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Lebendig werden!

Lebendig werden!

Wenn wir den Mut haben, uns wirklich zu fühlen, verändern wir uns und die Welt.

Der Psychoanalytiker Arno Gruen sieht diese Entfremdung darin, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir unsere Verletzbarkeit und unsere Unsicherheit verleugnen müssen. Er schreibt:

„Um diesen Umgang mit sich selbst zustande zu bringen, muß ein Mensch sich selber stellen können. Hierfür braucht es eine Kraft, die aus dem Zugang zu den eigenen Gefühlen, Wahrnehmungen und Bedürfnissen herauswächst. Unsere Gesellschaft jedoch stellt ein kulturelles Gefüge dar, das den Menschen von seinen eigentlichen Gefühlen, seiner inneren Welt abtrennt, wegtreibt und darauf besteht, daß seine Wahrnehmungen und seine Ich-Bezogenheit auf Werten basieren, die des Menschen Verletzbarkeit und seine Unsicherheit verleugnen. Die Süchte rings um uns sind Ausdruck des Scheiterns dieser Ideologie des Seins, welche glaubt, daß Macht, Herrschen und Besitzen der Sinn des Lebens sein muß. Damit verwirft sie die Furcht eines Jeden vor seiner Unzulänglichkeit, verstärkt diese aber gleichzeitig. Das Resultat ist eine allgemeine Selbstschwäche, die aber nicht konfrontiert werden darf“ (1).

Ich möchte mit zwei Geschichten beginnen. Einmal geht es um meinen inzwischen 5-jährigen Enkel und einmal um mich selbst. Mein Enkel erinnerte mich an Gefühle, die in mir verschüttet waren und erst im Kontakt mit ihm auch in mir wieder lebendig werden konnten:

Fabi, 3 Jahre alt, steht vor mir und sagt: Omi, ich will einen Erdbeerjoghurt. Ein Blick in den Kühlschrank – kein Erdbeerjoghurt mehr da, nur noch einer ohne Frucht. Dreijährige mutieren schnell zu kleinen Wutzwergen, also überlege ich mir, wie ich dieser Wut entgehen kann und sage: Fabi, ich kann dir in den Joghurt, den ich noch habe, Opa-Marmelade hineinrühren – mein Mann liebt Marmelade.

Das kleine Gesicht vor mir verzieht sich, er sagt: Ich will keinen Joghurt mit Opa-Marmelade, ich will Erdbeerjoghurt. Ich sehe die Katastrophe auf mich zukommen; suche verzweifelt nach einer Lösung und säusele: Mein Schatz, ich habe keinen Erdbeerjoghurt mehr, soll ich dir Obst in den Joghurt hineinschneiden?

Ich ahne: auch das ist jetzt keine gute Idee. Prompt setzt lautes Wutgebrüll ein: Ich will keinen Joghurt mit Obst, ich will einen Erdbeerjoghurt! Und mit seinen kleinen Fäusten schlägt er auf mich ein. Tränen der Wut laufen über sein Gesichtchen. In dem Moment bekomme ich ein Gefühl für seine Verzweiflung und eine längst vergessene Erinnerung aus meinen Kindheitstagen taucht auf.

Sommer 1965. Wie jeden Sonntagnachmittag fuhr klingelnd der Eiswagen durch unsere Straße. Ich war viereinhalb Jahre alt und voller Vorfreude, in der Hoffnung auf ein Eis. Diesmal ging ich nicht allein mit zwei Groschen zum Eiswagen, sondern meine Mutter kam mit meiner einjährigen Schwester auf dem Arm mit, die auch ein Eis bekommen sollte. Ich gab dem Eisverkäufer meine zwei Groschen und bekam eine kleine Eiswaffel mit 2 Kugeln und war glücklich.

Dann sah ich, dass meine Mutter für meine Schwester eine große Eiswaffel kaufte und war fassungslos. So eine große Waffel hatte ich mir auch schon immer gewünscht, doch ich hatte gelernt: nur große Kinder und große Menschen bekamen eine große Eiswaffel. Meine Schwester war aber klein, viel, viel kleiner als ich, sie konnte noch nicht einmal richtig laufen und bekam von meiner Mutter eine große Eiswaffel.

Meine Fassungslosigkeit verwandelte sich in Wut, ich fing an zu schreien und zu toben: Ich will auch eine große Eiswaffel. Meine Eltern verstanden nicht, was mit mir los war; sie versuchten mich zu beruhigen, erklärten mir, dass meine Schwester zwar eine große Waffel habe, aber nur mit einer Kugel Eis und ich hätte doch zwei Kugeln. Doch das hörte ich nicht, ich sah nur die große Waffel und war zutiefst wütend und verzweifelt. Mein Gebrüll machte meinen Vater wütend. Er brüllte mich an: Hör sofort auf mit dem Geschrei, sonst gebe ich dir einen Grund zum Brüllen.

Doch ich war dermaßen außer mir – es ist im Übrigen die einzige Erinnerung, die ich habe, jemals meine Verzweiflung und Wut als Kind gezeigt zu haben – dass ich mich nicht beruhigen ließ. Die Botschaft, die bei mir ankam, war: Du bekommst nicht so ein Eis wie deine Schwester! Mein Vater nahm mir kurzerhand mein Eis weg und sagte: Wenn du das nicht willst, dann bekommst du gar kein Eis. Seine Reaktion auf meine Gefühle war ein Schock für mich. Ich weiß noch, dass ich auf mein Zimmer musste und erst wieder herauskommen durfte, als ich mich beruhigt hatte. Ab da reißt meine Erinnerung ab.

Als ich älter wurde, habe ich begriffen, dass meine Mutter die große Waffel für meine Schwester mit einer Kugel Eis wählte, damit sie das Eis besser essen konnte. Die Kugel Eis war tief eingebettet in die Waffel und konnte so nicht herunterfallen. Mein damaliges Gefühl erklärte ich vor mir selbst als albern und kindisch und gab somit den Reaktionen meiner Eltern recht. Ich selbst konnte mich nicht mehr in die damals Vierjährige und ihr Gefühl hineinversetzen.

Und jetzt – 2016 – steht mein kleiner Enkelsohn mit seiner Wut, seiner Verzweiflung vor mir, weil ich für ihn keinen Erdbeerjoghurt habe und ich will ihm stattdessen eine Alternative anbieten, für die er aber überhaupt nicht offen ist, die er nicht will. Zurecht wird er wütend auf mich!

Ich schau ihn an und sage: Du bist traurig, weil ich keinen Erdbeerjoghurt mehr habe, den du aber unbedingt willst? Und es macht dich total wütend, wenn ich dir etwas anderes geben will?
Sofort entspannt sich sein ganzer Körper, er nickt, seine Augen füllen sich mit dicken Tränen, die ihm über die Wangen laufen. Er krabbelt auf meinen Schoß, schluchzt und ich darf ihn trösten. Kurze Zeit später schaut er mich an und fragt: Omi, machst du mir jetzt den Joghurt, den du noch hast, mit Opa-Marmelade?

Mir wurde klar, wie wichtig es für mich war, mich an meine eigene Wut und Verzweiflung zu erinnern, um sie auch bei Fabi zu erkennen. Und gleichzeitig wurde ich traurig, dass meine Eltern das bei mir nicht konnten. Ich lernte, die Gefühle nicht mehr zu zeigen, verschloss sie tief in mir. In mir entstand der Glaubenssatz: Wut und Verzweiflung zu zeigen, wird bestraft.

Wenn wir kleine Kinder „erziehen“, dann zwingen wir sie dazu, ihre Ängste, ihre Wut, ihre Verzweiflung nicht mehr zu spüren, aus Angst vor schlimmeren Verletzungen. Die schlimmste Verletzung für Kinder aber ist der Liebesentzug und nicht als fühlendes Wesen wahrgenommen, sondern wie ein Objekt behandelt zu werden.

Wut und Angst – die ungeliebten Gefühle

Viele Menschen tragen unterdrückte Wut mit sich herum, weil sie früh lernten, dass dieses Gefühl unerwünscht ist, sie sogar als Kinder in Gefahr brachte. Diese unterdrückte Wutkraft – ja, Wut ist eine Kraft, die wir im Leben brauchen – trennt uns von unseren Gefühlen. Wir wissen dann nicht mehr, wann wir unsere Wut wirklich als Kraft brauchen, um uns selbst oder andere zu schützen, sondern sie bricht sich Bahn, wenn wir uns von den Gefühlen andere Menschen bedroht fühlen. Doch Gefühle sind niemals bedrohlich, es sind die Taten und die Handlungen von Menschen, die für uns eine Gefahr bedeuten können.

Wenn Eltern ihre Kinder anbrüllen, schlagen oder anderweitig bestrafen, dann verbirgt sich dahinter Wut und Angst vor den Gefühlausbrüchen ihrer Kinder. Manchmal brüllen wir Erwachsene auch los, um Kinder zu schützen: Mein Mann geht mit Fabi auf den Spielplatz, er läuft los und mein Mann brüllt: Bleib sofort stehen! Fabi bleibt stehen und sagt: Opa, das kannst du aber auch freundlicher zu mir sagen! Mein Mann: Ich hatte Angst, dass du über die Straße läufst, deswegen habe ich so gebrüllt. Damit war der Fall für das Kind erledigt.

Menschen sprechen meist nicht über ihre Gefühle, weil sie das nicht gelernt haben, sondern agieren sie blind aus. Wenn ein Chef seine Angestellten anbrüllt, ihnen droht, dann verbirgt sich dahinter auch oft Wut und Angst. Wenn ich wütend bin, dann muss ich nicht losbrüllen, sondern kann sagen, was mich wütend macht. Wenn ich Angst habe, muss ich andere Menschen nicht heruntermachen, sondern kann mit ihnen über meine Angst sprechen. Wenn ich hier von Angst schreibe, meine ich damit existentielle Angst. Existentielle Angst ist eine innere Not, begleitet von Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühlen. Diese Angst ist in der Regel kein Gefühl, das in die Gegenwart gehört, sondern in unsere Kindheit.

Kinder müssen erst noch lernen, ihre Gefühle in Sprache auszudrücken – sie sind reine Gefühlswesen – und wir „Großen“ sind dazu verpflichtet, ihnen dabei zu helfen. Das bedeutet, wir müssen in der Lage sein, ihre Gefühle ernst zu nehmen, sie zu spiegeln (sodass sich auch in meiner Mimik und Gestik mein Mitgefühl ausdrückt) und sie zu benennen, ohne sie zu bewerten.

Angst und Wut, Liebe und Traurigkeit sind gleichwertige Gefühle.

Wenn meine Gefühle gesehen und ernstgenommen werden, dann weiß ich, wann ich Angst fühle, wann ich Wut fühle, wann ich Liebe fühle und wann ich Traurigkeit fühle. Bin ich in einem Umfeld aufgewachsen und erzogen worden, in dem Angst und Wut unerwünschte Gefühle waren, dann habe ich auch keinen Zugang zu meinen Gefühlen der Liebe und der Traurigkeit. Aus Traurigkeit wird Angst und aus Liebe Wut.

Wutausbrüche anderer Menschen machen Angst, weil sie sich unberechenbar anfühlen: Niemand will angebrüllt werden, niemand will beschimpft werden. Doch statt unseren Gefühlen Ausdruck zu geben, macht uns der brüllende und schimpfende Chef entweder selber wütend oder er macht uns Angst, weil wir schon brüllende und schimpfende Eltern hatten. Wenn wir unsere Wut fühlen, ihr sprachlich Ausdruck geben können, dann müssen wir sie nicht mehr blind ausagieren. Dann kann ich sagen:

„Es macht mir Angst, wenn du mich anbrüllst, ich will das nicht! Es macht mich wütend, wenn du mich beschimpfst, lass das sein! Wenn du wütend auf mich bist und mich deswegen anbrüllst, dann sprich mit mir über deine Wut, damit ich sie verstehen kann. Wenn du Angst hast und mich deswegen beschimpfst, dann sage mir, wovor du Angst hast, was dich in Not bringt.“

Die eigene Angst kann uns wütend machen und Wut kann uns Angst machen. Hinter diesen Gefühlen, die jeder Mensch hat, stehen Bedürfnisse. Sind unsere grundlegenden Bedürfnisse nach Liebe, Halt, Schutz und Geborgenheit von Beginn unseres Lebens an – unser Leben beginnt mit der Zeugung – nicht erfüllt worden, dann bleibt die Angst ein Grundgefühl in uns.

Wir entwickeln kein Vertrauen – unsere Liebesfähigkeit ist eingeschränkt und unsere Traurigkeit bringt uns in große Not. Kam dann noch eine gewalttätige Erziehung dazu, wurden wir als kleine Kinder geschlagen, angebrüllt oder emotional erpresst, dann machen uns nicht nur unsere eigenen Gefühle Angst, sondern auch die Gefühle anderer Menschen. Wir sind in einer ständigen Alarmbereitschaft, weil wir uns nie sicher sein können, was als nächstes passiert.

Wir stecken in einem Dilemma, aus dem wir alleine nicht mehr herauskommen. Dann sind gute Freunde, vertraute Menschen von enormer Wichtigkeit für uns. Nur in vertrauten und geschützten Beziehungen kann unsere Gefühlswelt „nachreifen“. Wir brauchen Menschen, die unsere Gefühle aushalten, sie wahrnehmen und einordnen können. Und wenn wir selbst noch nicht so genau wissen, ob wir wütend sind, obwohl wir eigentlich Angst haben, oder ob wir Angst haben, obwohl wir wütend sein müssten, dann hilft es einfach, gefragt zu werden. Oder dass ein lieber Freund sagt: Du bist echt wütend, ich versteh das. Oder: Deine Angst ist okay für mich.

Um wirklich lebendig zu sein, brauchen wir alle unsere Gefühle. Wenn wir als Kinder in unseren Gefühlen nicht gesehen und nicht gespiegelt wurden, entsteht in uns ein Schmerz, der nur schwer auszuhalten ist. Dieser Schmerz hindert uns daran, dass wir uns wirklich lebendig fühlen.

In unserer Kindheit wäre dieser Schmerz für uns nicht auszuhalten gewesen, also haben wir gelernt, ihn zu „betäuben“. Und anstatt zu fühlen, fangen wir an zu leiden. Wir flüchten uns in Krankheiten oder in Depressionen, für die wir dann andere Menschen oder die äußeren Umstände verantwortlich machen. Wir fühlen weder wirkliche Freude noch Glück und wirkliche Nähe in Beziehungen erleben wir als Bedrohung.

Wenn wir den Willen aufbringen, uns zu erinnern, dann können wir diesen Schmerz fühlen. Wir machen die Erfahrung, dass er uns heute nicht mehr „umbringt“ und können betrauern, dass wir als Kinder nicht so geliebt worden sind, wie wir es so dringend gebraucht hätten.

Die Trauer bringt uns mit unseren wahren Gefühlen in Verbindung. Leicht ist das nicht, doch wenn wir den Mut dazu haben, können wir in einer liebevollen Beziehung mit uns selbst und mit anderen Lebewesen sein. Wir ändern die Welt für uns und für andere!


Quellen und Anmerkungen:

(1) Arno Gruen: Lindauer Texte – Texte zur psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildung, 1994, S. 243


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