende Funktion haben müsste, wird wieder einmal zur Hauptsache erhoben. Zwar sprachen und sprechen Politiker natürlich immer wieder in Nebensätzen vom „Wohl des Patienten“. Doch bleibt das, was für die Gesundheit der Menschen aus medizinischer und seelenkundlicher Sicht zu tun wäre, weiterhin ungetan, ja es wird nicht einmal debattiert. Die Hauptfrage sollte doch sein: „Was hilft?“, oder noch besser: „Wie schaffen wir es, dass Krankheiten gar nicht erst entstehen?“

„Kranken hilft man“? So einfach ist das heute nicht mehr. In drastischen Fällen verkommt die Arztpraxis zu einer Art Zusatzleistungen-Basar. In einigen Praxen werden Patienten bereits im Wartezimmer per Videoscreen mit Werbeangeboten beschallt. Manchen Ärzten ist ihre neue Rolle als „Verkäufer“ offenbar selbst peinlich, weshalb der Wartezimmer-Programmanbieter medscreen in einer Broschüre verspricht: „Ja, Sie können Ihre Zusatzleistungen auf medscreen bewerben. So ersparen Sie sich viel vom Verkaufsgespräch mit den Patienten.“ Damit wird als selbstverständlich suggeriert, dass „Verkaufsgespräche“ zu den Aufgaben eines Arztes gehören. „Zuzahlung“ wird so in unserem Gesundheitssystem schrittweise zur gnädigerweise gewährten Ausnahme in einer Selbstzahler-Kultur.

Strafe für Prävention

Jedenfalls gilt das für sogenannte Bagatell-Erkrankungen. Wer heute als Brillenträger eine neue Brille braucht, muss zwischen 400 Euro (Standard) und 800 Euro (Gleitsicht) zahlen – ohne Gestell! Zuzahlung der Kasse: 0,0 Euro. Wer sich unter diesen Umständen keine Brille leisten kann, riskiert weitere Verschlechterung seiner Sehkraft und sogar Unfälle. Wer heute eine Zahnarztpraxis betritt, darf erst einmal eine Blanko-Erklärung unterzeichnen, dass er eventuell nicht von der Kasse getragene Leistungen auch ganz sicher aus eigener Tasche zahlt. Prophylaxe, also das „ganz normale“ Herumkratzen und Herumscheuern an den Zähnen nebst Ratschlägen des Arztes, wie man sich am besten die Zähne putzt, kostet 65 Euro. Eine Strafgebühr für Präventionswillige also.

Wie ökonomisch ist es überhaupt, Menschen zu helfen? Solange wir nicht der Ursache zu Leibe rücken, der Annahme, dass Arztpraxen und Krankenhäuser Wirtschaftsunternehmen seien, die sich „rechnen“ müssten, erübrigt sich das Gejammer über Symptome.

Selbst, wenn wir das Problem ökonomisch betrachten, kann man „Betriebe“, die ihren „Kunden“ immer mehr Geld für immer weniger Leistung abverlangen und die ihre Mitarbeiter (Pflegepersonal und Assistenzärzte) zunehmend ausbeuten und überfordern, kaum als erfolgreich bezeichnen. Meist wird bei Diskussionen über das Gesundheitssystem geflissentlich unterschlagen, dass es neben der Kunden- und Arbeitnehmer-Perspektive noch einen dritten, aber entscheidenden Aspekt gibt: „Unternehmen“ generieren Profite für Anleger und Aktionäre.

„Kostenexplosion“ = Zinsexplosion

Wenn irgendwo ein auf rätselhafte Weise eskalierender Geldmangel auftritt, liegt man meist richtig, dahinter Profitgier und Renditejäger zu vermuten. Dies ist im Gesundheitswesen nicht anders. In welcher Weise kann der im System eingebaute Zwang, „Shareholder Value“ auszuschütten, den Medizinbetrieb beeinflussen? Zunächst auf der Ebene der Herstellungskosten: Hinter der „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen stecken auch hohe Preise für Medikamente und medizinisch-technische Geräte. Hinter diesen stecken Zins und Zinseszins für die Anleger der betreffenden „Pharma-AGs“. Hinzu kommt die Praxis der Patentierung von Medikamenten als „geistiges Eigentum“, durch die sich auf dem Pharmasektor Konkurrenz wirksam ausschalten lässt. Und wer sich konkurrenzlos fühlt, kann sich bei der Preisgestaltung völlig „frei“ fühlen.

Ein dritter Faktor sind Investitionen, die ein Arzt beim Einrichten seiner Privatpraxis tätigen muss. Kaum einer kann sich die Räumlichkeiten und teuren Apparaturen aus der „Portokasse“ leisten. Es müssen also Kredite aufgenommen werden, und davon profitieren Banken und deren Anleger. Allein in Mieten verstecken sich in der Regel über 60 Prozent Zinskosten.

Ein viertes Thema ist die zunehmende Privatisierung von Krankenhäusern. Die Bundesärztekammer spricht diesbezüglich von einer „beispiellosen Privatisierungswelle“, die den Krankenhaussektor in den letzten Jahren überflutet habe. Dazu eine Zahl: Experten schätzen, dass bis zum Jahr 2020 zwischen 40 und 50 Prozent der deutschen Krankenhäuser privatisiert sein werden. Mit einer gesunden Bevölkerung und fairen Löhnen lassen sich hohe Renditen jedoch kaum erwirtschaften.

Der Medizinbetrieb braucht Krankheiten

„Kranken hilft man“? Wenn das so einfach wäre! Wer den Satz ernst nimmt, kann finanziell schon mal in die Bredouille kommen. Eine Bekannte von mir, Heilpraktikerin, erzählte mir neulich von einer Patientin, die durch mehrmalige Behandlung nachhaltig von einem Symptom kuriert wurde. Was kann sich eine Therapeutin eigentlich Schöneres wünschen? Warum wirkte meine Bekannte dann trotz der guten Nachricht irgendwie traurig? „Sie kommt nicht mehr zu mir“, gab sie zu. „Sie ist geheilt, also braucht sie mich nicht mehr.“ Der Verlust einer treuen Stammkundin kann für eine „Kleinunternehmerin“ durchaus ein schwerer Schlag sein. Was soll die Heilpraktikerin also tun? Beim nächsten Mal eine schlechtere Therapeutin sein? Vor diesem grundlegenden Dilemma stehen alle am medizinischen Betrieb Beteiligten.

Der Wille, Gesundheit wirklich zu fördern und zu erhalten, wäre die Grundlage für alle Maßnahmen im Gesundheitswesen, die tatsächlich greifen.

Der Gesundheitsbetrieb hängt existenziell vom Vorhandensein eines Übels ab: der Krankheit. Es besteht somit die Gefahr, dass viele daran Beteiligte zumindest unbewusst nicht ernstlich an der Abschaffung dieses Übels interessiert sind.

Der größte Erfolg eines Arztes (nämlich die vollständige und nachhaltige Gesundung aller Patienten) wäre zugleich sein größter Misserfolg, der Zusammenbruch seiner Lebensgrundlage. Krankheit ist gleichsam das Brennmaterial, ohne dessen ständige Erneuerung das Feuer des gesamten Medizinapparats erlöschen würde. Oder zynisch gesagt: So lange es noch einen einzigen gesunden Menschen gibt, besteht im Gesundheitswesen noch Wachstumspotenzial.

„Abschaffung der Gesundheit“

Was bedeutet Wachstum im Gesundheitswesen konkret? Im günstigsten Fall kann es bedeuten, dass eine Allianz aus Industrie, Ärzten und Medien eine Art kollektive Hypochondrie fördert. Spiegel-Autor Jörg Blech hatte das vor einigen Jahren in seinem Artikel „Die Abschaffung der Gesundheit“ ironisch und zugleich erschütternd dokumentiert. „Natürliche Wechselfälle des Lebens, geringfügig vom Normalen abweichende Eigenschaften oder Verhaltensweisen werden systematisch als krankhaft umgedeutet“, schreibt Blech. „Pharmazeutische Unternehmen sponsern die Erfindung ganzer Krankheitsbilder und schaffen ihren Produkten auf diese Weise neue Märkte.“ Als Beispiele für „Designer-Krankheiten“ nennte der Autor unter anderem das „Sisi-Syndrom“, das „Aging Male Syndrom“, die „larvierte Depression“ oder die „Leisure Sickness“. „Für jede Krankheit gibt es eine Pille – und immer häufiger für jede neue Pille auch eine neue Krankheit.“

Ebenfalls noch vergleichsweise harmlos ist es, relativ geringfügige Symptome ärztlicherseits als dramatische Krankheiten zu klassifizieren. Wirklich kriminell wäre es allerdings, Krankheiten künstlich zu erzeugen und am Leben zu halten – frei nach dem Motto:

„Am Gesundheitswesen hängen so viele Arbeitsplätze, dass es unverantwortlich wäre, den Krankenstand der Bevölkerung dem Zufall zu überlassen.“

Ich werfe keinem bestimmten Arzt, keinem bestimmten Pharmaunternehmen, keinem bestimmten Politiker vor, dieses Ziel bewusst zu verfolgen. Ich warne nur vor einer systemimmanenten Logik, die im Ergebnis dazu führen kann, dass Patienten nicht optimal versorgt, sondern eher zu langfristig Abhängigen von ärztlicher Behandlung werden.

Arztvermeidung aus Geldmangel

Ein weiteres brisantes Thema ist auch die zunehmende Verweigerung notwendiger medizinischer Leistungen gegenüber finanzschwachen Patienten. Unsere Medizin ist schon jetzt auf dem Weg in eine Mittel- und Oberklassenmedizin. Wenig verdienende und „prekäre“ Bevölkerungsschichten stehen nicht selten vor der Alternative: „Essen oder Medikamente?“ Da überlegt man sich jeden Arztbesuch zweimal. Und mit der Entscheidung, bei den Medikamenten zu sparen, ist es ja nicht getan. Die Krankheit ist ja nach wie vor vorhanden, es besteht also die Gefahr der Verschlimmerung und Chronifizierung. Eine solche notgedrungene Arztvermeidungsstrategie der Ärmeren kann dazu führen, dass ein Patient irgendwann wirklich mit einem schwerwiegenden Symptom zurückkehrt. Und dann wird’s richtig teuer.

„Ist der Medizinbetrieb ökonomisch?“ Allein diese Frage zeugt von einer Pervertierung des Denkens. Umgekehrt müsste die Frage lauten: „Sind ökonomische Entscheidungen gesundheitsfördernd oder nicht eher schädlich?“

Unser Wirtschaftssystem leidet unter einem eingebauten Denkfehler, der einen Zwang zu immer mehr Wachstum generiert. Wäre es da verfehlt, zu folgern, dass dieser Wachstumsdruck krank macht und mitverantwortlich ist für Burnouts, Depressionen und andere grassierende „Volkskrankheiten“?

Neben dem ökonomischen ist auch ein psychischer Wachstumsdruck entstanden, der auf zwei Prämissen beruht: 1. „Wenn wir nicht immer noch mehr leisten, leisten wir nie genug.“ 2. „Wenn wir nicht lernen, auf immer mehr zu verzichten, sind wir nicht hart genug für die neue Zeit.“ Dies führt zu einem kollektiven Lebensgefühl der Angst und atemloser Getriebenheit. „Wir schlagen wie wild mit den Flügeln, dass uns der Absturz verschont“, textete Herbert Grönemeyer. Eine nachhaltige Gesundung der Wirtschaft wie auch der kollektiven Psyche ist nur möglich, wenn über ein Wirtschaften ohne Wachstumszwang, also ohne Zins nachgedacht wird.

Wirtschaft ohne Wachstumszwang

Die Lösung kann in allen Fällen nur in folgende Richtung gehen: Ärzte, Apotheker, Pflegepersonal, Medikamentenhersteller müssen existenziell abgesichert sein, ohne zu ihrer Existenzsicherung auf eine große Anzahl von Schadensfällen angewiesen zu sein. Der Hauptfokus muss sich auf die Prävention richten. Zusätzliche Einkünfte für im Gesundheitsbetrieb Arbeitende (über das Grundgehalt hinaus) darf es nur geben, wenn Verdienste um die Schadensvermeidung und Prophylaxe nachgewiesen werden können. Dafür muss nicht nur der Wachstumszwang aus dem System „herausoperiert“ werden, die Macht der Pharmalobby insgesamt muss gebrochen werden. Das Abfließen von Geldern in die Hände von Renditejägern muss gestoppt werden.

Freilich ist das ein anspruchsvolles Projekt, das auf erhebliche Widerstände stoßen würde. Ein beinahe unmöglicher Vorschlag. Doch wenn das „Mögliche“ unser Gesundheitsversorgung krank gemacht hat, kann uns wahrscheinlich ohnehin nur das „Unmögliche“ retten.


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