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Mitten im Wald ein Güterwaggon

Mitten im Wald ein Güterwaggon

In der Poetik-Ecke XXXXV bekommt das Verlorene eine Zukunft.

Vorbemerkung der Literaturredaktion: Für dieses eine Mal ist die Poetik-Ecke lang. Doch die Gedichte, vom Dichter in dieser Anordnung gesetzt, müssen durchaus in dieser Verschränkung publiziert werden, auf dass das Universum der Bildlichkeit als Ganzes erfahrbar wird. Ein mehrmaliges Eintauchen ist zu empfehlen.

Ein entsetzliches Ende

Der nächtliche Sturm fuhr
auf der Straße mit, fast blind
die Windschutzscheibe des Autos vom Regen,
als ich auf den Hof einbog durchs Tor.

Schwarz stand das Haus da, ohne
irgendein Licht in seinem Innern. Die Blitze jagten
über das Dach, nicht mal der Hund schlug noch an.
So viel Einsamkeit kann auf drei Treppenstufen stehen.

Ich klingelte trotz der Finsternis, der nichts
antwortete als Finsternis aus der Tiefe des Hauses.
Da begriff ich, dass irgendwo im Innern
ein Toter lag. Und das Rascheln der Pferde im Stall

war nur ein kleiner Trost in der untergehenden Welt.

Ein Ruhigwerden, mit Rotwein und Kriegsende darin

Regen hat eingesetzt vor den Fenstern,
in der Mitte der Nacht,
und Sanftheit kehrt zurück zu unserer Erde.

Alles so grün noch, was tuschelnd im Garten
zu hören ist. Als ob die Welt noch etwas
zu erzählen hätte vom Glück.

Ich lausche in das Dunkel hinaus, es scheinen
noch Vögel zu singen. Und die düsteren Büsche ringsum
klingen wie eine einzige Dankbarkeit.

Es ist, als finge mit diesem Rauschen im Garten
endlich das Seligsein in unserem Leben an:
ein Ruhigwerden, mit Rotwein und Kriegsende darin.

Und die blutige Wahrheit gäb’s nur im Fernsehen noch,
im warmen Zimmer, in einem Apparat, der nunmehr

zu schweigen hätte mit seinem Bildschirm, schwarz
wie ein Flügel von Steinway & Sons: ohne Musik.

Ein netter Sonntag überall

Der Sommer schläft in allen Bäumen
an diesem Sonntagvormittag,
selbst der Asphalt scheint heiß zu träumen
vom Ende aller Hast und Plag.

Die Stille summt im Grün herum,
ein Ruhigwerden stoppt die Welt.
Doch wär‘ man tot oder nur dumm,
säh‘ man im Frieden nicht das Geld.

Das Geld, das alles trotzdem knechtet,
die Armen hier, die Raffer da,
der Reichtum, der die Welt entrechtet,
auch wenn die Sonne wärmt, hurra!

Mag sein, die Linden unterhalten sich,
ganz glücklich mit dem Sonnenlicht,
mag sein, die Gärten blühen ewiglich,
und Elend gibt’s für Stunden nicht.

Mag sein, der Hund da drüben weiß von nichts,
wenn er sein Bein hebt hie und da,
mag sein, der Dame drüben nicht gebricht’s
an Geld, dem Glücke wirklich nah!

Der Sonntag unter diesem Himmelsblau
ist tatsächlich aufgerissen in zwei Welten.
Es gibt das Leuchten und das Grau,
und nur die Geldbesitzer gelten.
In Villen ist leicht gut sein, doch auch schlecht.
In vielen Zimmern gibt es wieder Not.
Das Unrecht gegenüber Armen ist nun Recht,
und mancher ist bereits lebendig tot.

Die Sonne scheint noch immer hell,
noch immer wärmt ihr Licht die Welt.
Doch Elend herrscht genauso grell,
und nur die Reichen haben Macht und Geld.

Strand unter den Füßen?

Die Kastanien tragen ihre Schatten durch die Stadt,
hell leuchtend Kinder darunter wie ein Lachen,
das nicht aufhören will. Und ein Duft, der bis
in die Herzen weht, als gäb’s nur noch Flugreisen auf der Welt.

Die Kioske sind bunt von den Zeitschriften, die
alle Menschen in andere Wirklichkeiten entführen wollen.
So blass dagegen die Zeitungen, verlogen zwar
alle, doch trotzdem nicht ohne Elend und Krieg.

Aber wer hört an einem Sommertag Nachrichten,
die vom Gegenteil handeln eines weltweiten Glücks?

Auch ich habe Sandalen an und tue ganz so,
als gäbe es nur Strand mit sehr viel Himmel darüber.

Diesseits der Nacht hinter den Fenstern

Ein Knistern war leise zu hören vom Kamin,
er saß mit übergeschlagenen Beinen da,
das Piemont hielt Tröstung bereit im Glas neben ihm,
und er träumte ohne Worte von den Bösartigkeiten der Welt.

Sage keiner, so ließe sich nicht leben,
in all dieser Wärme voller Ruhigsein und Musik,
gegen die Verbrechen jenseits des Horizonts
und diesseits der Nacht, welche die Ferne verbirgt.

Die Stille im Buch, mit einem Umschlag so warm,
als gäbe es Menschen nur im zärtlichen Glück,
kann Widerstand aufkommen lassen in einem Kopf,
der am frohen Morgen danach den Aufruhr auslöst,

und die Bitternis der Ungerechtigkeiten ist stärker als
das Glühen im Glas neben dem Mann am Kamin.

Wenn Musik urplötzlich mit der Stille spielt

Alles ist Samt in den Gängen, die Wärme,
das halbdunkle Licht, der eigene leise Schritt. Stadthalle,
Mülheim an der Ruhr, ein später Nachmittag,
vielleicht mit einem düsteren Tag vor den Mauern,
mit Regen sogar und erster Kälte des Jahres.

Der Junge streift durch die stillen Foyers, irgendein
Knistern in der Luft, und dann, urplötzlich, diese Musik,
die durch die geschlossenen Türen vom Konzertsaal
zu ihm herausdringt, diese Geige, dieses Flehen, dieses Singen,
das mit der Stille zu spielen beginnt: „Erbarme Dich!“

Die Sängerin singt eine Sehnsucht durch ihn hindurch, als ob
ungeahnt das Paradies angekommen wäre bei ihm,
ein Bei-Gott-Sein, das es vorher nicht gab und nachher nicht gibt
und jetzt da ist und nicht da ist. Im Weinen gibt es
für ihn urplötzlich Gott, und Tränen füllen die schweigenden Gänge

mit beseligender Schönheit und Trauer, mit Ferne und Glück.

Der Güterwaggon

Mitten im Wald, es regnet schon wieder.
Auf einer Lichtung, auf einem Abstellgleis
steht vereinsamt ein Güterwaggon.
Sind Vögel zu hören durch das Rauschen
des Regens hindurch an diesem Herbsttag?

Der Wagen ist verschlossen, Farbe fast wie Ochsenblut,
kein Fenster zu öffnen, keine Türe. Ein Viehwagen
oder was? Wir Kinder umkreisen die Stille
im Wageninneren wieder und wieder.
Nichts wie diese Leere in unseren Köpfen.

Geheimnis und Rätsel. Ein Abenteuer, das lauert,
auf uns. Keine Antworten von drinnen, keine
Geräusche, keine Gerüche. Was in diesem Waggon
wohl einmal transportiert worden ist?
Oder ob es dort Gold zu entdecken gibt?

Keine dreihundert Schritte entfernt dieser mächtige Bunker,
auch dieser mitten im Wald unter uralten Bäumen,
gesprengt, mit der Echokammer unter
dem steinernen Boden. Voller Brutalität
und Abenteuer auch diese Entdeckung.

Welches Grauen meldet sich da zu Wort,
welche Abenteuerlust, welche Neugier? Gut,
dass nur der Regen zu hören ist, sonst nichts.
Und wir zu dritt dieses Geheimnis umkreisen
und nur Bäume und Büsche sehen und die Gräser.

Längst schon nass die Schuhe von unserem Streifzug
in die undurchdringliche Vergangenheit. Wo
halten wir uns gerade in unseren Köpfen auf?
In Kindergeschichten auf jeden Fall und vielleicht
auch irgendwo in der Mitte eines seltsamen Entsetzens.

Kindheit Dein Feindesland

Der Sturm jagt seine Geräusche ums Haus,
während aus den Lautsprechern
die namenlose, namenlose Freude besungen wird.
Ich bin aufgestanden, um den Schreibblock zu holen,
weil es meinen Kopf zurückgetrieben hat
in sehr frühe Tage meines Erlebens.

Ja, ich wuchs in meiner Kindheit
ohne irgendeine Heimat auf. Vertraut
war mir die Wohnküche, der Blick
hinaus durch die Fenster (der Birnbaum,
immer irgendwie grau hinter dem Haus).
Aber die Menschen ringsum!

Das schlimmste Gekeife wohnte gleich nebenan,
ein Ehepaar mit zwei Kindern,
jünger als ich, mit sehr viel Hass
gegen uns, die Polacken, das Ausländerpack!
Schlimm aber auch der Mann im ersten Stock,
stets die rote Wut im Gesicht,
wenn er die Treppe herunterkam.

Die Haustür, die hinter ihm zufiel,
fast wie ein Fallbeil für den Frühling
draußen vor ihr. Auch wenn dort
mein Spielkamerad wartete, war es kalt
vor der Wohnung im Treppenhaus.
Und auch sonst die grauenvollen Geräusche!

Finster lauschte auch die Wand
von nebenan in unsere Küche hinein.
Gab es Mordabsichten gegen mich,
auf einer Müllkippe (Tabletten), oder war das
nur eine Erzählung meiner Mutter gewesen?
Vater mit seinem windschiefen Gesicht,
das er sich am Hochofen geholt hatte,
wollte mit allen gut stehen!

Er machte sich gern Panibratschke
mit dem Schuhmachermeister in dessen Werkstatt,
während ich draußen der Langeweile der Hühner zusah,
selbst der Regen, dieses Grau, störte mich nicht.
War die Freundlichkeit des Schusters nur gekauft?
Geschäftsmann war damals schließlich fast jeder!

Aus anderen Häusern äugte der Hass
ebenso kalt aus den Fenstern. Später
sollte ich diese Gefahr wiedererkennen
in einer Oper aus Wien, Beethovens einziger:
„Wir sind belauscht mit Ohr und Blick!“
Da war ich schon weiter mit meiner Furcht.

Da gab’s das schweißnasse Gesicht
schon ohne jeglichen Anlass, da hütete ich mich
schon beim Entstehen vor jedem Wort,
das in mir losbrechen wollte. Da war die Angst
längst schon zur ganzen Seele geworden,
und harte Mühe war es, noch ohne Zittern
durch die Welt zu gehen, die nicht in einer Rettung endete,

wie sie eben noch bei Beethoven zu hören war!

Fast schon zwölf Jahre alt

Das Jagen, gegen Abend schon, über die Wiesen,
an den Holunderbüschen vorbei, wie
Unruhe nach einer anderen Welt.

Die Freunde, im Dunkel der Bäume, bleiben
versteckt, bis ein Knistern am Boden
ihr Verstecktsein verrät. Jubel bei allen.

Todtraurig der Weg nach Hause zurück.
Das Licht, das aus der Wohnküche fällt,
sieht trübsinnig aus wie ein Vater mit Rohrstock.

Nur das Radio hilft wieder über einen Abend
hinweg. Paul Temple ermittelt im männlichen Tonfall.
„Genau, Steve!“, während Mutter die Teller abwäscht.

Wer hier der Täter ist, erfährt der Junge erst
drei Wochen später (die aalglatte Stimme
des Hauptverdächtigen und die schräge Musik immer am Schluss).

Im Bett dann wieder die Unruhe, die
ihn nicht einschlafen lässt, bis irgendeine Zeit
gekommen ist, die das Kind überwältigt.

Tags darauf immer die Müdigkeit, während
er am Küchentisch sitzt. Muckefuck und Schmalzbrot
und Schule vor ihm, mit herrlichstem Deutschunterricht.

Dort wird das Jagen dann fortgesetzt,
auf dem Papier voller Erregung und Glück,
und alles spielt nun zitternd hinter dem Horizont.

Das Spielwarengeschäft

Regen, Kälte und Wind, es war Abend geworden.
In einer Nebenstraße, die ins Dunkle führte,
das Leuchten eines Spielzeuggeschäftes,
das uns Kinder hineinlockte in eine schönere Welt.

Die kleine Eisenbahn fuhr immer im Kreis
herum, Puppen und Teddybären, reinlich und mollig,
lächelten von drei Seiten dazu, und das alles
sah aus wie das andere, das erträumtere Leben.

Überall hinter der Scheibe das Leuchten und Glitzern
unserer Wünsche! Mochte es regnen vor dem Fenster wie verrückt,
mochte die Kälte heraufkriechen bis über die Knie,
hinter der Scheibe war das ganz große Glück zu erblicken.

Auch andere Kinder träumten neben mir, versunken wie ich.
Wir alle standen da wie in der Fremde, obwohl wir Duisburg
doch kannten. Und nur die unruhigen Eltern sagten nun,
dass gleich die Straßenbahn käme, die uns nach Speldorf brächte.

Wahrlich, ich fuhr mit dem hellsten Paradies im Gedächtnis
nach Haus, nicht mal ein Sitzplatz war noch frei.
Aber diese Sehnsucht verließ mich nie, bis heute
nicht, da ich ein Auto besitze mit Führerschein,

da ich verheiratet bin und auch sonst fast vernünftig
geworden in fast allen Ecken meines erwachsenen Gehirns.
Und immer noch stehe ich in meinen Fantasien am Trafo
und lasse eine niedliche Eisenbahn ihre Kreise ziehn,

lasse sie ihre Kreise ziehn durch eine niedliche Landschaft.
Und noch immer stehe ich am Trafo und schicke eine
kleine Lokomotive auf ihre kleinen Fahrten in die Welt hinaus
und träume noch immer von meinen seligen Wünschen,

von meinen großen seligen Wünschen an die kleine Welt
hinter dem Glas, hinter einer Schaufensterscheibe,
die mit all ihren Regentropfen nur so glänzte von dem herrlichen
Licht, das aus dem Spielzeugladen fiel und unsere Gesichter

aufleuchten ließ, regennass und begierig, fast wie in Ewigkeit.

Morde oder das bessere Leben

Der Sommer ruht auf den Fensterbänken aus.
Schreiben nur, um zu vergessen?
Dann sollte man vergessen, schreiben zu wollen!
Und was beleuchtet nicht alles der Sonnenschein
bereits hier in der Mitte unserer Welt?

Die Herren oben scheinen sich alle
verschworen zu haben, Ganoven zu sein.
Gerade läuft ein Hund mit hängender Zunge die Straße herauf.
Wenn das da draußen die Wirklichkeit ist,
sollte man lieber nicht aus den Fenstern sehen.

Der blaue Himmel segelt am Himmel entlang,
als ob jenseits der Horizonte keinerlei Welt
mehr existierte: Bombenstimmungen, Regionen des
Hasses, Regionen des Hasses gegen den Hass.
Lieber in die Küche gehen und was Gutes kochen.

Zur Zeit riecht es bei uns wunderbar nach Basilikum,
die Luft ist ganz grün davon und das Kopfinnere auch.
Aber was sich sonst zwischen den eigenen Ohren herumtreibt,
ist böse, gehört einem nicht, bleibt Realität trotz allem
und sorgt dafür, dass man die Sorgen nicht loswird.

Wir leben in der Mitte eines Friedens inmitten der Kriege.


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Quellen und Anmerkungen:

Die vom Autor eingesetzten Bilder sind im Internet frei zugänglich.

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