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Nix zu tun außer Frieden

Nix zu tun außer Frieden

Eine Kurzgeschichte vom Lebensgefühl in der Festung Europa, geschrieben von Katrin McClean.

Autoren, die dem Literatur-Salon einen Text anbieten möchten, schreiben bitte an literatur@rubikon.news.

Nix zu tun außer Frieden

von Katrin McClean

Hab nix zu tun heute. Kein Datenauswertungs-, Callcenter-, Promotion-irgendwas-Job. Ist okay so. Hab schon das Geld zusammen, das ich für diesen Monat brauche, Miete, Telefon, Strom, Essen - kann ich alles bezahlen, ich bin ruhig. Der Monat hat noch sieben Tage. Wenn ich noch was verdiene, kann ich mir noch was kaufen, verdien ich nichts, hab ich Zeit. Ist doch auch gut.
Schluss jetzt! Immer diese Rechnereien und Rechtfertigungen. Morgens nach dem Aufwachen ist es am schlimmsten. Da hilft nur Kaffeetrinken und an den Computer setzen.
Eigentlich absurd. Da hab ich schon mal frei und dann setz ich mich an einen Schreibtisch. Allerdings setzt sich wohl inzwischen die halbe Menschheit, wenn sie frei hat, an einen Schreibtisch, da steht schließlich der Computer.
Ich könnte auch einfach raus auf die Straße und sehen, was passiert, aber wo man doch vorher checken kann, wo es am interessantesten wird. Allerdings checkt man und checkt man und dann ist es abends und man ist hundemüde und war nirgendwo.
Es klingelt.
Das ist bestimmt Werner. Werner könnte mein Vater sein. Mitte siebzig, hat zwanzig Jahre bei derselben Zeitung gearbeitet. Außerdem könnten wir Kollegen sein, immerhin haben wir beide was Ähnliches studiert, und ich hab auch mal bei einer Zeitung gearbeitet. Von der Festanstellung, in der Werner sein halbes Leben gearbeitet hat, konnte ich allerdings nur träumen.
Du stellst einfach zu viele Fragen, Mona, hat mein letzter Chef gestöhnt. Mag ja sein, dass die berechtigt sind, aber hier hat niemand Zeit für politische Diskussionen.
Ja, ich mach die Tür ja schon auf.
Werner lächelt schief. Er sieht ein bisschen aus wie der ehemalige Bundespräsident, dieser Horst Köhler, die Augen wie ein junggebliebener gütiger Großvater. Seit seiner vierten Scheidung lebt Werner allein, und gehört wie ich zu den fünfzig Prozent Single-Haushalten in unserer Stadt. Die Zahl tröstet mich jeden Morgen, wenn ich wieder allein aufwache. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn diese vielen Singles mal alle zusammen in einer großen Turnhalle aufwachen würden.
Werner und ich machen so was wie gegenseitige Nachbarschaftshilfe im Alleinsein, verbunden mit den üblichen peinlichen Momenten.
„Sag mal, ich hoffe, ich störe jetzt nicht“, sagt er nach heftigem Räuspern. „Ich meine, ist es okay, wenn ich dich mal was frage?“
Sonst hätte ich die Tür ja nicht aufgemacht, denke ich, sag aber nur laut: „Leg los.“
Offiziell möchte Werner einen Schluck Milch für seinen Kaffee, aber in Wirklichkeit will er mich zum Essen einladen. Wie immer braucht er noch mehrere entschuldigende Stammelsätze, bis er endlich damit herausrückt.
„Klar, warum nicht“, antworte ich. Jeder Plan, der mich aus den Klauen von facebook reißt, ist ein guter Plan.
Werner verabschiedet sich mit einem Glas Milch in der Hand und leuchtenden Großvateraugen.
Sind noch zehn Stunden offen, ich gehe zurück zum Computer und checke meine facebook-Startseite.
Abel hat seine Ansichten zur Mindestlohndebatte aufgeschrieben, die Kain ergänzt und Eurydike, Schlumpf und Spider-Man kommentiert haben.
Ich heiße bei facebook Mona Lisa und schreibe: „Klar bin ich für Mindestlohn, auch wenn der bei mir als Zeitarbeiterin gar nicht ankommt.“
Da hängt sich Orpheus rein. „Stoppt erstmal den Massenimport von Arbeitskräften. Aber nein! Jetzt gibt es sogar so Bekloppte, die demonstrieren dafür, dass noch mehr Flüchtlinge hier bleiben sollen.“
„Echt, wo?“, fragt Eurydike.
Abel macht: „Lol“
Orpheus schreibt: „Sag ich nicht.“
„Ich aber“, kontert Zeus. „Heute 15 Uhr Hauptbahnhof, wir sehen uns.“
„Dumm gelaufen, Orpheus“, schreibe ich, setze drei Smileys dahinter und füge hinzu: „Danke für den Tipp, Zeus.“.
Das ist mal eine geglückte Flucht aus dem virtuellen Dasein.
Und ein echter Grund, unter die Dusche zu gehen. Lust auf eine Protest-Demonstration hatte ich schon lange, doch für Zeitarbeiter gibt es keine Gewerkschaft, dann eben für Flüchtlinge.
Zurück von der Dusche informiere ich mich über die Solidaritätsaktion für Flüchtlinge. Der Demo von heute sind schon einige vorausgegangen. Hatte ich gar nicht mitbekommen. Dreihundert junge Männer sind 2011 vor dem Krieg in Libyen geflohen und haben es nun nach fast drei Jahren bis in unsere Stadt geschafft. Jetzt will die Stadt ihren Flüchtlingsstatus nicht anerkennen. Ich freue mich auf meine facebook-Freunde, manche von ihnen hab ich noch nie gesehen.

Um fünfzehn Uhr stehen an die tausend Leute vor dem Bahnhof und mit jeder ankommenden S- und U-Bahn werden es mehr. Ich muss Eurydike mehrmals antelefonieren, bevor ich sie finde. Sie sieht älter aus als auf ihrem Profil-Foto und ihr richtiger Name ist Celine. Sie hat sogar schon einen der Flüchtlinge angesprochen. Er heißt Abdul. Abdul begrüßt mich auf Englisch. Er sieht ein wenig verwirrt aus, so als begreife er nicht, warum sich diese ganzen Leute auf dem Bahnhofsvorplatz versammeln und sich nun langsam in Bewegung setzen.
Wir folgen einem LKW mit Sound-Anlage, der seine Ska-Musik in die Ohren der verwunderten Passanten donnert, bis ein junger Afrikaner die Musik runterdreht, das Mikro ergreift und zu skandieren beginnt. „No border, no nation, no deportation“
Alle brüllen mit, und ich versuche es auch, doch meine Stimme versagt, weil ich weinen muss. Ich hab schon mal versucht, in einem Chor zu singen. Als sich meine Stimme mit den Stimmen der anderen vereinte, schossen mir Tränen in die Augen und ich konnte nicht weitersingen. Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht ist es nur die völlig unerträgliche Sehnsucht nach einer Welt, in der alle Menschen zusammenhalten, keine Ahnung.
Ein zweiter Wagen fährt an uns vorbei. An der LKW-Plane hat jemand ein überlebensgroßes Bild angebracht.
Es zeigt Leichen, die auf dem Wasser treiben, ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer. „Why“, schreien drei große Buchstaben darunter.
„Hoch die internationale Solidarität“ schreit der Afrikaner auf dem Wagen. Ich schreie mit wie alle anderen, und bemühe mich, die Tränen, die hinter meinen Augen sitzen, zurück zu schreien.
Abdul, der kein Deutsch kann, bewegt lautlos seinen Mund und versucht die Vokale zu formen.
Wir sind schon eine halbe Stunde nebeneinander hergelaufen, und ich traue mich endlich, ihn etwas zu fragen.
„Weißt du schon, ob du eine Chance hast zu bleiben?”
Wir sprechen englisch miteinander.
„Keine Ahnung“, antwortet er.
„Es gibt Anwälte, die sich darum kümmern“, erklärt mir Celine. „Es gibt einen Paragraphen, der angewendet werden kann, um der gesamten Gruppe der Flüchtlinge ein Bleiberecht zu geben. Aber es gibt auch Paragraphen die dagegen sprechen.“
„Wofür gibt es denn Gesetze, wenn man für jede x-beliebige Entscheidung einen eigenen Paragraphen hat?“, frage ich in die Luft.
Celine lächelt ratlos. Abdul ruft jetzt etwas lauter mit: „I-a-ale-o-iditet!“
Am Straßenrand steht ein Mann im Kaschmirmantel, der aussieht, als würde er nicht begreifen, was hier vor sich geht. Ich gehe auf ihn zu, doch bevor ich ihm was erklären kann, hebt er die Hände.
„Den ganzen Dreck nach Afrika schicken, den ganzen, dich auch!“
Über so etwas muss ich komischerweise nicht weinen. Es ist eher so, als würden solche Leute mich in eine Betäubung brüllen und es dauert dann eine ganze Weile, bis ich wieder etwas empfinden kann.
Ich kehre zu Abdul zurück. Celine hat Zeus getroffen, berichtet er mir und dass er nicht weiß, wo die beiden jetzt sind.
Schweigend laufen wir nebeneinander her. Ich fühle mich in diesem Schweigen überhaupt nicht wohl und versuche mich damit zu beruhigen, dass afrikanische Männer vermutlich genauso wie die Männer, die ich sonst so kenne, keine großen Probleme damit haben, wenn mal nicht geredet wird.
Umso lauter und fester skandieren wir alle Protestrufe mit. Abdul hat seine Schüchternheit verloren, und meine Tränen bleiben jetzt ordentlich in ihren Drüsen. Das habe ich wohl dem Kaschmir-Mantel zu verdanken.

Meine Gedanken fangen an, das Schweigen in meinem Kopf aufzulösen, mit Fragen, die ich Abdul am liebsten stellen möchte. Wie ist es denn auf einem Flüchtlingsboot?
Aber vielleicht sollte ich erstmal was von mir erzählen. Vielleicht will er ja wirklich wissen, warum ich auf diese Demo gegangen bin.
„Es ist nicht gut, in einer Festung zu leben“, erkläre ich ihm.
Er fragt: „Was?“
Ich sage: „Es ist nicht gut, ständig ein schlechtes Gewissen zu haben, dass die Menschen, die genauso leben wollen wie ich, ihr Leben riskieren müssen und sterben. Es ist überhaupt nicht gut, ständig mit diesem Gewissen zu leben.“
Ich weiß nicht, ob Abdul mich überhaupt verstanden hat. Sein Gesicht zeigt keine Regung. Aber er bleibt in meiner Nähe.
Der Demonstrationszug bewegt sich um den See, der sich in der Mitte unserer Stadt befindet. Viele Passanten, die uns sehen könnten, gibt es hier nicht. Als nächstes geht es über eine Brücke. Hier war ich noch nie zu Fuß.
„Hier bin ich bisher nur mit dem Bus drüber gefahren“, sage ich.
Abdul zeigt auf einen Platz unter der Brücke: „Da unten habe ich geschlafen. Das waren meine ersten Nächte hier.“
„Oh“, sage ich betreten. Ich bin kurz davor zu fragen, ob es sehr kalt war, lasse es aber lieber.
Abdul redet von allein weiter. „Ein Mann kam und hat gesagt, ich kann ins Piek-As gehen.“
Von dem Obdachlosen-Asyl habe ich schon gehört. Erleichtert denke ich, dass es wenigstens solche Einrichtungen gibt.
„Aber dann kam Bürgermeister“, sagt Abdul. „Und hat gesagt, dass Piek-As nicht für Flüchtlinge ist, und wir mussten wieder gehen. Erst haben wir Zelt vor dem Bahnhof aufgeschlagen, dann ist die Kirche gekommen. Da wohnen wir jetzt. Auf Steinfußboden.“
Mein Mitleid mit ihm wird immer größer, aber was sollen wir damit anfangen?
„Ich wollte überhaupt nicht hierher“, bricht es aus Abdul heraus. „Ich wollte in Nordafrika bleiben und Geld verdienen für meine Familie in Ghana, für meine Eltern und Schwestern. Ich hab als Maurer gearbeitet, es ging mir gut.“
„Hier hat man uns gesagt, in Libyen war Bürgerkrieg“, sage ich vorsichtig.
„Ja“, erwidert Abdul heftig. „Aber von dem konnte man sich fernhalten, wenn man wollte.“ „You could stay away“, sagt er laut. „But you cannot stay away from bombs.“
Ich nicke. Was könnte ich sonst tun?
„Dann kam das Gerücht, alle schwarzen Männer waren Söldner von Gaddafi. Ich war Mauerer. Sie haben mich an den Hafen gezerrt und gesagt, entweder du gehst auf das Boot oder wir erschießen dich.“
„Bei uns heißt es, jeder, der auf so ein Boot geht, hat einer Schlepperbande viel Geld gezahlt.“
Abdul lacht auf. „Viel Geld?“ Damit wäre ich nach Hause gegangen, zu meiner Familie.
Wir sind schon fast am Rathausplatz angelangt, dem Ziel der Demonstration. Ich weiß nicht, was ich Abdul sagen soll, und ich werde das Gefühl nicht los, dass es verdammt wichtig ist, was ich jetzt sage. Dass es verdammt leicht wäre, ihn jetzt zu verletzen oder zu enttäuschen oder falsche Hoffnungen zu wecken.
Wir haben schon wieder fast fünf Minuten geschwiegen.
„Sie hätten das Meerwasser nicht trinken dürfen“, sagt er plötzlich. „Wir haben es ihnen immer wieder gesagt. Trinkt das Salzwasser nicht, ihr sterbt daran. Aber auf dem Boot hatten wir nichts mehr zu trinken.“
Wir sind am Rathausplatz angekommen. Durch einen Lautsprecher wird bekannt gegeben, dass wir jetzt zehntausend Leute sind.
„Das ist seit den achtziger Jahren die größte Demonstration in der Stadt.“
Die Massen jubeln.
„Wen meinst du mit sie?“, frage ich vorsichtig, als es wieder ruhig ist.
Vor uns steigt ein bekannter Schauspieler auf den Demo-Wagen. Sein schütteres graublondes Haar stemmt sich gegen den Wind.
„Schämen Sie sich, Herr Bürgermeister“, ruft er laut. „Unsere Regierung ist für das Schicksal dieser Menschen mitverantwortlich. Sie hat diesen Krieg gebilligt, sie hat sich mit Waffenlieferungen beteiligt. Sie hat Geld daran verdient. In unserer Stadt wurde Kriegsmaschinerie gebaut, die in diesem Krieg eingesetzt wurde. Geben Sie diesen jungen Menschen, die auf ihrer Flucht bis hierher gelangt sind, eine Chance. Setzen Sie ein Zeichen für den Frieden!“
Es ist Freitagnachmittag, der Bürgermeister ist schon zu Hause.
„Die Frauen“, sagt Abdul. „Die Frauen haben es nicht ausgehalten. Und die Kinder auch nicht. Sie haben das Meerwasser getrunken. Ihre Leichen haben wir ins Meer geworfen.“
„Müsst ihr unbedingt hier demonstrieren!“, schimpft eine Frau, die ihren Kinderwagen durch die Menge schiebt. „Ehrlich, als hätten wir nicht schon genug Sorgen.“
„Herr Bürgermeister, ich fordere Sie auf“, ruft der Schauspieler dem leeren Rathaus am Freitag-Nachmittag zu und erklärt mit guten Worten, warum Abdul und seine Freunde Menschen sind und ein Recht auf ihr Leben haben.
Mit seiner Rede ist die Demo beendet.
Abdul denkt immer noch an die Frauen und Kinder auf seinem Boot. Ich bin ganz starr vor Mitleid, ich möchte ihn umarmen. Als ich mich ihm nähere hebt er in einer hilflosen Geste die Arme, ich gebe ihm gerade noch rechtzeitig meine Hand.
„Danke, dass ich dich treffen konnte“, sage ich steif und mit belegter Stimme.
„Na, habt ihr euch gut unterhalten?“, fragt Celine, die plötzlich neben uns steht. „Wir gehen noch was essen. Kommst du mit?“, fragt sie mich.
„Bin verabredet.“ Ich gebe mir Mühe zu lächeln und sehe, dass Abdul sich dieselbe Mühe gibt. Wir heben vorsichtig unsere Hände zu einem vagen Gruß, dann verliere ich ihn und Celine aus den Augen.

In der S-Bahn sehen die Menschen müde aus. Freitagfeierabendmüde. Der Stress einer Arbeitswoche macht ihre Gesichter blass.
„Ich weiß“, sage ich leise zu ihnen. „Ihr habt keine Zeit zu solchen Demos zu gehen. Ich mache euch keine Vorwürfe, dass ihr nicht dort wart. Ich bin für euch hingegangen. Wenn ihr Abduls Geschichte kennen würdet, wärt ihr vielleicht selbst gegangen. Vielleicht hättet ihr ja sogar eine Idee, wo er ein Zimmer haben könnte, um wenigstens vernünftig zu wohnen.“

Die letzten Meter nach Hause renne ich, um die Lokalnachrichten nicht zu verpassen. Ich habe mich noch nie im Fernsehen gesehen. Gerade als ich den Fernseher anschalte, fangen sie an. Ich rauche meine erste Zigarette für heute.
Die Nachrichten erzählen mir, in welchen Stadtteilen Schulen zusammengelegt werden, wo eine Gartenausstellung eröffnet wird, dann kommen schon die Lottozahlen.
Die größte Demonstration seit dreißig Jahren hat nicht mal in den Nachrichten stattgefunden. Ich schalte den Fernseher ab und fühle mich, als hätte mir grad jemand den Mund zugehalten. Ich schaue nur selten Fernsehen, wie blöd, dass ich das ausgerechnet heute tun musste. Jetzt komme ich zu spät zum Italiener.

Werner wartet schon, mit seinen freundlichen Großvateraugen.
„Na, meine Liebe, schön, dass du Zeit hast. Guck mal, die haben einen ganz neuen Wein hier aus Südafrika, den sollten wir mal probieren. Der Kellner hier ist ein bisschen schlafmützig, aber ist okay, der erinnert mich an….“
Werner erzählt gern Anekdoten, und da er in seinem Leben schon sehr oft essen gegangen ist, kennt er viele Anekdoten über Kellner.
Aus Rücksicht auf mein Budget bestellen wir das Nudelgericht und während das Essen serviert wird und wir essen, erzählt Werner von Kellnern, Kellner, die Bestellungen falsch verstanden haben, die zu viel Wechselgeld rausgaben und die betrunkener als ihre Gäste waren.
Werner hat schon so viel über seine lustigen Geschichten gelacht, dass seine Augen aus einem Kranz von Lachfältchen heraus strahlen.
Sonst lache ich viel lauter mit als heute. Ich trinke meinen Wein zu schnell. Werner hat schon eine Deutung für meine Schweigsamkeit.
„Naja, wahrscheinlich hast du ja andere Erfahrungen mit Kellnern gemacht. Aber gut, jetzt, wo du sie so in Schutz nimmst, fällt mir eine ganz tolle Kellnerin ein. Die war großartig. Also, du willst ja bestimmt auch mal eine gute Kellnergeschichte hören. Vor allem eine mit einer guten Frau, oder? Jaja, ich weiß da eine. Also pass auf….“
Ich höre gar nicht richtig hin. Ich würde mit Werner gern über die Demo sprechen und über Abdul, aber irgendwie findet meine Begegnung mit einem Flüchtling aus Afrika keinen Platz an diesem Tisch.
Der Kellner stellt mir das dritte Glas Wein hin.
Werner erzählt mit verschmitzten Augen von einer Kellnerin, mit der er auf einer Toilette verschwunden ist.
„Naja, das ist jetzt schon vierzig Jahre her. Mir ist das auch vorher und später nie wieder passiert, aber damals, da hat mich das so überkommen.“
Mit Werners Kloabenteuer verliere ich Abdul fast ganz aus den Augen. Und so, als würde er mir fehlen, leere ich das dritte Glas Wein in schnellen großen Schlucken. Kann es sein, dass ich aufgestöhnt habe?
Werner zuckt vor mir zusammen. „Oh, entschuldige, nein, du hast Recht, dir hätte ich das nicht erzählen dürfen, nein, ich verstehe, das musste dich jetzt verletzen. Für dich war das jetzt vermutlich total frauenfeindlich, die Sache mit dem Klo. Nein, also ich bitte dich da jetzt wirklich um Entschuldigung, du hast das jetzt wahrscheinlich als eine Art sprachliche Vergewaltigung aufgefasst. Also, das würde ich jetzt gern zurücknehmen. Also vergiss das bitte mit der Kellnerin, ja, denk einfach nicht mehr dran. Reden wir von was anderem. Was gibt’s Neues bei dir?“
Ich hatte gar nicht mehr damit gerechnet, dass ich heute noch drankomme. In meinem Kopf scheint bereits das Mittelmeer zu rauschen.
„Ich war auf einer Demo“, bringe ich hervor.
Werner lacht auf. „Was denn für eine Demo? Gibt es so was überhaupt noch?“
„Es war eine Solidaritätsdemo für Kriegsflüchtlinge aus Afrika. Dafür, dass sie hierbleiben können.“
Werner lacht schon wieder. „Du bist aber naiv. Das geht doch nicht. Wenn die hier bleiben dürfen, dann will der ganze Rest doch hinterher kommen. Wir können nicht allen Menschen auf der Welt helfen. Ja, ich weiß, du denkst jetzt, dass wir sie ja auch ausbeuten, und dass wir ihnen keine Waffen liefern sollen, jaja, ich weiß, ich bin ja nicht blöd. Es sind ja immer dieselben Argumente.“
„Aber es sind die richtigen Argumente“, fahre ich dazwischen.
„Ja, aber so war es nun mal schon immer. Es kann nun mal nicht allen gut gehen.“
Werner wischt mit seiner runzligen Hand über den Tisch, bis sich seine Finger am Stiel des Weinglases wiederfinden, das er jetzt zum Mund führt und trinkt.
Während ich zuschaue, wie sein Kehlkopf den faltigen Hals hoch und runter turnt, denke ich an leere Trinkwasserflaschen auf einem Flüchtlingsboot.
Werner setzt das Glas wieder ab. „Nein, also wirklich, liebe Mona, solche Demonstrationen sind kompletter Unsinn.“
„Sie haben nicht mal darüber berichtet“, beschwere ich mich. „Stell dir mal vor, zehntausend Menschen gehen auf die Straße und es kommt nicht einmal in den Nachrichten.“
Werner lacht. „Na, besser isses.“ Er nimmt den nächsten Schluck und stöhnt genüsslich. „Komm, Mona, lass uns über was andres reden und den Abend genießen. Du kannst doch auch nichts dafür.“
Er hat mir längst ein viertes Glas bestellt, das der Kellner vor mir abstellt. Ich trinke.
Werner fährt mit der Hand durch die Luft. „Ja, was wollte ich grad noch erzählen, ach ja, diese Sache mit der Kellnerin, ja, das war wirklich irre damals auf der Toilette.“
Während er weiter darüber philosophiert, ob er mir von dieser Geschichte eigentlich erzählen soll oder nicht und ob das, wovon er jetzt eigentlich erzählen will frauenfeindlich ist oder nicht, sehe ich tote Menschen auf dem Meer schwimmen. Dann sehe ich, wie sie an einer Kloschüssel vorbeischwimmen, in der ein alter Mann eine junge Kellnerin bedrängt. Die sind aber bald wieder verschwunden, dafür ist das Mittelmeer jetzt voller toter Menschen. Ich kann sie immer besser sehen, es sind nur Frauen und Kinder.
„… die war so scharf“, höre ich Werner.
„Stopp, halt den Mund, Werner“, sage ich laut.
„Oh, Entschuldigung, ich wusste, du findest das frauenfeindlich“, sagt Werner.
„Darum geht’s doch gar nicht.“ Die Leute vom Nebentisch sehen sich nach unserem Gespräch um. Warum machen die das? Was geht sie unser Gespräch an?
„Worum geht’s denn dann?“, fragt Werner verwirrt.
„Du bist ein Herrenmensch“, stelle ich fest.
„Was ist denn jetzt los?“, macht Werner.
Vielleicht ist er ja mit dem Alter schwerhörig geworden. Aber ich kann auch lauter. „Für dich ist es nicht nur selbstverständlich, dass es nicht allen Menschen gut geht, aber es ist dir auch völlig egal, wer für deinen Wohlstand bezahlt.“
„Für mich?“ Er lacht schon wieder. „Für mich muss niemand bezahlen! Ich hab jeden Cent meiner Rente selbst erarbeitet.“
Ich habe keine Lust, ihm die ganze Tragödie von Freihandelsabkommen, Landraub, Kriegswirtschaft und Billiglohn-Ausbeutung aufzublättern, die gleichzeitig zu Reichtum und Armut führt. Er war Journalist, das muss er alles selbst wissen.
Ich frage nur: „Wieso glaubst du eigentlich, dass du mehr Recht auf ein anständiges Leben hast als ein Mann aus Afrika? Hast du irgendwas Besonderes getan, das dir dieses Sonderrecht erteilt?“
Werner klopft beruhigend mit seiner Hand auf den Tisch.
„Ja, komm, lass uns über was anderes reden, Mona. Es war meine Schuld, ich hätte nicht mit der Toilette anfangen sollen.“
Dass der immer so ruhig bleibt. Diese ganze bekloppte Welt ist bestimmt nur deshalb so bekloppt, weil alle immer so ruhig bleiben, denke ich und meine Gedanken tosen wie die Brandung des Mittelmeeres, das an Europas Ufer rauscht.
„Deine Toilette ist mir total egal, Mann“, schreie ich. Wahrscheinlich habe ich vorher auch schon geschrien. „Für dich sind Afrikaner doch nur Untermenschen. Das ist wie bei den Nazis. Ein richtiger Nazi bist du.“
Jetzt steht er auf.
„Jetzt stehst du auf“, sage ich. „War ja klar. Wer zuerst Nazi sagt, hat gewonnen.“
Werner langt mit seinen fahrigen Händen nach seinem Mantel, zieht ihn über die Arme, die zittern und flieht vor mir nach draußen.
Das ist ungefähr genauso, als hätte er mich angeschrien. Ich bin ganz allein in mir selbst drin. Außerhalb sitzen Gäste in einem Restaurant und starren mich an. Auch wenn ich mich keinen Millimeter rühre, sehen sie mich, beobachten mich. Prüfen ganz genau jede meiner Bewegungen. Wie ich aufstehe, wie ich versuche, in meine Jacke zu kommen. Zweimal habe ich schon den Jackenärmel verfehlt, das Publikum schüttelt die Köpfe. Sie zählen die Schritte, die ich bis zum Tresen brauche, um zu bezahlen. Und irgendwie wissen sie auch ganz genau, dass ich für den Rest des Monats komplett pleite bin, wenn ich unsere gesamte Rechnung bezahle.
Sie hören jedes Wort, das der Kellner an mir vorbei verkündet. „Der Herr hat schon alles bezahlt.“ Sie wissen, dass diese Bezahltat von Werner noch demütigender ist als eine Ohrfeige oder völlig pleite zu sein.
Draußen vor der Tür steht Werner und wartet auf mich.
„Geh“, sage ich. „Lass mich allein.“
Werner hebt beide Hände und geht. Ich warte, bis ich ihn nur noch als wankenden Schatten sehe und folge ihm dann auf unserem Weg nach Hause.

Zuhause, das ist, wo ich rauchen kann. Wo noch Rotwein steht. Ein letztes Glas. Kommt jetzt sowieso nicht mehr drauf an.
Seit Stunden will ich weinen und kann nicht. Seit ich Abduls Geschichte gehört habe, will ich weinen und kann nicht.
„Es ist Krieg.“ Ich sage es laut, vielleicht, wenn ich etwas ganz laut sage, kommen die Tränen wieder. „Ich mache Krieg gegen Werner, ohne was dabei zu fühlen“, sage ich laut. „Ein Pilot sitzt in einem Flugzeug und drückt auf einen Knopf, und dann guckt er den Bomben zu, ohne was zu fühlen. Wir tun alle, was man von uns will, ohne was dabei zu fühlen, und deshalb ist Krieg, Krieg ist die Seuche der kalten Herzen.“
Ich rauche noch eine Zigarette, die Tränen kommen nicht mehr. Endlich ist mir so schwindlig, dass ich schlafen gehen muss.

Alles, was ich brauche, ist Wasser. Literweise Wasser. Das saubere Trinkwasser unserer Stadt. Dann lässt das Hämmern im Kopf langsam nach, die Übelkeit auch.
Nebenan verursacht Werner irgendwelche Geräusche. Werner, denke ich, ich muss sofort zu ihm. In Trainingshose und Riesenpulli klingele ich an seiner Tür.
Er macht auf und hat immer noch sein freundliches Bundespräsidentengesicht.
Das gibt’s doch nicht. Der hat doch genauso viel getrunken wie ich oder nicht?
„Es tut mir Leid, Werner. Ich wollte das nicht, ich wollte dir nicht wehtun.“
„Ja, was denkst du denn? Das ist mir doch klar. Außerdem war es meine Schuld. Ich hätte dir nichts von dieser Kellnerin erzählen sollen.“
„Was für eine Kellnerin?“
Ich weiß von keiner Kellnerin. Ich weiß nur noch, dass ich Tote gesehen habe, die auf dem Mittelmeer schwammen und Werner deshalb als Nazi beschimpft habe.
„Schon gut“, sagt Werner. „Du warst eben betrunken. Jetzt trink erst mal Kaffee.“

Mit dem Kaffeeglas in der Hand starre ich auf meinen Computer. Heute mach ich dieses Ding nicht an. Heute nicht. Wenn ich dieses Ding so sehe, könnte ich ihm fast zutrauen, dass dort die Tränen eingesperrt sind, die ich nicht mehr weinen kann. Ich trinke Kaffee, sonst nichts.
Dann rufe ich Celine an.
„Sie haben nichts in den Nachrichten gebracht, hast du das gesehen?“
Celine lacht. „Ja, ich weiß. Aber in der Zeitung steht heute ein Artikel.“
„Meinst du, das kann den Flüchtlingen helfen?“
„Ich weiß nicht. Einer wurde schon ausgewiesen. Nach Libyen. Wenn er Pech hat, wird er dort erschossen.“
„Mit einer Waffe aus Deutschland.“
„Ja, vielleicht. Was ist los mit dir, Mona?“
Ich bin letzte Nacht zum Schwein geworden, will ich sagen. Ich wollte mich für die Flüchtlinge einsetzen, aber alles was ich getan habe, war, meinen Nachbarn als Nazi zu beschimpfen. Das ist alles so falsch.
„Kann man nicht irgendwas Sinnvolles machen, um diesen Männern zu helfen?“
Celine lacht. „Du kannst Abdul heiraten. Er müsste dann allerdings bei dir wohnen, damit es nicht nach Scheinehe aussieht.“
„Wieso ausgerechnet Abdul?“
„Er ist der nächste Kandidat, den sie abschieben wollen. Und zu dir hat er schnell einen Draht gefunden. Normalerweise dauert es ewig, bis mal einer über seine Flucht spricht.“
Ich schau mich in meinem Wohnzimmer um. Das Bett und der Schrank, die jetzt im Schlafzimmer stehen, würden auch hier rein passen. Das wäre zwar ganz schön eng, aber es würde gehen. Das Schlafzimmer ist kleiner, aber Abdul hat bestimmt ohnehin nicht viel Sachen.
„Abdul hat übrigens schon ein Angebot von einer kleinen Baufirma bekommen. Die würden ihn einstellen, wenn er eine Arbeitserlaubnis hätte. Du müsstest also keine Angst haben, dass er kein eigenes Geld verdient.“
Das klingt beruhigend, aber durch meinen Kopf fliegen jetzt lauter Schlagworte, Streit, Gewalt, Ausnutzung, Missbrauch, so was alles.
„Lass uns mal bei dir treffen“, sage ich zu Celine.

Bei Celine bleiben wir nicht lange. Sie hört sich meine Zweifel an, aber was soll sie schon dazu sagen. „Das musst du mit Abdul besprechen.“
Wir gehen in die Kirche, wo Abdul auf zwei Quadratmetern Steinfußboden sein Lager hat.
Celine hat vorher mit einem Anwalt telefoniert, er meint, rechtlich würde er das durchbekommen. Notfalls sogar ohne Geburtsurkunde. Sie erklärt Abdul unseren Plan.
Ich sage nichts dazu.
Abdul schweigt lange.
Die Art, wie er schweigt, ist irgendwie in Ordnung. Ich denke, mit dieser Art könnte ich leben, und erschrecke über meinen voreiligen Gedanken.
Er steht auf und sieht mich an.
„Sprechen wir allein?“
Beklommen nicke ich.
Wir verlassen die Kirche und gehen in einen Park ganz in der Nähe. Er liegt auf einer Anhöhe über dem Fluss. Wir setzen uns ganz vorn auf eine Bank.
Unter uns ziehen Autokolonnen auf der Uferstraße vorbei. Wir hören ihr Dröhnen und blicken über das Wasser, das Richtung Meer strömt.
„Wie alt bist du?“, fragt Abdul.
„38, warum?“
„Ich bin 28, das ist doch viel zu jung für dich.“
„Hör mal, Abdul. Ich glaube, du hast da was falsch verstanden.“
„Nein, nein, ich hab schon richtig verstanden. Es wird keinen Sex zwischen uns geben.“
„Warum fragst du dann? Hast du Angst, dass sie uns deshalb nicht glauben?“
„Naja, vielleicht.“
Ich mustere sein Gesicht.
„Das ist nicht das Problem“, stelle ich fest.
Er braucht eine Weile, bis er mutig genug ist, zu sagen, was er denkt.
„Ich verstehe nicht“, sagt er. „Hat in eurem Land ein Mann erst dann das Recht zu arbeiten, wenn er eine Frau geheiratet hat?“
„Nein. So ist es nicht.“ Ich versuche, meine Hand beruhigend auf seinen Arm zu legen. Aber er zieht den Arm weg.
„Das ist nur für euch so“, sage ich langsam. „Wenn es nach mir ginge, hätte jeder Mensch auf dieser Welt dieselben Rechte und könnte hingehen, wohin er will. Aber es geht nicht nach mir. Aber wenn ich dich heirate, kann ich wenigstens einem Menschen die Chance geben, hier zu leben.“
„Und dafür muss ich bei dir wohnen?“
„Ja, das werden die Behörden überprüfen, weil sie denken, dass wir ihnen was vormachen.“
„Und wenn sie erfahren, dass wir keinen Sex haben?“
„Dann wären wir ein ganz normales Ehepaar.“
Ich grinse und es dauert eine Weile, bis er die Ironie versteht.
„Ich verstehe trotzdem nicht, warum du das tun willst.“
„Ich weiß nicht“, sage ich und denke nach. „Vielleicht, weil ich die Festung dann nicht mehr so spüre.“
Abdul denkt auch nach. Dann sagte er. „Ich werde mein eigenes Geld verdienen. Versprochen.“
„Wir müssen nur drei Jahre schaffen“, erkläre ich ihm. „Dann bist du frei.“
Er grübelt weiter.
„Es ist unfair den anderen gegenüber.“
„Für die werden wir uns weiter einsetzen. So gut wir können.“
Abdul sieht mich an. Es ist zwar schon ziemlich dunkel, aber das Licht der Laterne genügt, um sich gegenseitig zu mustern. Er ist mir wirklich verdammt fremd, denke ich.
Er sagt: „Ich glaub, ich kann nicht mit dir in einer Wohnung leben.“
Ich hätte alles erwartet, nur das nicht. „Wieso denn nicht?“
„Ich hab dich noch nie lachen sehen. Ich glaub, ich will nicht mit einem Menschen in einer Wohnung leben, der niemals lacht.“
„Echt nicht?“
„War ein Scherz, Mensch.“
Ich lache verblüfft.

Er steht auf und gibt mir die Hand. „Okay, versuchen wir’s.“
„Okay“, sage ich.
Ich sehe ihm nach, wie er zu seinen Freunden zurückgeht.
Was kann mir schon Schlimmes passieren? Was soll schon Schreckliches geschehen? Wir leben doch hier, im Frieden.


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