Citius, altius, fortius — schneller, höher, stärker. So lautete das Motto der olympischen Spiele, bevor im Jahre 2021 das Wort communiter dazukam: zusammen. Von Gemeinsamkeit kann in der Gesellschaft, in der sich dieses Motto durchgesetzt hat, kaum die Rede sein. Der Fortschritt, der auf unseren Fahnen geschrieben steht, hängt ab und schließt aus. Die Technologie, die wir erfunden haben, um uns das Leben leichter zu machen, ist dabei, uns aus dem Labor zu kehren und stellt uns vor die Frage, wie wir die Kräfte, die wir einmal gerufen haben, wieder loswerden.
Der französische Biologe und Biophysiker Olivier Hamant sieht die Leistungsfähigkeit als das große Übel unserer Zeit, die Wettbewerbsfähigkeit, die dem zugrunde liegt, was wir Fortschritt nennen (1). Unsere Wirtschaft ist darauf ausgerichtet, schneller, stärker und besser als die Konkurrenz zu sein. In einem erbarmungslosen Kampf, der fälschlicherweise mit der Evolutionstheorie von Charles Darwin untermauert wird, versuchen wir uns gegenseitig abzuhängen und zu übertrumpfen.
Bereits mit der Sesshaftwerdung vor etwa 10.000 Jahren hat der Kampf begonnen. Wer hat den meisten Ertrag, die beste Ernte, das produktivste Vieh? Mit dem Besitz kam die Angst, ihn wieder zu verlieren. Während der Nomadenzeit waren die Menschen dorthin gezogen, wo es Nahrung gab. Nun bekamen sie Angst, nicht genug zu haben. Der Mangel war geboren, und mit ihm die Kontrolle über Hab und Gut.
Kurzlebig und todgeweiht
Seitdem ist unser Blick auf die Natur und auf das Lebendige immer distanzierter geworden. Wir teilen es in nützlich und unnütz ein und legen es darauf an, Mineralien, Elemente, Pflanzen, Tiere und Menschen so gewinnbringend wie möglich auszubeuten, um so viel wie möglich zu produzieren. Anstatt jedoch Energien einzusparen, produzieren wir Massenware, die einen immer höheren Energieverbrauch fordert. Monokulturen, Fast-Food, Massentourismus und Low Cost verheizen die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, und machen das Gesamte immer fragiler. Es ist wie beim Intensivsport: Der Wettlauf, bei dem jeder der Erste sein will, schwächt letztlich den Körper, den wir zu immer höherer Leistung antreiben.
Um der Krise auszuweichen, wird vor allem eine Lösung ins Auge gefasst: mehr Leistung und mehr Kontrolle.
Kontrolle ist das Dogma der aktuellen Zeit. Mehr Kontrolle, so glauben viele, bedeutet mehr Sicherheit. Tatsächlich bedeutet sie letztlich Stillstand und damit Tod.
Mit dem Bildschirm als einzigem Kontakt zur Außenwelt vegetieren wir in Wohnboxen, Fahrbüchsen und Bunkern vor uns hin und bilden uns ein, maximal in Sicherheit zu sein.
Selbst viele junge Menschen verlassen das Haus so gut wie überhaupt nicht mehr. Damit erreicht die Sesshaftigkeit ihren Höhepunkt. Doch Ironman ist ein Sarg. Auf dem unverwüstbaren Rasen wächst nichts mehr. Diejenigen, die sich nach ihrem Tod einfrieren lassen, um dann wieder aufgeweckt zu werden, wenn das Rezept für die Unsterblichkeit gefunden wurde, sind schon vorher tot.
Auf die Spitze getrieben
Leistungsfähigkeit, Effizienz und Produktivität, so Olivier Hamant, bringen letztlich den Tod. Kurzeitig werden Gewinne gesteigert, bevor alles zusammenbricht. Zwanzig Prozent der Startup-Unternehmen scheitern im ersten Jahr, fünfzig nach fünf Jahren, und nach zehn Jahren haben siebzig Prozent aufgegeben (2). Die Wirtschaft ist kurzlebig. So wie wir, wenn wir so weitermachen.
Wenn alles zentralisiert ist, braucht es nur einen kleinen Fehler im System und alles bricht zusammen. Es muss nur eine Röhre gesprengt, ein Kabel durchtrennt oder ein Schalter umgelegt werden, und schon geht nichts mehr. Dennoch hält sich der Ruf nach mehr Effizienz wie ein Kult. Er ist wie eine Droge, von der wir nicht loskommen.
Achtzig Prozent der Insekten sind in den vergangenen dreißig Jahren verlorengegangen, siebzig Prozent der Wirbeltiere ausgestorben. Willkürlich festgesetzte „Klimaziele“ und eine regelrechte Jagd auf das lebenswichtige CO2 erlauben es, die desaströse Entwicklung mit Gewalt immer weiter voranzupeitschen. Wälder werden gerodet, um Windparks zu bauen. Obwohl der planetare Burnout allerorts sichtbar wird, gilt mehr Produktivität weiterhin als positiver Wert, den nur wenige in Frage stellen.
Die Wende
Das Leben hat eine andere Intelligenz. Hier geht es nicht zu wie in der Wall Street. Eine Löwin jagt nicht den ganzen Tag. Die meiste Zeit über schläft sie. Sie rast nicht den ganzen Tag auf der Jagd nach Beute durch die Gegend. Nur einen kurzen Moment lang ist sie performant. Es dauert oft lange, bis es ihr gelingt, etwas zu erjagen. Unser Organismus läuft bei einer Temperatur von 37 Grad auf Sparflamme. Nur bei einer Entzündung dreht er richtig auf. Bei Fieber kommt er auf Hochtouren. Er ist dann besonders leistungsstark, wenn wir krank sind — und letztlich schwach.
Übertriebene Anstrengung schwächt, anstatt dass sie stärkt. Robustheit braucht keine Effizienz, sondern Diversität, Dynamik und ein Bewusstsein dafür, dass nur Veränderung Stabilität erschafft.
Eine 180-Grad-Wende ist nötig, wenn wir auf diesem Planeten weiterleben wollen. Es braucht Ineffizienz, Heterogenität, Wiederholungen, Unsicherheit, Zweifel, Langsamkeit, Inkohärenz, Irrtümer und Fehler — eben das, was eine Jahrtausende währende Jagd nach immer höherer Leistungsfähigkeit versucht hat zu überwinden.
Wenn wir die lebensfeindliche Entwicklung hinter uns lassen wollen, müssen wir nicht auf die schauen, die sich im Zentrum des Systems befinden, um das sich alles dreht. Das Entscheidende spielt sich nicht bei den globalen Unternehmen ab oder bei denen, die wir als Eliten bezeichnen, sondern an den Rändern. In einem Vogel- oder Fischschwarm sind es die äußeren Tiere, die die Bewegung vorgeben. Denn sie sind die ersten, die den Veränderungen ausgesetzt sind, die Informationen aufnehmen und nach innen weitergeben. Es sind die Marginalen — diejenigen, die nicht ernst genommen wurden, die man verlacht, ausgegrenzt und verfolgt hat —, die letztlich den Ton angeben.
Die neue Zeit
„Große Veränderungen gehen aus kleinen Funken hervor“, pflegte Kardinal Richelieu zu sagen. Während aller Augen dorthin gerichtet sind, wo der meiste Lärm ist, entsteht die Veränderung an den Rändern. Der Wechsel ist schon da. Für Olivier Hamant ist das System bereits gekippt. Vielleicht hört und sieht man noch nicht viel davon. Bäume, die gefällt werden, machen mehr Lärm als ein Wald, der wächst.
Zwischen 2010 und 2020, zwischen Subprime und Covid, sind besonders viele Menschen an den Rand gedrängt worden. Sie machen das Unmögliche möglich. Sie begrünen Wüsten, indem sie halbmondförmige Sanddünen graben, in denen sich das Kondenswasser sammeln kann. Sie lenken die begradigten Flüsse in ihre ursprünglichen Flussbetten zurück. Sie gewinnen Elektrizität aus den Wellen der Meere und Ozeane und erschaffen fruchtbare Gärten — dort, wo niemand es für möglich hielt.
Es gibt unzählige Beispiele dafür, lebensfreundlich zu wirtschaften.
Die Monokultur ist tot. Die landwirtschaftliche Zukunft ist der Wald. Auch wenn alles darangesetzt wird, das alte System beizubehalten: Die Zukunft liegt im Schutz der Natur, in der Interaktion, in der Vielfalt, in dem, was uns stark macht.
Für Hamant sind es zunächst die Worte, die die alte Maschinerie entgleisen lassen: Aus „Ich will“ und „Ich weiß“ werden „Ich habe Lust“ und „Ich weiß nicht“. Fragen statt vorschnelle Antworten, Ausprobieren statt Verwalten, Neugierde statt Rechthaberei (3).
Klein anfangen
Die Veränderung braucht Zeit. Sie wird nicht von einem Tag auf den anderen kommen. Es braucht Zeit, autonom zu werden und Dinge zu reparieren, anstatt sie wegzuwerfen und neu zu kaufen. Hierbei müssen wir nicht auf den technischen Fortschritt verzichten. Wir müssen nicht wieder Steine aneinanderreiben, um Funken zu erzeugen. Wir können Technologien entwickeln, die sich dem Leben anpassen, und nicht umgekehrt.
Leben ist zyklisch. Es verläuft synchron und entwickelt sich immer vom Kleinen zum Großen weiter. Es organisiert, reguliert und repariert sich selbst — und passt sich an die äußeren Umstände an. Die Prinzipien des Lebens sind Kommunikation, Kooperation und Diversität. Hier gibt es keinen Abfall, nur Ressourcen. Diese Ressourcen gilt es nicht auszubeuten, sondern dankbar als Geschenke anzunehmen.
Machen wir es einfach. Fangen wir klein an. Tun wir es jetzt. Gehen wir in Kontakt. Geben wir die Informationen weiter. Beleben wir unsere Dörfer neu. Bauen wir Häuser, in denen mehrere Generationen zusammenleben. Bringen wir Kinder und ältere Menschen zusammen. Geben wir der Kunst und der Schönheit einen Platz in unserem Leben. Organisieren wir Feste. Pflanzen wir Bäume. Legen wir Gärten an, auch dort, wo wenig Platz ist. Lassen wir es grünen.
Die Zukunft sind nicht endlose Monokulturen, sondern bunte Wälder und Wiesen, keine Betonbunker, sondern organische Häuser, nicht kalte Berechnung, sondern blühende Phantasie.
Das weiß jedes Kind. Unserer Vorstellungskraft sind keine Grenzen gesetzt. Doch nehmen wir uns Zeit. Es gibt keinen Wettbewerb zu gewinnen. Nicht einmal die Erde zu retten. Das macht sie von ganz allein, wenn wir sie nur lassen. Trinken wir ganz in Ruhe einen Tee. Und laden vielleicht ein paar Nachbarn dazu ein.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Olivier Hamant: https://www.youtube.com/watch?v=2OtnWXGcUkA
(2) https://startupsucht.com/faq-wie-lange-ueberleben-startups
(3) larobustesse.org



