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Potsdamer Gedankenverbrechen

Potsdamer Gedankenverbrechen

Was würde George Orwell zu den heutigen politischen Verhältnissen sagen? Der Autor befragte ihn höchstpersönlich.

Sie liegt schon eine ganze Zeit zurück, meine erste Begegnung mit George. Es muss Mitte der Siebzigerjahre gewesen sein, als ich sein schon ziemlich zerfleddertes Buch in die Hand bekam, das unter der Hand durch die Hände vieler Freunde und Bekannte gegangen war. Eigentlich durften wir so etwas gar nicht lesen. Es machte zu viel sichtbar, was in der real existierenden Realpolitik meines Landes wirklich passierte und lieber unter dem Deckel gehalten werden sollte.

Gerade war ein aufmüpfiger Liedermacher auf wundersame Weise, aber ganz offiziell, ins Feindesland gelangt, um dort seine Lieder zu singen, die er zu Hause gar nicht singen durfte. Da waren die Gedankenpolizei und die Wahrheitsfinder überraschenderweise sehr böse, obwohl sie ihm genau das erlaubt hatten. Sofort organisierten sie eine Empörungskampagne, wo auch Frieda aus Kleinkrachsdorf sich mit großer Entschiedenheit äußerte, auch wenn sie bisher gar kein Lied von diesem Sänger hören konnte: Der hatte nämlich hier Auftrittsverbot.

Bei all dem Irrsinn kam mir die Idee, zu versuchen, George um Rat zu fragen. 1984 — ich war damals gerade mal 43 Jahre alt — glaubte ich, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, Kontakt zu ihm zu suchen. Immerhin heißt ja sein Buch so. Ganz zufällig fand ich eine Virtual Possibility oder auch Secret Contact Line, auf der ich die Kontaktaufnahme versuchte. Natürlich habe ich nicht das Telefon benutzt, obwohl das möglich gewesen wäre. Nach zehnjähriger Wartezeit hatte ich nämlich gerade einen Telefonanschluss erhalten und ahnte, dass dieser ganz bestimmt von der Gedankenpolizei überwacht wird. So kam ich über mein Virtual Network mit ihm in Verbindung.

Unser erstes Gespräch war wegen der Milliarden von differenzgesteuerten Impulsinduktionen etwas schwierig, doch meine Fragen schienen ihn zu interessieren. Wir verabredeten ein Treffen am 4. April 1984, 4 Uhr nachmittags auf der 4. Bank am rechten Ufer des Schweriner Pfaffenteiches. Die vielen Vieren schienen mir so etwas wie ein Code zu sein, auf jeden Fall ein freundschaftliches Signal. George empfand das offensichtlich genau so, denn er stimmte zu. Wenn er alle notwendigen intergalaktischen Verbindungen zeitnah erwischen würde und es keine Störungen gebe, wäre er pünktlich zur Stelle, sagte er mir. Und er kam.

Zuerst war unser Gespräch etwas förmlich. Ich traute mich nicht, ihn mit George anzusprechen, wie ich eigentlich wollte. So sagte ich einfach, als er wie verabredet plötzlich, wie vom Himmel gefallen auf der Bank neben mir saß, in meinem fast lupenrein antrainierten Englisch: Welcome, Mister Orwell. Ach was, widersprach er sogleich, und das auf Deutsch. Keine Förmlichkeiten, ich bin für dich der George — und was hast du auf dem Herzen? Weißt du, George, antwortete ich, ich glaube, ich erlebe gerade all das, was du da in deinem berühmten Buch geschrieben hast. Mir wird gesagt, was ich denken soll, was gut ist und was böse, warum ich dieses tun und jenes unbedingt lassen muss. Dabei behaupten die Politiker, dass wir auf dem Weg in die menschlichste aller menschlichen Gesellschaften sind, alles die reine Wahrheit ist und die Partei immer recht hat. Aber ich merke doch, dass die zu erlebende Realität etwas völlig anderes ist. Und auch die Medien lügen immerzu.

George lachte. Sei beruhigt, meinte er, dass ist doch noch gar nicht so schrecklich, das ist doch erst der Anfang. Du spinnst ja, erwiderte ich ziemlich empört, noch schlimmer soll es kommen? George klopfte mir beruhigend auf die Schulter und sagte, bevor er schnell im Nichts verschwand: Du wirst schon noch sehen!

Die Jahre vergingen, es wurde tatsächlich immer schlimmer und die Lügen immer unglaubwürdiger. Doch dann geschah das Wunder, das nie erwartete: Plötzlich war die Diktatur zu Ende. Jetzt konnten wir in jeder Buchhandlung Georges Buch kaufen, in jedes Land der Welt reisen, alles sagen, was wir sagen wollten, und ich dachte, ach George, die von dir ausgedachte Geschichte ist doch nur ein Gruselmärchen.

Irgendwann, ich hatte schon nicht mehr an George gedacht, meldete er sich. Na, fragte er mich, wie geht es dir so in der schönen neuen Welt der wertebasierten Ordnung? Ich hatte gerade einige schlimme Erlebnisse hinter mir, mit denen ich nicht gerechnet hatte, da doch im Grundgesetz geschrieben steht, dass die Würde des Menschen unantastbar und man unschuldig sei, bis eine Schuld bewiesen ist. Ich war fest davon überzeugt, dass ich das schon bald wieder hinbekommen würde. Das sagte ich ihm auch. Träum weiter, meinte er bloß, in einigen Jahren wirst du nicht glauben, was du erleben wirst, klopfte mir wieder auf die Schulter und verschwand. Das war's dann für einige Zeit mit unserem freundschaftlichen Kontakt.

In den letzten Jahren musste ich immer wieder an George denken. Lange schon hatte ich ein ungutes Gefühl. Über die Jahre gab es mehrere merkwürdige Vorkommnisse, die darauf hinwiesen, dass sich international gesteuerte, intelligente Denkorganisationen immer wieder Geschichten ausdachten, die gewisse Dinge möglich machen. So begründeten nicht auffindbare Waffenvernichtungslager oder gut erzählte Babytötungen Kriege, die es dem großen Bruder ermöglichten, Freiheit und Demokratie in die Welt zu bringen. Krieg ist Frieden, das hatte George ja schon vor vielen Jahren verkündet.

Aktuell gab es gerade ein privates Treffen einiger Menschen in einem kleinen Hotel, um einen Vortrag anzuhören und miteinander darüber zu reden, eigentlich keine besonders aufregende Sache, alldieweil und überall sich Menschen treffen, um miteinander zu kommunizieren. Doch hier hat die Gedankenpolizei ganz offensichtlich eine Chance gesehen, der Welt mal richtig zu zeigen, was sie so kann.

Immerhin waren die Zustimmungswerte der regierenden Parteien bedenklich abgestürzt, und die Bauern zeigten in mächtigen Demonstrationen, dass sie die Nase voll haben von einer Politik, die sie an den Rand des Ruins treibt. Da musste was passieren, unbedingt. Geschwind hat man die private Zusammenkunft in ein „Geheimtreffen“ verwandelt, was sich schon vom Begriff her gefährlich anhört. Allerdings kann das Treffen gar nicht so geheim gewesen sein, wenn auch einer der Wahrheitsfinder dort war, um Fotos zu machen und zu lauschen, was man aber nicht besonders betonen muss.

Dass Lüge Wahrheit ist, hatte George übrigens auch gesagt. Ich erinnerte mich an ganz ähnliche Geschichten. Sechs Jahre zuvor gab es in Chemnitz Hetzjagden, die monatelang die Medien beschäftigten und für einige Menschen bedenkliche Folgen hatten, aber doch nur in den Köpfen einiger Berliner Politiker stattfanden. Dann gab es einen versuchten Umsturz von sieben mit Stöcken Bewaffneten, den 100 Polizisten unschädlich machen mussten, und eine von einem betagten Prinzen geführte Revolte, für die 300 schwer bewaffnete Polizisten aufgeboten wurden, um die Gefahr unter Kontrolle zu halten. Aber auch die etwas später die ganze Welt lahmlegende Pandemie, nach der es nur noch Geimpfte, Genesene oder Tote geben sollte, hatte erstaunlich orwellsche Züge. Impfen, impfen, impfen und testen, testen, testen, Masken tragen und Abstand halten, vom Baby bis zum Greis — das waren die alleinigen, schärfstens kontrollierten Mittel, die uns retten sollten. Ich war gerade 80 Jahre alt geworden. In meinem ganzen Leben hatte ich zwar viel erlebt, aber eine solch hoch gefährliche Pandemie, die die Polizei veranlasste, aufzupassen, dass Rodler auf dem Rodelhang ja auch Masken trugen, gab es in all den Jahren nicht.

Nun also die gar nicht so geheime Geheimkonferenz. Da das Hotelgebäude eine an einem Potsdamer Gewässer gelegene Villa war, bot das die auf der Hand liegende Möglichkeit, die in einer am Wannsee gelegenen Villa vor über einem halben Jahrhundert von den Nationalsozialisten durchgeführte Konferenz der Judenvernichtung als Blaupause zu nutzen. Damit war die ungeheure Gefährlichkeit bewiesen und Eile angesagt. Gut, die Experten waren nicht die schnellsten. Sie brauchten mehr als einen Monat, um die Lawine endlich loszutreten, was sie dann aber sehr gründlich taten. Immerhin hatte man ein bei dem Treffen benutztes Wort schnell noch zum Unwort des vergangenen Jahres machen können, obwohl es damals kaum verwendet wurde und wenn, dann von ganz öffentlichen Sprechern. Die zwischen dem Treffen und der inszenierten Kampagne liegende Pause brauchte man aber, um diese Hotelbegegnung zu einer Kunstinszenierung umzuformen, um sie auf die Bühnen mehrerer namhafter Theater zu bringen, womit dem Ganzen die gewünschte Dimension und Tiefe gegeben wurde.

Danach folgten dann die von nun an im ganzen Land initiierten, immerfort währenden Massenkundgebungen. Seitdem demonstrieren Hunderttausende Anständige und Aufrechte gegen rechts.

Rechts, so haben es die Wahrheitsfinder festgelegt, ist eines der ganz großen Schlimmverbrechen. Doch offensichtlich reicht dieses kleine Wörtchen nicht aus, um die ganze Gefährlichkeit auch wirklich für jeden erkennbar zu machen. Da musste noch eine Endung angefügt werden, und die hieß dann „extrem“. Rechtsextrem ist die jetzt gültige und unbedingt zu verwendende Vokabel und sagt viel deutlicher, was Sache ist. George nannte das damals „Neusprech“.

Wir üben das schon ein Weilchen. Es ist ja nicht einfach, eine alte Sprache in die gewünschte Richtung zu drehen. Doch ist das wichtig, weil man mit dem richtigen Sprechen auch die richtige Denke erkennen lässt. Und indem ich das schreibe, weiß ich natürlich, dass auch die richtige Schreibe Ausdruck für richtiges Denken ist, und bin mir nun gar nicht sicher, ob ich das von mir oft verwendete Wörtchen „man“, das zwar nur mit einem „n“ geschrieben wird, nicht vielleicht doch mit dem Gendersternchen versehen sollte, um nicht in den Verdacht zu geraten, ein Gedankenverbrecher zu sein.

Eigentlich war früher „rechts“ einfach eine zumeist wertungsfreie Richtung, doch das ist nun längst vorbei. Ich fürchte, dass jetzt auch eine uralte Verkehrsregel geändert werden muss, denn „rechts vor links“ geht nun überhaupt nicht mehr. Ist bald eine Zunahme von Verkehrsunfällen zu befürchten, weil die Richtigdenker aus Protest ganz anders reagieren werden? Wie gern würde ich das alles intensiv mit meinem Freund George besprechen und ihn fragen, was wohl noch alles auf mich zukommen wird. Immerhin hat er das, was gerade passiert, vor 76 Jahren mit klarem Blick vorausgesehen. Im Moment bekomme ich aber keine Verbindung mehr. Gewiss arbeitet die Gedankenpolizei längst wieder. Ihr stehen heute ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung, die 1948, als George mit seinem Buch fertig wurde, noch unvorstellbar waren.


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