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Gesänge ohne Punkt und Komma

Gesänge ohne Punkt und Komma

Die Poetik-Ecke XXXVIII gibt in vier Gesängen den Toten und den Lebenden die Sprache zurück.

Gesang 1

An die Toten von Bergamo

Ihr bleibt die der Welt Abgewandten
die Sollbruchstelle der Epoche
Opfer eines Wahns
der euch überleben lässt
im Auf und Ab der Bilder

Am Anfang Klinik-Flure
in verschorftes Licht getaucht
Bett an Bett gereiht
von einer Kamera zynisch herangezoomt
wurdet ihr zu Statthaltern
verminter Meinung auserkoren
eingebettet in einem vermumten Plan
einer Zukunft
jenseits der Menschen

mit ungelenken Leibern
und in aufreizendem Starrkrampf
wandelte man euch
— schon in Todesnähe —
zur Biomasse

dagegen erhob sich euer lautloser Schrei
von denen
die zu wenig gelebt haben
und Maientage einfordern
die heftigen Ausschläge des Glücks
des einmal nur einmal gewesen seins

wer hört euch noch
in euren Rohrstangen-Betten
an denen der Schweiß des Ungefähren klebt
der Angst vor der Angst

wie mit euch umgehen
wie eurer noch gedenken können
wo die neue Normalität und die genormte Zeit
von allen
auch euch
glatte Schnitte verlangte
selbst in totgesagten Parks wurdet ihr nicht heimisch
stattdessen stieß der längst verfemte Gemein-Sinn euch noch
einmal in ein schuldhaftes Vergessen

eingefriedet
von allzu friedfertigen
Predigern ent-sorgt
aufgebahrt in kalten Domhallen
eingehegt in einem stählernen Wahrheitsdiskurs

in jenen Tagen
hinter Trennwänden
lockte euch kein Andachts-Weihrauch
kein Kinderstaunen trieb euch hinaus
in die Zukunft
gefangen in der quälenden Notdurft eures Atems
fiel kein begütigendes Wort auf euch
kein verstohlener Blick galt euch
auch trat kein Erlkönig in stürmischer Nacht
euch einsilbig und fiebernd zur Seite
ein vermessenes Maßnehmen war es
das an euch Grenzgängern exekutiert wurde
und euch noch einmal in den Tod trieb

uns aber blieb verwehrt
über den Todesfluss mit Charon euer Begleiter zu sein
viel zu schnell verschwandet ihr im Nebel der Ereignisse
wurdet in den Schauer einer Idee vom entlebten Überleben gestellt
in kriechende Schwaden von Meinungen gehüllt

seither wandelt ihr dort
wo niemand je war
und schmerzvolle Wucherungen
im Leerraum der Diskurse
künden davon
dass es euch gab

Gesang 2

An die Sterblichen

Passanten sind wir
Wesen im Vorübergehn
halb unbemerkt
halb absichtslos
dem Gleichmaß streben wir entgegen
im Treibgut des Zufalls

was blieb von uns denn je
wohin wir uns auch wenden:
kein Wort, das währt, kein Tun
steht ein für Sinn
Antennen, die ins Leere gehn
im Stau verhetzter Ewigkeit

wer spürt da noch
den Wimpernschlag der Stille
den müde werdenden Tag
sucht nach der Erde flüsternde Früchte
dem Echo verstreuter Winde
und — ach zuletzt —
dem Klang verspielter Nächte,
worin das Leben uns umschloss
auf tönender Haut

um endlich
hinüberdämmern zu dir

Gesang 3

Erinnerung an Vergleichbares

Oh ihr Menschenkörper aus alter Zeit
wo man euch noch Leiber nannte
rauer erschienet ihr einst —
damals noch weit ausgreifend in die Kunft
unverstellter Erwartung

gekrümmt und vorgebeugt
das Gesicht verwunschen und verwundert
so wie sie uns
den Nachgeborenen heute noch entgegengehn
aus nackten Kirchennischen
sich lösend
ohne die eifernde Scham der allzu Ge-Rechten
in einer uns
abgewandten Innerlichkeit,
kehren sie zurück in ihre Ursprungsbilder

Leiber wart ihr und bleibt ihr
im Schlund des Nie wieder
Leiber die einst eher an einen Torso erinnern
von Pestbeulen und Verschürfungen übersät

ach ihr Kleinwüchsigen
in Gebein und Pein gegossen
auf das Rad gespannt
oder gepfählt auf Holzpfosten
wie littet ihr an schaudernder Unendlichkeit
anders als wir
die wir zur Vorläufigkeit geschrumpft sind

Wie sollten wir da zusammenkommen?

Gesang 4

Verwiesen in die Dunkelgänge des Verschweigens

wer sucht da noch nach dem was geschah — der
Grauzone morgens
dem Lichtzwang über den schwelenden Rauch über
dem Ausritt in die Welt des es war als ob

jenseits des bunten Markts des Bessermachens
des Höher Hinaus
Aus tausend Richtigkeiten
bespielen wir unseren Alltag:
letzte Zeugen einer Gleich-Gültigkeit
die sich nahtlos fügt den Verlockungen
der Empfindsamkeit


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Quellen und Anmerkungen:

Soeben erschienen: Werner Köhne: „Zur Ästhetik des Widerstands - 200 Versuche, die Welt seit Corona wieder erzählbar zu machen“ (Sodenkamp und Lenz)

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