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Justizknebel für die Kunstfreiheit

Justizknebel für die Kunstfreiheit

Rudolph Bauer erhielt einen Strafbefehl, weil er heutige Politiker künstlerisch mit der Nazizeit in Verbindung brachte — dieses Vorgehen erweist die Richtigkeit seiner Kritik.

Den 15. Juli 2023 wird Rudolph Bauer sicher nicht so schnell vergessen. An diesem rabenschwarzen Samstag bekam der Bremer Künstler Post aus der baden-württembergischen Landeshauptstadt, und der Ex-Professor aus dem norddeutschen Bundesland, Jahrgang 1939, seit Langem auch als Autor und Bildender Künstler unterwegs, mit Lyrik und Bildmontagen, mit zig Veröffentlichungen, Lesungen, Ausstellungen, durfte aus einem Schreiben der Staatsanwaltschaft Stuttgart erfahren, in der Gestalt eines „Strafbefehls“, dass er Herrn „Prof. Dr. Karl Lauterbach“ beleidigt habe und dass er deshalb 3.000 Euro Strafe bezahlen müsse. Auch die „Kosten des Verfahren“ hätte er zu übernehmen sowie die eigenen Kosten bei dieser Angelegenheit. Bauers „Delikt“:

Er habe am 7. Februar 2023 dem Untersuchungshäftling Michael Ballweg einen Brief mit zwei Büchern zugeschickt, in denen der Beschuldigte Bauer „Feindbilder aus dem Coronaleugner-/Impfgegner-Milieu bedient“ und seine „Missachtung gegenüber Prof. Dr. Karl Lauterbach“ ausgedrückt habe, und zwar in der Gestalt, dass er, der Delinquent Bauer, dem Politiker Lauterbach auf einer Fotomontage einen Hitlerbart „hinzugefügt“ habe und dem Lauterbach-Foto von ihm, Rudolph Bauer, „zum anderen ein angewinkelter Arm eingefügt worden“ sei, der „an die von Adolf Hitler seinerzeit üblicherweise verwendete Erwiderung auf den Hitlergruß erinnert“.

Auch Herr Professor Dr. Karl Lauterbach habe inzwischen „form- und fristgerecht Strafantrag gestellt“. Und zudem durfte Rudolph Bauer die folgende Information dem Strafbefehl noch entnehmen: Die mit der Postüberwachung des Schriftverkehrs von Michael Ballweg beauftragte Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft Stuttgart „verstand die mit der Fotomontage verbundene Missachtung gegenüber Herrn Prof. Dr. Karl Lauterbach“.

Tja, hatte die Behörden-Dame tatsächlich „verstanden“, was sie da sah? Und was ist von einem Strafbefehl zu halten, in dem die grundgesetzlich verbriefte Kunstfreiheit gemäß Artikel 5, Absatz 3, in unserer Verfassung, nicht einmal erwähnt wird: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“? Und auch der Artikel 19 Grundgesetz taucht in diesem Schreiben nicht auf, mit seinen Absätzen 2 und 4:

„In keinem Fall darf ein Grundgesetz in seinem Wesensgehalt angetastet werden. [...] Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“

Den Straftatbestand der „Missachtung“ gibt es gar nicht

Nun, bevor ich mich präziser einlasse auf die völlig begründungsfreien Behauptungen dieses Strafbefehls; den Straftatbestand der „Missachtung“ — gleich zweimal auffindbar, dieses Wort, im zitierten Strafbefehl — gibt es gar nicht im deutschen Strafrecht. Freilich existieren im Internet Definitionen des Begriffs „Missachtung“. Sie reichen von „mangelndem Respekt“ bis „Ignoranz“ (bei Wikipedia etwa). Sollten das neuerdings, nach Auffassung der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, einklagbare und zu ahndende Straftaten sein? In Deutschland gäbe es ab sofort den Rechtsanspruch auf Zwangsrespekt, eines Karl Lauterbach zum Beispiel, und die „Ignoranz“, wahrlich oft eine unangenehme Alltagserscheinung und von der DUDEN—Rechtschreibung als „Unwissenheit“ und „Dummheit“ definiert, dürfte ab dem 15. Juli 2023 mit einem Zwangsgeld von 3.000 Euro geahndet werden?

Und was ist mit der „Beleidigung“?

Nun, völlig zweifelsfrei: „Beleidigung“ ist tatsächlich ein Straftatbestand. Wir finden den betreffenden Paragraphen unter der Nummer 185 im Strafgesetzbuch (StGB), im „Besonderen Teil“ dieser Gesetzessammlung, in dem es um den Schutz der persönlichen Ehre geht, aber mit der „Missachtung“ hat die Verfasserin des Strafbefehls einen Tatbestand formuliert, der in keiner Weise justiziabel ist. In juristischer Hinsicht handelt es sich um die Erfindung eines Delikts, nicht um die Existenz eines Delikts. Und was es mit der „Beleidigung“ auf sich hat — wenn es um deren Gewicht geht bei der Rechtsgüterabwägung mit der Kunstfreiheit in unserem Land —: Das werden wir später noch sehen!

Das „Corpus delicti“ oder auch der „Beleg“ für eine Straftat: die Bildmontage selbst

Doch damit zum eigentlichen „Beleg“ — man könnte auch sagen: „Beweisstück“ — für diesen 3.000-Euro-Strafbefehl, den Rudolph Bauer am 15. Juli 2023 entgegennehmen musste, zur Bildmontage des Bremer Künstlers auf Seite 12 des Buches „Charakter-Masken“, erschienen in der Reihe „Edition Kunst“ des Bergkamener „pad-Verlages“. Selbstverständlich scheuen wir uns nicht, diese Bildmontage zu veröffentlichen, schlicht deshalb nicht, weil sie keineswegs als „Beleidigung“ zu werten ist, aber auch deshalb nicht, weil wir ebenfalls das grundgesetzlich verbriefte Recht auf „Kunstfreiheit“ in Anspruch nehmen und uns darüber hinaus auch als Journalisten zur Dokumentation dieser Abbildung verpflichtet sehen:

Wird mit dieser Bildmontage (schon der Begriff der „Fotomontage“ im Strafbefehl ist zum Teil falsch; später mehr dazu!) tatsächlich die Privatperson Karl Lauterbach beleidigt, oder wird sie es nicht? Was, bitteschön, zeigt uns dieses Bild?

Nun ja, räumen wir ein, zunächst jedenfalls:

Erstens: Nun, zum „Hitlergruß“ erst einmal das Folgende vorweg. Er wurde bereits vor der sogenannten „Machtergreifung“ Hitlers eingeführt — als partei-internes Begrüßungsritual (meist verbunden mit den Worten „Heil Hitler“). Doch wie es eben Brauch bei uns präzisen Deutschen ist: Als dieser Gruß, als sogenannter „deutscher Gruß“ Pflicht wurde für alle „Arier“ im „Dritten Reich“, da wurde sehr genau bestimmt, wie dieser Gruß im Alltag auszuführen sei — und nahezu alle Film- und Fotodokumente aus der NS—Zeit bestätigen das auch.

Mit ausgestrecktem rechtem Arm und mit ausgestreckter rechter Hand mindestens in Augenhöhe des Begrüßenden wurde dieser „deutsche“ Hitlergruß entboten beziehungsweise sollte entboten werden. Lediglich Hitler selber durfte sich den sogenannten „schlappen Hitlergruß“ leisten — den rechten Arm weit nach hinten gekippt (wohl, um hin und wieder auch mal auszuruhen, bei langen Vorbeimärschen von SA— oder SS—Truppen etwa, wie zum Beispiel bei der öffentlichen Feier des 50. „Führergeburtstages“ am 20. April 1939 in Berlin. Es gibt einen langen und furchtbar langweiligen „Dokumentarfilm“ der Nazis von diesem „Ereignis“. An dieser Stelle einiges Belegmaterial, Fotos aus den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts:

Hier zeigt Adolf Hitler selbst den „deutschen Gruß“, halbwegs vorschriftsmäßig, wenn man so will, die rechte Hand mithin in Augenhöhe. Auch bei diesen Fotos konnte ich das Aufnahmedatum nicht ermitteln, doch vermute ich bei dem rechten Bild, dass es von einem Nürnberger Parteitag stammt. Links von ihm ist Heinrich Himmler zu erkennen, in SS-Uniform.

Auf diesem Bild — ebenfalls undatiert —, das während der NS-Zeit als Postkarte vertrieben worden ist, kann man gut erkennen, was als „schlapper Hitlergruß“ bezeichnet worden ist.

Diese Variante wird uns noch später interessieren, am Beispiel einer Fotomontage, die von John Heartfield stammt.

Und damit die Frage alle Fragen in unserem Zusammenhang, im Kontext mit dem Strafbefehl der Stuttgarter Staatsanwaltschaft gegen den Bremer Künstler Rudolph Bauer: Was zeigt uns dessen Bildmontage? Tatsächlich einen Hitlergruß? — Nun, die Antwortet lautet selbstverständlich: nichts dergleichen! Konkret:

Der rechte Arm und die rechte Hand des Karl Lauterbach werden überhaupt nicht zu irgendeiner Art Gruß nach oben gestreckt, die rechte Hand des Herrn Karl Lauterbach hält sich an einem Mikrophon fest, knapp über Brusthöhe, knapp unter dem Kinn. Das ist alles, mehr nicht. Wenn es also im Stuttgarter Strafbefehl heißt, dass hier irgendwas „mit angewinkeltem Arm“ an den Hitlergruß „erinnere“, ist nichts, aber auch gar nichts richtig an diesem „Indizienbeweis“. Wahrgenommen wird bestenfalls — bestenfalls? — irgendetwas, das im Kopf der Betrachterin existiert haben könnte. Tatsache jedenfalls ist: Einer unvoreingenommenen Überprüfung hält dieser Indizienbeweis nicht Stand.

Wenn überhaupt, stellte diese Visualisierung eines linken Arms, der mit seiner Hand nach oben geht, ‚Richtung‘ Hitlergruß, die bildhafte Illustration eine Besorgnis dar, eine Warnung, vielleicht sogar eine Angst. Untergründige Aussage oder Botschaft wäre mithin: Vorsicht, was da ein Politiker mit Namen Karl Lauterbach tut, könnte Gefahr laufen, irgendwo zu landen, wo Deutschland schon einmal unter Adolf Hitler gelandet war: in einer Diktatur! Aber stellen Besorgnis, Warnung und Angst Straftatbestände dar, deren Äußerung beziehungsweise Visualisierung sogar die Kunstfreiheit gemäß Artikel 5, Absatz 3, Grundgesetz aufzuheben in der Lage wäre? Hätten wir es in einem solchen Fall tatsächlich mit dem Geltungsbereich des Beleidigungsparagraphen 185 im StGB zu tun?

Dann möchte ich hier gleich selber die Probe aufs Exempel machen und formuliere nun auch meinerseits, in Klardeutsch, den folgenden Satz:

Ja, so manches, was uns die Politiker — speziell Karl Lauterbach — während der Corona—Zeiten zugemutet haben, war auch für mich geeignet, Besorgnisse und Ängste auszulösen, war auch für mich der Anlass, Warnungen auszusprechen vor dem Abbau von Demokratie und Rechtsstaat in unserem Land! — Habe ich mich nun mit dieser Aussage ebenfalls strafbar gemacht? Habe ich nun ebenfalls Herrn Lauterbach beleidigt gemäß Paragraph 185 Strafgesetzbuch? Wenn Sorge um unseren Rechtsstaat, wenn Ängste vor dem Außerkraftsetzen von Grundgeboten in unserer Verfassung, wenn Warnungen vor dem Abbau unserer Demokratie Straftatbestände sind: dann „Gute Nacht, Deutschland!“

Tatsächlich, der Künstler Rudolph Bauer hat — anscheinend — Herrn Karl Lauterbach einen Hitlerbart verpasst. Aber trifft das wirklich zu? So einschränkungslos jedenfalls? Richtig ist: Bauer hat in dem Gesicht von Lauterbach ein schwarzes liegendes Rechteck platziert, genau dort, auf der Oberlippe, wo auch Hitler seinen Bart zu tragen pflegte. Ja, das Ganze „erinnert“ an Adolf Hitlers Bärtchen, was da der Künstler Rudolph Bauer auf der Oberlippe des bundesdeutschen Politikers Karl Lauterbach appliziert hat. Mit dem Ganzen vermeidet er aber, gleichzeitig den Eindruck realer Gleichheit zu erwecken. Die Klugheit dieser Bildmontage des Bremers besteht darin, Assoziationen zu wecken zwischen Hitler und Lauterbach, ohne eine Identifizierung dieser beiden Personen herzustellen. Mit anderen Worten: Das einzige, was Bauers Collage hätte auslegungsfähig machen können in Richtung Beleidigung, fehlt gerade im Werk dieses Künstlers: eine womöglich (!) als Straftatbestand zu wertende Gleichsetzung von Hitler und Lauterbach.

Wer wird hier eigentlich ‚porträtiert‘: die Privatperson oder der Politiker Lauterbach?

An dieser Stelle aber noch ein weiterer Hinweis, der von erheblicher Wichtigkeit ist: Dass es dem Bremer Künstler Rudolph Bauer keineswegs auf persönliche Beleidigung des Politikers Lauterbach ankam — wir sprechen das Thema des fehlenden „Vorsatzes“ später noch genauer an, der beim Erkennen von Straftaten eine überaus wichtige Rolle spielt —, das geht im Übrigen auch aus den folgenden Bestandteilen dieser Kunst-Edition unübersehbar hervor, und man muss sich wundern, dass dieses der Stuttgarter Behörde nicht aufgefallen ist: Dieser Kunstband trägt einen Titel, und dieser Titel wird sogar zweimal ausführlich erläutert in diesem Buch: „Charakter-Masken“ heißt diese Edition.

Und dieser Begriff aus der marxistischen Terminologie besagt, dass Menschen im Kapitalismus mit ihrem Verhalten und Agieren gezwungen sind, „gesetzmäßig“ heißt das wieder und wieder bei Karl Marx, so zu handeln, wie der Kapitalismus das von den Menschen verlangt. Was bedeutet: individuell, den Personen selbst, ist das gar nicht mal vorzuhalten.

Was aber heißt das in unserem, im juristischen, Zusammenhang? — Nun, Bauer selber distanziert sich ausdrücklich von jedweder Fehlinterpretation und von jedwedem Versuch, Menschen „beleidigen“ zu wollen für Handlungen, für die sie letztendlich nicht verantwortlich sind. Das heißt, positiv ausgedrückt: Mit der inkriminierten Bildmontage hat der Bremer Künstler nicht die beleidigungsfähige Privatperson Karl Lauterbach kritisiert, sondern hat die politischen, die sozioökonomischen Verhältnisse kritisiert, die einen Politiker wie Lauterbach genötigt haben, so zu handeln, wie er gehandelt hat. Also, bereits der Buchtitel kündigt an: Diese Bildmontage zeigt eine Charakter—Maske, nicht den Menschen Lauterbach selbst.

„Personalisierung“ in der Kunst

Politik lässt sich — gerade in der Bildenden Kunst — oft gar nicht anders darstellen und kritisieren als in der Gestalt von Politikern, die eine bestimmte Politik betreiben. Insofern ist Bildende Kunst sehr oft zur „Personalisierung“ gezwungen, wenn sie — eigentlich — Politik kritisieren will — was ihr gutes Recht ist!

Wer aus dieser „Personalisierung“ den juristischen Schluss zieht, damit würden automatisch auch die Personen selber kritisiert, missversteht grundlegend politische Kunst, man könnte auch sagen: der hat politische Kunst schlicht nicht begriffen! Und diese Diagnose trifft um so mehr zu, als im vorliegenden Fall alle Bildsignale und alle Texte übersehen worden sind, die aufs deutlichste zeigen, dass die personenbezogene Straftat der persönlichen „Beleidigung“ einfach nicht vorliegt. Bauer hat mit seiner Bildmontage Politik kritisiert, Politik, die unter den Zwängen der sozioökonomischen Verhältnisse betrieben wird — so Bauers Auffassung —, nicht aber eine Privatperson oder das Individuum oder Subjekt Karl Lauterbach.

Und — auch das wiederhole ich an dieser Stelle gerne nochmal —: Bauer deutet hier die Gefährlichkeit einer Politik an, die unversehens wieder im Faschismus landen könnte, im Sinne der Warnung, im Sinne der Besorgnis, im Sinne der Angst. Wobei unübersehbar ist: das alles im Namen der Demokratie — vielleicht darf man bei Rudolph Bauer sogar sagen: im Namen wirklicher Demokratie, nicht nur kapitalistisch halbierter Demokratie.

Wer anderes behaupten wollte, projizierte in die strittige Bildmontage hinein, was diese einfach nicht enthält — eine Aussage, die übrigens auf den gesamten Kunstband zutrifft —, und Schauplatz der vermeintlichen Straftaten wie „Beleidigung“ ist nicht dieses Buch, sondern sind schlimmstenfalls die Gehirne, denen diese Fantasien entsprungen sind. Es ist genau das, was Psychoanalyse unter „Projektionen“ versteht — für die, nebenbei, ebenfalls nicht unbedingt deren Urheber verantwortlich sind — hier: die Juristen der Stuttgarter Justiz —, sondern anderes verantwortlich sein könnte. Was oder wer, können und müssen wir an dieser Stelle offen lassen.

Wie lauteten meine Hauptbegriffe vorhin: Besorgnis, Warnung und Angst? — Nun, diese Motive und Wirkungen sprechen uns an aus Bauers Werk, diese Motive und Beunruhigungen sind es, die uns bangen lassen um Menschenrechte und Demokratie in unserem Staat. Der Strafbefehl aus Stuttgart zeigt auf furchtbare Weise, wie Recht der Bremer Künstler mit seinen Befürchtungen hat! Und wie berechtigt unser Bangen ist um diese Republik!

Hier schließt sich gleich noch eine weitere Feststellung an: Nirgendwo ist dem Schreiben der Staatsanwaltschaft aus Stuttgart zu entnehmen, dass diese Behörde auch zur Entlastung des Beschuldigten ermittelt hätte. Auch gibt es keinerlei faktischen Beleg, der für irgendeine entlastende Ermittlung zugunsten des Beschuldigten sprechen könnte. Zu dieser Tätigkeit wäre aber die Anklagebehörde eigentlich verpflichtet gewesen, und zwar gemäß § 16 „Strafprozessordnung“ (StPO). Dort heißt es unter Absatz 2:

„Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln [...]“.

An dieser Stelle fragt sich selbst ein juristischer Laie: Wie kann es zu einem Strafbefehl kommen, bei dem nicht mal dieser Grundsatz einer jeden Sachverhalts—Aufklärung beachtet worden ist? Kommen hier nicht schlimmste Zweifel auf, was die Unparteilichkeit dieser Behörde betrifft?

„Offizialdelikt“ oder „Antragsdelikt“? — Eine weitere Merkwürdigkeit bei diesem Strafbefehl

Auch das Folgende müssen Nichtjuristen — Normalsterbliche also, was Kenntnis oder Nichtkenntnis von Gesetzen betrifft — nicht wissen, es ist aber für diesen Strafbefehl ebenfalls von erheblicher Relevanz:

Bei der „Beleidigung“ — nochmal: § 185 StGB — handelt es sich ‚eigentlich‘ um ein „absolutes Antragsdelikt“. Das bedeutet, einer solchen Straftat wird „grundsätzlich nur auf Antrag des Geschädigten von der Strafverfolgungsbehörde nachgegangen“, so der Wikipedia-Artikel zum Stichwort „Antragsdelikt“. Das bedeutet konkret: Nicht von sich aus hätte die Stuttgarter Behörde bei dieser vermeintlichen Beleidigung tätig werden dürfen, sondern erst aufgrund eines dementsprechenden Antrags von Karl Lauterbach, dem vermeintlich Geschädigten bei diesem Fall. Das hätte übrigens auch für Anzeigen des Politikers gegolten, die wegen anderer „Ehrdelikte“ eingereicht worden wären, wegen „übler Nachrede“ zum Beispiel (§ 186 StGB) oder wegen „Verleumdung“ (§ 187 StGB). Freilich, zur Einschränkung sei gesagt:

Eine Staatsanwaltschaft — wie in diesem Fall jene in Stuttgart — kann dennoch dieses „Antragsdelikt“ Beleidigung zur ‚eigenen Sache‘ machen, zu einem sogenannten „Offizialdelikt“ mithin, wenn die betreffende Behörde glaubt, dass eine Strafverfolgung bei einem solchen „Antragsdelikt“ auch von öffentlichem Interesse sei! Genau das scheint im vorliegenden Fall gegeben zu sein.

Die Stuttgarter Staatsanwältin sah sich aufgerufen, zugunsten des Politikers Karl Lauterbach einschreiten zu müssen, auch ohne irgendeinen Antrag desselben. Wobei man als durchaus bedenklich empfinden kann, dass eine solche Heraufstufung zum „Offizialdelikt“ rechtlich nicht angegriffen zu werden vermag.

Meiner Ansicht nach allzu viel Kompetenz für eine Staatsanwaltschaft! Aber selbst wenn man im vorliegenden Fall das öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung bejaht — das Heraufstufen des „Antragdeliktes Beleidigung“ also zu einem „Offizialdelikt“ —, wie verträgt sich dann diese Tatsache damit, dass einerseits der böse Künstler aus Bremen bestraft werden soll — mit immerhin 3.000 Euro plus X (= Verfahrenskosten und so weiter) —, aber andererseits eben dieser „Strafbefehl“ überhaupt nicht zum Ziel hat, die angebliche Beleidigung selber aus der Welt zu schaffen!? Was ich damit konkret meine? Nun, Folgendes:

Weder der Künstler Rudolph Bauer noch sein Verlag sind aufgefordert worden, den Vertrieb des Buches einzustellen, das diese — angeblich beleidigende — Bildmontage enthält, oder zumindest die betreffende Seite zu schwärzen in diesem Buch. Um es mal flapsig auszudrücken: Einerseits wird hier ein Antragsdelikt hochgejazzt zu einem Offizialdelikt, bei dem es auch um die Wahrung und Wiederherstellung des öffentlichen Interesses geht, und zum anderen wird ebendieselbe — angebliche — Straftat heruntergedimmt zu einem Vorfall, bei dem ‚großzügig‘ auf Beseitigung des Unrechtstatbestandes selber verzichtet werden kann.

Die „Beleidigung“ darf weiter unters Volk gebracht werden. Fast schon ernsthaft gefragt: Macht sich mit dieser pflichtwidrigen Unterlassung, kein Ende des Buchvertriebs gefordert zu haben oder wenigstens Schwärzung der betreffenden Seite im Buch, die Stuttgarter Anklagebehörde nicht sogar selber schuldig, eine Straftat begangen zu haben oder an dieser nunmehr beteiligt zu sein? — Den Straftatbestand der „Unterlassung“ kennt unser Strafgesetzbuch ja durchaus — er findet sich unter anderem in § 13 StGB —, und unser Strafgesetzbuch sieht zusätzlich die Ahndung der Tatsache vor, vom Begehen einer Straftat gewusst, aber nicht für ein Ende dieses Verbrechens gesorgt zu haben. Das kann unter anderem in § 257 StGB nachgelesen werden, im Paragraphen zur „Begünstigung“. Was steckt also hinter diesen Widersprüchen?

Selbstverständlich kann ich hier keine Antwort geben. Nicht einmal eine Mutmaßung äußern möchte ich hier. Lediglich eines ist hier meines Erachtens erforderlich: eine nicht auszuschließende Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Also: Kann es sein, dass die Stuttgarter Behörde deshalb nur Geldstrafe gefordert hat, aber nicht Schwärzung der Buchseite oder Einstellen des Buchvertriebs, weil sie dadurch dem Arbeitsaufwand aus dem Wege gehen wollte, der bei einem regulären Gerichtsprozess entsteht? Bei einem Strafbefehl, der über das Verhängen einer Geldstrafe hinausgeht und Forderungen enthält, wie zum Beispiel das Einstellen eines Buchvertriebs, dürfte ein normaler Gerichtsprozess unvermeidbar sein, mehr noch, ein solcher Strafbefehl wäre gar nicht möglich — weil: nicht rechtens — gewesen! An den Haaren herbeigezogen, diese Erwägung?

Nun, erneut kann ich an dieser Stelle Wikipedia zitieren. In einem Artikel dieser Internet-Enzyklopädie zum Thema „Strafbefehlsverfahren Deutschland“ heißt es, unter dem Punkt „Kritik“:

„Es ist für einen Richter zeitlich vorteilhafter, einen Strafbefehl zu unterschreiben, als eine Hauptverhandlung durchzuführen.“

Immerhin stammt dieser Satz von einer Person, die das wissen muss: von der Amtsrichterin Lena Dammann, tätig im Hamburger Stadtteil Sankt Georg.

Die Frage stellt sich also verschärfter nun: Wieso gab und gibt es bislang nur diesen „Strafbefehl“, wieso nicht Ankündigung eines ordentlichen Gerichtsverfahrens in dieser Angelegenheit? Das bei einer Sache, wo einfach mal so das Grundrecht auf freie Ausübung der Kunst ausgehebelt worden ist beziehungsweise ausgehebelt werden soll? War möglicherweise einziges Ziel dieses Strafbefehls, dem Künstler Rudolph Bauer nur Angst einjagen zu wollen, auf dass er sich zukünftig zurückhalten möge bei der Herstellung gesellschaftskritischer Kunst?

Wieso nur Strafbefehl? — Was tun?

Dass dem Bremer Künstler Rudolph Bauer ‚einfach‘ nur per Strafbefehl die angebliche Strafbarkeit seiner Bildmontage verdeutlicht werden soll, darf man wirklich merkwürdig finden.

Immerhin: Strafbefehle werden in Deutschland nur ausgestellt, wenn es sich um „leichte Kriminalität“ handeln soll. Da hat der Bremer Künstler also noch einmal Glück gehabt. Ebenso klar ist, dass diese Besonderheit im deutschen Strafrecht die Behörden — gleich welcher Art: Gerichte, Staatsanwaltschaften, Polizei — entlasten soll. Aber ein solches Selbstentlastungsbedürfnis darf nicht dazu führen, dass Grundrechte außer Kraft gesetzt werden — hier die Kunstfreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz. Deswegen zum Abschluss noch einige Informationen dazu, wie es in dieser Rechtssache weitergehen kann und höchstwahrscheinlich weitergeht.

Zunächst: Dem Bremer Künstler Rudolph Bauer stand es frei, gegen diesen Strafbefehl Einspruch einzulegen. Das hat Bauer inzwischen auch getan. Als hochproblematisch empfand ich allerdings, dass dem Beschuldigten für diesen Einspruch nur 14 Tage zur Verfügung standen. Was wäre gewesen, wenn Rudolph Bauer verreist gewesen wäre oder auch krank — und womöglich Schwierigkeiten gehabt hätte, dieses nachzuweisen? Der Strafbefehl wäre dann in Kraft getreten, womöglich irreversibel sogar. Der einzige Vorteil bei diesem Einspruch war: Er musste vom Beschuldigten nicht begründet werden.

Nun steht dem Stuttgarter Amtsgericht frei, dem Einspruch stattzugeben oder auch nicht. Denkbar also durchaus, dass diese Strafsache irgendwann demnächst ohne weitere Folgen eingestellt wird. Den Ärger, den Rudolph Bauer gleichwohl und auf jeden Fall mit dieser Sache gehabt hat, wird das Gericht allerdings nicht aus der Welt schaffen können.

Wird hingegen der Einspruch des Beschuldigten verworfen, steht dem Bremer Künstler das Rechtsmittel der „sofortigen Beschwerde“ zu. Darüber entscheidet dann nicht mehr das bis dato zuständige Amtsgericht, sondern das Stuttgarter Landgericht. Die Folge daraus:

Wenn — was durchaus nicht auszuschließen ist — die Beschwerde des beschuldigten Künstlers nicht von vorneherein als unzulässig abzuweisen ist, wird es zu einer sogenannten „Hauptverhandlung“ kommen. Es sei denn, die Staatsanwaltschaft nimmt ihren Antrag auf Erlass des Strafbefehls zurück. Für diese Hauptverhandlung ist Rudolph Bauer selbstverständlich berechtigt, auch einen Anwalt zu seiner Verteidigung heranzuziehen — es besteht in diesem Falle sogar Anwaltszwang. Einen solchen — hochkompetenten — Strafverteidiger hat der Bremer Künstler Bauer auch bereits gefunden! Und ich bin sicher — soweit man bei Rechtssachen jemals sicher sein kann —, dass Rudolph Bauer diesen Prozess auch gewinnen wird! Wenn es für den Betroffenen, für den Künstler, nicht so beschwerlich wäre, nicht so zeit- und nervenaufreibend, diesen Prozess führen zu müssen, würde ich sogar sagen: Für uns andere, potentiell Betroffene?, und für den Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland könnte dieser Prozess sogar von großem Nutzen sein — nämlich unter Beweis stellen, dass selbst eine Staatsanwaltschaft nicht das Wahrnehmen eines Grundrechtes — hier der Kunstfreiheit — außer Kraft setzen oder beeinträchtigen kann.

Das Wahren und Schützen der Grundrechte stellt wahrlich keine Bagatelle dar — wie der Weg eines bloßen Strafbefehls ohne Gerichtsverhandlung vermuten lassen könnte. Das Wahren und Schützen der Grundrechte ist auch höher zu bewerten als das eventuelle, das höchst subjektive Gefühl eines Politikers, beleidigt worden zu sein, oder die entsprechende Einschätzung durch eine Staatsanwaltschaft.

Das Wahrnehmen der Grundrechte darf nicht in Abhängigkeit geraten von den womöglich höchst subjektiven Eindrücken, die irgendeine Staatsanwaltschaft zu Papier gebracht hat — und auch nicht von der Willkür eines Politikers, der darüber entscheiden darf, ob er als Mensch beleidigt worden ist oder nicht. Die Kunstfreiheit nach Artikel 5 unserer Verfassung jedenfalls kennt keinerlei Einschränkung —anders als zum Beispiel die Äußerungsfreiheit oder sogar die Freiheit der Lehre! Wer gegen diese Freiheit in den Bereichen der Kunst mit einem Strafbefehl angehen möchte, der geht nach meinem Verständnis sogar gegen unsere Verfassung selber vor, der macht sogar schon unser Grundgesetz, in Teilen jedenfalls, zu einem potentiellen Straftatbestand.

Weshalb ich abschließend auch noch das Folgende mitteilen möchte:

Es ist durchaus möglich, dass im vorliegenden Fall sogar Klage erhoben werden könnte gegen die Stuttgarter Staatsanwaltschaft mitsamt des zuständigen Gerichts: wegen Amtsmissbrauchs! Ich bin sicher, dass Rudolph Bauers Anwalt auch dieses prüfen wird, die Frage nämlich, ob nicht wegen „Rechtsbeugung“ (§ 339 StGB) oder „Verfolgung Unschuldiger“ (§ 344 StGB) das Verhalten der Stuttgarter Behörden überprüft werden muss. Und gegebenenfalls kommt auch Absatz 4, Punkt 2 des Nötigungsparagraphen 240 StGB in Betracht.

In politischer und in historischer Hinsicht jedenfalls scheint mir — jetzt schon — das Folgende Fakt zu sein, und nicht nur im Blick auf den „Fall Bauer“:

Schon seit längerem existiert der Bedarf, das Grundgesetz vor manchen seiner Verteidiger verteidigen zu müssen. Seit längerem schon handelt es sich bei dem Grundgesetz um einen Text, der sozusagen links vom allgemeinen Bewusstsein angesiedelt ist. Allen Ernstes meine ich jedenfalls: Die Freiheit der Kunst würde heute mit Sicherheit nicht mehr so einschränkungslos beschlossen werden wie im Jahre 1949, am 23. Mai. Auch das Asylrecht in Artikel 16 Grundgesetz sähe bei „freiem“ Neubeschluss heute viel restriktiver aus. Und von den Artikeln 14 (Gemeinwohlverpflichtung von Eigentum) und 15 (Produktionsmittel und anderes dürfen vergesellschaftet werden) befürchte ich sogar, dass sie überhaupt nicht mehr auftauchen würden in einem neuen Grundgesetz.

Sei es, wie es sei: Die Kunstfreiheit existiert, auch wenn sie in einem Staatsanwalts—Schreiben unerwähnt bleibt. Oder anders herum ausgedrückt: Selbst wenn zwei Stuttgarter Behörden der Rechtspflege — eine Staatsanwaltschaft und ein Amtsgericht — glauben, am Grundgesetz vorbei einen Strafbefehl verschicken zu können: Artikel 5, Absatz 3, die Kunstfreiheit ist in Deutschland nach wie vor Rechtsrealität! Hoffen wir, dass das auch so bleibt!


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