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Nur noch Oberfläche

Nur noch Oberfläche

Nicht nur für die zeitgenössische Kultur, sondern auch für die „Werte“ unseres Zusammenlebens gilt: Nirgendwo ist noch das drin, was draufsteht. Ein Exklusivauszug aus „ZeitenWenden“.

„Das eigentliche Mysterium der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare“ (Oscar Wilde).

Der zentrale Satz des Bauhauses war „form follows function“, die Form folgt der Funktion. Dieser Satz wird heute gleich doppelt missachtet. Wir achten nur noch auf die Form. Function follows form, so ist es heute, also genau umgekehrt: Die Oberfläche ist alles, Inhalte und Funktionen interessieren niemanden mehr. Wir haben das Bauhaus gleichsam auf den Kopf gestellt und leben darum in einer verkehrten Welt. Das ist der paradigmatische Wechsel der Zeitenwende schlechthin!

Um es einmal plastisch zu machen: Wie der ORF in Österreich Mitte März 2025 vermeldete, wird der „Plan zur Wiederaufrüstung Europas“ („ReArm Europe“) von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Kritik vor allem aus Spanien und Italien umbenannt. „Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass der Name als solcher in einigen Mitgliedsstaaten gewisse Empfindlichkeiten auslösen könnte“, so Kommissionssprecherin Paula Pinho. „Wenn es dadurch schwieriger wird, allen Bürgern in der EU die Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu vermitteln, dann sind wir natürlich alle bereit, nicht nur zuzuhören, sondern das auch in unserer Kommunikation zu berücksichtigen“, sagte Pinho. Das Paket soll nun unter dem Namen „Readiness 2030“ firmieren, um zu unterstreichen, dass die EU bis zum Ende des Jahrzehnts bereit für die neuen Herausforderungen sein soll. Ach so!

Ähnlich bei jenem geleakten Telefonat vom März 2024, in dem mehrere deutsche Generäle über den — verfassungswidrigen — Einsatz von Taurus-Raketen im Ukrainekrieg gesprochen haben. Gegenstand der Nachrichten war nicht diese krude Tatsache, sondern die Form: Wer hat das Gespräch geleakt und warum war die Software nicht sicher? Nachrichten als Ablenkungsmanöver vom Eigentlichen! Wer zum Eigentlichen durchdringen will, muss sich durch eine verspiegelte Oberfläche bohren.

Wenn etwas nicht gefällt, wird die Verpackung geändert, aber nicht der Inhalt. Das ist ungefähr so wie ein Haufen Mist, eingewickelt in Goldpapier.

Es geht nur noch um die Form, nicht mehr um das Eigentliche. Denn die Italiener, die am 15. März 2025 zu Tausenden gegen die europäische Aufrüstung auf die Straße gegangen sind, mit dem antifaschistischen Manifest von Ventotene von 1941 in der Hand, jenem legendären Gründungstext eines föderalen Europas von Altiero Spinelli, waren nicht (nur) gegen den Namen „ReArm Europe“, sondern gegen die Wiedebewaffnung Europas selbst!

Das Eigentliche ist ein Romantitel von Iris Hanika von 2010, ein schöner kleiner Roman, der die Suche nach dem Eigentlichen beschreibt, das für jeden etwas anderes ist, vor allem, wenn Gewissheiten abhandenkommen und einen manchmal die Frage nagt, ob man noch auf dem richtigen Weg durch die Welt geht. Das trifft den Nerv der Zeit. Die Zeitenwende ist, dass das Eigentliche abhandengekommen ist! Form anstatt Inhalt!

Es geht um Krieg, aber Frau Pinho ist fixiert auf die Kommunikation. So ist heute fast alles. Wir sind nur noch fixiert auf Oberflächen, dahinter ist kein Inhalt. Wir sind eine Blender-Gesellschaft geworden, verpacken Hässliches und Schreckliches hinter Fassaden und produzieren so eine gesamtgesellschaftliche Mogelpackung. Faltige Haut wird hinter Botox versteckt, organisierte politische Korruption hinter Wahlen: Das, was sich Friedrich März im März 2025 als Wahlbetrug erdreistet hat, darf man wohl so nennen. Hauptsache, die legale Fassade stimmt. Dahinter ist nichts mehr. Auch die 800 Milliarden „Sonderschulden“ sind zunächst einmal genau das: eine Luftnummer, ein in Geschenkpapier gewickeltes Versprechen, mit nichts hinterlegt, nicht einmal mehr mit Vertrauen, dem wichtigsten Kitt einer Gesellschaft. Wir spüren die gähnende Leere hinter allen Dingen. Nichts mehr scheint echt oder authentisch, weswegen Authentizität derzeit so hoch im Kurs steht.

An was kann man sich noch halten? Eine ganze Gesellschaft ahnt, dass unter dem Teppich, auf dem sie steht, kein Boden mehr ist, nichts mehr, was sie hält, außer viel daruntergekehrter Dreck.

Keine Demokratie und kein Grundgesetz mehr, kein Recht und Gesetz. Das alles wurde in den letzten Jahren der Willkür hingegeben, und niemand weiß, was der nächste Akt der Willkür sein wird. Vielleicht ist darum aktuell der Ruf nach äußerer Sicherheit so groß? Der Ruf nach Militär, Panzern und Taurus? Nach Polizei und Überwachung? Weil man sich auf einen inneren Kompass der Gesellschaft, die Reaktion der anderen, die Vernunft oder den gesunden Menschenverstand eben nicht mehr verlassen kann? Weil die innere Unsicherheit ins Unendliche wächst, weil einen das Gefühl beschleicht, dass alle Dinge hohl und leer sind, die Rentenkasse ebenso wie die „Sondervermögen“, und alle politischen Versprechen sowieso. Fiktionen nur!

Unvernunft aber kann aber nur mit Zwang und letztlich Gewalt durchgesetzt werden. „Denn das Leben unter einem Gesetz, das gilt, ohne zu bedeuten, gleicht dem Leben im Ausnahmezustand, in dem die unschuldigste Geste und die kleinste Vergesslichkeit die extremsten Konsequenzen haben können“, so Giorgio Agamben im „Homer sacer“ (Seite 63). Seit Corona, wo lächerlichste Regelüberschreitungen teilweise mit brutaler Polizeigewalt geahndet wurden, sind wir da längst. Und es kann jeden Tag neu passieren! Unter der Oberfläche der bundesrepublikanischen Demokratie und Meinungsfreiheit wurden unbescholtene Bürger, die Bundesminister als „Schwachkopf“ bezeichnet haben, morgens aus dem Bett geklingelt, Gästen einer beschwipsten Party auf Sylt — ein privates Ereignis, auch wenn vermeintlich krude Liedchen gesungen wurden! — wurde gekündigt, ebenso wie zu Jahresbeginn 2024, perfekt so getimt, dass man den legitimen Bauernprotest aus den Schlagzeilen schaffen konnte, die Teilnehmer einer ebenfalls privaten Diskussionsveranstaltung zum Thema Migration in einer Villa in Potsdam öffentlich denunziert wurden und einer Person gekündigt, wobei das Treffen schon im November 2023 stattgefunden hatte. Zu Unrecht, wie ein Gericht hinterher feststellte. Eine Rechtsverdrehung nach der anderen unter der Oberfläche der Demokratie, genauer: ihrer Rettung.

Über diese Rettung der Demokratie wird es im dritten Teil dieses Büchleins noch ausführlicher gehen. Man wünscht sich Helmut Kohl zurück, der sich jahrelang stoisch als „Birne“ betiteln ließ und dafür nie jemanden bezichtigt oder gar verfolgt hat. Frau Strack-Zimmermann an seiner statt hätte sicherlich schon 2.000 Strafanzeigen gestellt. Eine wehrhafte Demokratie braucht wehrhafte Bürger, die sich im Zweifel argumentativ verteidigen, anstatt evasive Paragrafen von „Majestätsbeleidigung“ zu bemühen, die wieder nur auf die Oberfläche zielen, nämlich auf das gebrauchte Wort: Das darf nicht gesagt werden! Wir würden wahrscheinlich mit der Demokratierettung einen guten Schritt weiterkommen, wenn wir unsere Gerichte davon entlasten würden, kleinkarierte Prozesse darüber zu führen, wer wann in welchem Kontext was gesagt hat. Derlei Haarspalterei im Diskurs erinnert ein wenig an „Monty Python“ und die palästinensische Befreiungsorganisation versus die Organisation für die Befreiung Palästinas.

Der Verlust der Differenz ist ebenfalls Ausdruck der Geistlosigkeit der Zeit, einer Zeit, der Kategorien und Definitionen abhandengekommen zu sein scheinen. Mann ist Frau oder Erwachsener ist Kind oder umgekehrt.

Christian Morgenstern hat diesen Verlust der Differenz schon vor Jahrzehnten in sein Gedicht vom Lattenzaun gepackt:

„Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum,
hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da —
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.“

Das große Haus ist jene Monstranz der Lüge, in dem die Politik es sich derzeit einrichtet, mit verspiegelter Oberfläche und völlig undurchsichtig. Man wünscht sich Walter Benjamin oder Siegfried Krakauer herbei, um Notizbücher mit den Absurditäten der heutigen Zeit zu füllen und die Dinge ein bisschen zu ordnen. Aber Notizbücher gibt es nicht mehr viele. Eigentlich ist schon Schreiben out, Handschrift ein Relikt, Grammatik relativ, Orthografie unnötig und wird sowieso vom „spell check“ erledigt. Wer noch Briefe aus den 1910er -oder den 1930er-Jahren hat, weiß, was ich meine: Briefe von der Front zum Beispiel, wo tapfere Männer ganz zärtlich ihrer Liebsten schreiben. Oder die Briefwechsel von Hannah Arendt mit Günther Anders, aus denen, selbst nachgedruckt und nicht handschriftlich, eine Dichte und Fülle des Lebens springen, eine geradezu gierige Betrachtung des Alltags mit feuriger intellektueller Durchdringung und Neugierde, die ihresgleichen sucht und an die die üblichen Emoji-Kommunikationen auf WhatsApp sicherlich nicht heranreichen.

Die Zeiten waren damals übrigens nicht minder unsicher. Aber es gab eben genau das: das Bauhaus, paradigmatische Sätze, eine Kultur, die diesen Namen verdiente, eine Ästhetik, Vernunft und Verlass. Verlass auf das Denken! Ohne das kommt keine Gesellschaft aus, eine demokratische schon gar nicht. Nur die Form wahren, das reicht nicht. Nur auf der Oberfläche glänzen — auch nicht. Das Äußere sollte dem Inneren entsprechen und mehr als Blendwerk sein.

Der Satz „form follows function“ (fff) stammt von Louis H. Sullivan und ist aus einem Essay von 1896, der den Titel trägt „The Tall Office Building Artistically Considered“. Hier geht es darum, dass die äußere Form eines Wolkenkratzers die verschiedenen „Innereien“ oder unterschiedlichen funktionalen Interieurs reflektieren sollte. Was innen unterschiedlich ist, sollte es äußerlich auch sein: form follows function. Die Funktion bestimmt die Form. Die Funktion determiniert das Äußere. So wie ein bestimmtes Objekt — eine Lampe, ein Sessel — am funktionalsten ist, so soll es gebaut werden. Kein Inhalt soll in eine unpassende Form gepresst werden. Sullivans berühmtes Axiom wurde zum Kriterium oder Prüfstein ganzer Generationen von Architekten.

Der Zweck eines Gebäudes sollte sein Aussehen formen, der Ausgangspunkt für sein Design sein. Ob die Architekten des neuen Kanzleramtes in Berlin diesen fff-Spruch noch kannten, darf bezweifelt werden. Jede der hallenartigen Etagen ist letztlich eine riesige, umbaute Leerfläche, die dagegen fast winzigen Büros sind in die Seitenflügel verdrängt worden. Die „Waschmaschine“ (wie das Kanzleramt gerne genannt wird) mag eindrucksvoll sein. Aber letztlich sind es hohle Räume, ohne Blickfang dazu, also Hohlräume — und so ist auch die Politik, die seither von dort gemacht wird: aufgebauscht und symbolhaft, doch letztlich entkernt und unglaubwürdig. Im alten Bonner Wasserwerk, das bis 1999 den Deutschen Bundestag beherbergt hat, haben die Proportionen, hat das Verhältnis von Form und Funktion noch irgendwie gestimmt.

Heute ist alles mehr Schein als Sein. Das gilt nicht nur für die materiellen Dinge, sondern, fast schlimmer, für die immateriellen: für die Demokratie, die Kirchen, die Kultur, die Wissenschaft oder auch die Nation. Irgendwie ist alles entkernt worden. Nirgendwo ist noch drin, was draufsteht.

Alles ist oberflächlich noch intakt, aber die Begriffe sind reine Platzhalter für das, was einmal war.

Wie ist das passiert? Die Umkehrung des Bauhaus-Satzes scheint der entscheidende paradigmatische Wandel vom 20. zum 21. Jahrhundert. Der fff-Satz beinhaltet in der Essenz alles, was die europäische Geistesgeschichte bis dato formuliert hatte, wie es zu sein hat: schön, wahrhaftig und echt! Das Schöne, das Wahre, das Gute! Wir hatten uns darauf geeinigt, dass diese Dinge zusammengehören. Dass nicht echt sein kann, was nicht schön ist, dass nicht wahr sein kann, was nicht echt ist, dass nicht schön sein kann, was nicht wahr ist. Und wir hatten als Gesellschaft ein Gespür dafür, eine Art ästhetische Erziehung, bewusst oder unbewusst. Wie also konnten sie verloren gehen, die Schönheit, die Wahrhaftigkeit und das Gute? Das ist die Frage, die hinter der Umkehrung des Bauhaus-Satzes steckt — und diese Frage stellt sich jedes Mal, wenn man an einer der Windparkanlagen der Republik vorbeifährt.

Es war jahrhundertelang Topos der Erziehung in Europa, dass man nur mit dem Herzen gut sieht, weil das Wesentliche für die Augen unsichtbar ist. Es gibt die Schöne und das Biest und den Glöckner von Notre-Dame und andere große Erzählungen, Märchen und Sagen, allen voran Cinderella oder Aschenputtel, die erzählen, dass die Arme die eigentlich Schöne, das Alter eine Frage von Weisheit ist und die Augen der Spiegel der Seele sind. Wer einmal — vor allem in den USA — eine, von hinten betrachtet, offenbar junge Frau anspricht, schlank, blond, gut geföhnt, etwa, um sie nach dem Weg zu fragen, und diese sich dann umdreht und man in ein gestrafftes Babypuppen-Gesicht schaut, der versteht, was ich meine:

Was, bitteschön, ist eine Gesellschaft, deren Bürger nicht alt werden wollen? Kindisch! Und zugleich erstarrt, denn Botox macht das Gesicht regungslos.

Man kann es für die meistens Dinge der Zeit durchdeklinieren: für die Nahrung, die nicht mehr gehaltvoll ist, für den Apfel ohne Vitamine, das vegane Schnitzel ohne Fleisch. Alles nur noch Oberfläche ohne Inhalt, nicht mehr echt. Der SUV war als Sport-Vehicle mit Allradantrieb konzipiert, um durch den Matsch oder auf einen Berg zu fahren. Heute ist kein Allradantrieb mehr darin. Diese Amphibienfahrzeuge, die die mondänen Bezirke der deutschen Städte bevölkern, sind technisch besehen Leichtmobile mit Luxusausstattung, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen: Durch Matsch fahren wollen ihre meist privilegierten Besitzer eh nicht, sondern durch den SUV ihren Status sichern, indem sie höher sitzen.

Schauen wir auf die Demokratie, so ist ihre Entkernung nahezu perfekt gelungen. Was Wahlen noch nützen sollen, mag man sich seit März 2025 getrost fragen. Gesetze gelten in der Bundesrepublik offenbar nur unter Vorbehalt; wenn man sie wirklich einmal braucht, spätestens dann werden sie weggeworfen wie ein Zewa-Tuch. Es ist auch nicht so, als würde man das nicht bemerken. Die kritische Politikwissenschaft hat die „Postdemokratie“ (Colin Crouch) schon länger im Blick. Der Begriff „simulative Demokratie“ von Ingolfur Blühdorn stammt von 2016. An der Frage, was man mit einer Demokratie macht, die zur Simulation geworden ist, die man aber trotzdem nicht aufgeben kann, zumindest nicht freiwillig, beißt sich die Politikwissenschaft schon länger die Zähne aus. Die Entsorgung der Demokratie braucht einen Vorwand. „Wenn Demokratien demokratisch untergehen“ heißt ein Buch von 2019, herausgegeben von seriösen Politikwissenschaftlern wie Chantal Mouffe, Claus Offe, Ivan Krastev und Jan-Werner Müller. Das Ende der liberalen Demokratie ist in der einschlägigen Literatur also längst eingeläutet, aber auf der Oberfläche glänzt die Demokratie noch. Dazu mehr in Teil III.

Mit der Nation verhält es sich ähnlich. Die Rückkehr des Nationalen ist mit Händen zu greifen, dafür sorgen die sogenannten Populisten: Grenzschließungen, Vorrang für Biodeutsche, Rückkehr der deutschen Kultur und Sitte. Aber auch hier ist das Verhältnis zwischen Oberfläche und Inhalt ähnlich wie bei den SUVs: Die Betonung des Nationalen, um nicht von Nationalismus zu sprechen, kommt in einer Zeit, in der die Handlungsunfähigkeit oder Kompetenz des Nationalstaates entweder durch die EU oder durch die Globalisierung bereits extrem eingeschränkt ist. Die nationale Souveränitätsdebatte ist insofern eine Reaktion auf die offensichtliche Entkernung des Nationalstaats. Auch hier trifft die Umkehrung jenes fff-Spruchs des Bauhauses zu: Aus „form follows function“ wurde „function follows form“: Nationalismus ist nichts als heiße Luft, die in einen Nationalstaat geblasen wird, wenn dessen Funktionen längst entkernt sind. Hauptsache, die Oberfläche wird gerettet. Wie man ein erlegtes Tier ausweidet und dann mit Stroh ausstopft, damit es seine Form wahrt und die Haut nicht in sich zusammenfällt.

Französische Theorien zur Nation, etwa die des berühmten Soziologen Marcel Mauss, niedergelegt in seinem Buch „Die Nation oder der Sinn fürs Soziale“, weisen darauf hin, dass eine Nation weniger auf Identität begründet wird, sondern auf institutionalisierter Solidarität, also einem sozialen (!) Gewebe. In etwa das, was Jean-Jacques Rousseau einmal einen „contrat social“, einen Gesellschaftsvertrag, genannt hat und der natürlich etwas mit sozialer Gleichheit zu tun hat. Dass der Gesellschaftsvertrag in der Bundesrepublik unter der Last des „Überreichtums“ (Martin Schütz) längst gebrochen ist, dazu gibt es einerseits genug Literatur; man braucht sich aber nur in der Straße umschauen: Was für die einen die Ästhetisierung ihres Lebens geworden ist — zum Beispiel auf den eigenen Biorhythmus angepasste, energetische Steine in der Wasserkaraffe bei Tisch —, ist für die anderen das Sammeln von Plastikflaschen in öffentlichen Mülleimern.

Der in der letzten Dekade angeschwollene Nationalismus/Populismus in seiner Formgebung durch die AfD — und das gilt analog für den Populismus beziehungsweise Nationalismus in Frankreich oder Österreich — ist darum das Substitut für den verlorenen Gesellschaftsvertrag einer Bundesrepublik, der wider allen Anscheins der Sozialstaat und jeder Anspruch an eine sozial gerechte Gesellschaft längst verloren gegangen ist.

Dazu passt, dass Friedrich Merz jetzt als letztes Aufgebot zur Rettung der maroden Republik schlappe 500 Milliarden für Infrastrukturprojekte mobilisiert hat: letztlich der Versuch, die AfD und ihre Wähler entweder zu ködern und ihnen mit Geld den Populismus auszutreiben — oder, um im Bild zu bleiben, um aus Stroh wieder ein soziales Gefüge zu machen. Topp, die Wette gilt. Der Koalitionsvertrag jedenfalls liest sich anders!

Die Entkernung aller Dinge, materieller wie immaterieller, wird demnächst gekrönt von der Entkernung des Dinges an sich, nämlich der des Geldes, wenn das Bargeld abgeschafft werden wird. Noch gaukeln Münze oder Scheine einen Wert vor, sind immerhin etwas zum Anfassen. Aber wenn das Geld nur noch elektronisch da sein wird oder als Kryptowährung im Cyberspace auf der Blockchain, dann ist Geld einfach nicht mehr real, sondern nur noch surreal. Spätestens dann sollten wir uns als westliche Gesellschaften noch einmal ernsthafte Gedanken über das Geldsystem machen und darüber, was Geld eigentlich ist (Wertespeicher, Tauschmittel, Recheneinheit), vor allem im Gegenzug zum Wert. Die Debatte ist so alt wie die Menschheitsgeschichte, alle religiösen Urtexte haben ein Kapitel dazu.

Am griffigsten ist der Satz von Oskar Wilde: „Die Menschen kennen von allem den Preis, aber von nichts den Wert.“

Dass, neben allen Entkernungen, von denen hier die Rede ist, die Entkernung des Geldes durch die Abschaffung des Bargelds zu einem Zeitpunkt kommt, in dem demnächst aufgrund des Kriegsgeschehens Vermögenswerte einkassiert, Bürger zur Kasse gebeten und Lastenausgleichsgesetze entschieden werden, ist sehr passend: Geld, das zuvor entkernt, also entwertet wurde und nur noch eine Cyber-Chimäre ist, kann man auch schneller vernichten: Ein Knopfdruck auf einem Computer reicht.


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