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Seelengeschichte ist Weltgeschichte

Seelengeschichte ist Weltgeschichte

Was sich im Individuellen entfaltet, vollendet sich im Kollektiven.

Jeder Anfang führt zu einem Ende, und jedes Ende ist ein neuer Anfang. Was heißt denn Leben? Die Gesellschaft und die Menschen durchschauen, aber nicht hinnehmen. Sie meinetwegen annehmen, doch niemals hinnehmen. Leben heißt doch, an die Veränderbarkeit des Bestehenden zu glauben, an die Möglichkeit des Wandels. Nichts bleibt bestehen, alles verändert sich. Hierin begründet sich die Hoffnung.

Ohne Hoffnung wäre das Leben nur ein Schattendasein, ein Dahinvegetieren. Die Rede ist von tätiger Hoffnung, die etwas bewirkt; von einer geistigen Haltung, die Visionen und Utopien gebiert, die Wirklichkeit werden. Leben heißt: Mich und die Gesellschaft, in der ich lebe, verwandeln. Leben — eine ganz besondere Art der Alchimie!

Das Tun im Nun

Ich bin, was ich suche — nicht, was ich finde. Ich bin nicht, was ich bin, sondern was ich werde. Indem ich mich verändere, werde ich zu dem, was ich bin. Was ich bin, bin ich durch meine Bereitschaft zur Verwandlung.

Die Angst vor dem Leben liegt manchem zugrunde, was mich ausmacht. Die Angst hat eine autistische Dimension: Sie kann das Vertrauen beeinträchtigen, die Liebe bezwingen und die Hoffnung zerstören. Zuweilen ist sie der perfekte Nährboden für Aggressionen. Die Angst ist ein unerbittlicher Gegner. Unterliege ich ihr, habe ich aufgehört, unterwegs zu sein — unterwegs zu den anderen und unterwegs zu mir selbst. Der Mut, mich zu verwirklichen, leugnet die Angst keineswegs; er überwindet sie bestenfalls.

Wenn ich mich fürchte, verpasse ich das Leben. Ich umgehe die Pfützen, um nicht nass zu werden. Die Furcht vor dem Bestehenden lässt mich verstummen. Ich schweige aus Angst vor dem Klang meiner Worte, vor ihrem geheimen Sinn. Ich ziehe mich in den entferntesten Winkel meiner selbst zurück, um nicht wahrhaben zu müssen, dass ich nicht lebe. Und fasse ich mir doch einmal ein Herz und tanze durch die Pfützen und führe Gespräche, dann ahne ich, dass die Angst überwunden ist. Dann erkenne ich, dass ich nicht an der Welt leide, sondern an mir selbst. Und ich erfahre, dass die Wahrheit erlöst.

Das Leiden und die Trauer sind der dunkle Grund, auf dem ich existiere. Doch da gibt es auch den Humor, die Freude und das Glück, es gibt die Augenblicke der Selbstvergessenheit, die mich über den Grund erheben in die lichte Schönheit des Daseins. Das Lob des Lebens, geboren aus der Fähigkeit zum Staunen, ergibt die eine Seite meiner Widersprüchlichkeit. Auf der anderen Seite steht, geboren aus der Notwendigkeit zur Klage, der Tadel des Lebens. Lob und Tadel bilden ein Ganzes und heben sich gegenseitig auf. Das Leben hat immer recht. Daran ändert meine Widersprüchlichkeit nichts.

Ich will Ja sagen. Die Existenz als ein Geschenk begreifen. Mich nicht als Opfer von Umständen oder anderen Menschen sehen, sondern als eigenständig Handelnden, der seine Bestimmung lebt.

Mich fröhlich aufgehoben fühlen im Hier und Jetzt. Der Augenblick ist der Pulsschlag der Selbstwerdung, mein Tun soll im Nun beheimatet sein. Ich will mein Leben auskosten.

Der Mut zur Liebe

Bin ich frei? Oder bin ich mir selbst ausgeliefert, meinen Veranlagungen, meiner geheimen Bestimmung? Oder besteht die Freiheit womöglich darin, das mir bestimmte Schicksal anzunehmen oder abzulehnen?

Das fragwürdige Geschenk der Existenz, die Tatsache, dass man überhaupt lebt, ist doch schon ein außerordentlicher Schicksalsschlag, mit dem wir erst einmal fertig werden müssen. Das dauert seine Zeit. Alle anderen Probleme zwischen Geburt und Tod leiten sich aus diesem ersten ab. Wer sein Dasein annimmt, hat große Chancen, auch die übrigen Hürden zu nehmen.

Manche halten die Gesellschaft für eine Manege, in die sie steigen, um wilde Tiere zu bändigen. Für andere ist sie ein blumenreicher Garten, in dem sie sorglos verweilen. Wieder andere leben in ihr, als wäre sie ein Kokon, aus dem sie einmal verwandelt schlüpfen werden. Doch die Gesellschaft ist nur der Ort, wo wir auf Menschen treffen. Wir werden geboren, knüpfen Beziehungen und sterben. Es geht wohl darum, die Herausforderungen anzunehmen und würdevoll zu bestehen, das eigene Wesen zu erkennen und zu verwirklichen und den anderen mit Liebe zu begegnen.

Ich habe vermutlich das Leben, das ich verdiene. Ich bin, wie ich bin — und so ist mein Leben, wie es ist. Ich habe eine Wirkung und die Reaktion der anderen wirkt auf mich zurück. Die Mehrzahl der äußeren Einflüsse ist in mir selbst begründet. Hadere ich mit meinem Leben, hadere ich mit mir selbst. Lehne ich mein Schicksal ab, lehne ich mich selbst ab.

Ich werde wohl einerseits von einem persönlichen und einem kollektiven Schicksal geleitet und gestalte anderseits sowohl das persönliche wie das kollektive Schicksal mit. Das eine nicht ohne das andere?

Das unbewusste Selbst

Fast sämtliche Gedanken, Handlungen, Werke gründen auf unbewussten Impulsen. Das Schicksal ist eine Verknüpfung solcher Impulse, ist die Macht des unbewussten Selbst. Es überwältigt mich nicht von außen, es wächst in mir heran, damit ich zum Bewusstsein erwache und mich erkenne. Im Bewusstwerden meines Schicksals schwindet die Empfindung der Fremde. In der Selbsterkenntnis bejahe ich die Beteiligung an meiner Bestimmung. Im Grunde ist alles vorherbestimmt: Ich bestimme, was mir zustößt oder zufällt, denn alles ist in mir angelegt. Ich werde zu jener Person, die ich unbewusst schon bin. Ich lebe, um mich zu erfüllen. Ich verwirkliche mich.

Keiner entgeht seiner Bestimmung. Jeder hat ein persönliches Schicksal, das ihn herausfordert bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Früher oder später muss jeder lernen, mit Verlust und Verzicht umzugehen, mit Angst und Schwermut, mit Trauer und Verzweiflung, mit Abschied und Tod. Das bleibt keinem erspart. Solange ich mich als Opfer sehe, besteht die Gefahr, dass ich zum Täter werde. Gelingt es mir, mein Schicksal als die Macht des unbewussten Selbst zu begreifen und das, was mir von außen geschieht, als etwas zu durchschauen, das sehr viel mit mir und meiner persönlichen Entwicklung zu tun hat, dann bin ich weder Opfer noch Täter, sondern ganz einfach ein Mensch, der die Herausforderungen des Lebens annimmt.

Das Schicksal steht über der Kausalität. Was ich auch unternehme — mir widerfährt, was mir widerfahren muss.

Mein Schicksal hat nichts mit äußeren Handlungen zu tun, es bewegt und bestimmt mein Inneres. Ich kann ihm nicht entfliehen. Auch meine Wahl ist Schicksal. Ob ich so oder anders wähle, spielt keine Rolle, da ich unbewusst mein Schicksal herausfordere und erfülle. Alles ist im Grunde relativ, weil alles schicksalhaft ist. Ich bin mein Schicksal.

Das Ich erneuert sich ständig, ich bin niemals derselbe. Jedes Erlebnis, jede Erfahrung, jedes geistige Wagnis verändert mich. Das Ich ist ständig ein anderes. Meine Identität ist nicht konstant. Das Ich entwickelt sich zeitlebens zu immer neuen Ichs. Meine Person umfasst all diese Ichs: die vergangenen, gegenwärtigen, künftigen. Meine Person ist in jedem Augenblick die Summe der tatsächlichen und der möglichen Ichs. Und meine Person ist mehr als diese Ichs — ich bin mehr als das, was ich war, bin und sein werde. Ich bin das alles.

Das Ich steht am Ende einer Ahnenreihe, die Tausende von Menschen umfasst. Vom Ich führt der Weg zurück in die Menge, der Einzelne ist das Produkt einer Jahrtausende alten Geschichte, in mir sind alle Arten von Individuen vereint. Ich bin viele: Ich bin meine Vorfahren, bin die Familie, alle Familien, die Menschheit. Mensch werden bedeutet erkennen, dass ich alle bin und dass alle ich sind. Die Welt ist ein einziges Bewusstsein: Ich bin, wir sind — wir bin, ich sind.

Der Umweg als Ziel

Der Mensch ist in jeder Phase seines Lebens ein Glücksritter, dem sich die Mysterien der Existenz erst erschließen, wenn er sie erleidet. Im Leid erschöpft sich das Ich, im Leid erfüllt sich das Ich. Das ist sein Schicksal.

Schicksalsschläge spiegeln die Seele. Schicksalsschläge sind Boten der Selbsterkenntnis.

Der traumatisierte Mensch ist der wahre Mensch. Die Wirklichkeit seiner Traumata ist Bestimmung. Die Bestimmung anzunehmen, gelingt durch die Verwirklichung seiner Träume. Dann wird der wahre Mensch zum authentischen Menschen. Der authentische Mensch ist frei, er hat eine Identität, also eine Biografie. Die Biografie macht die Würde des traumatisierten Menschen aus.

Freiheit hat mit Sehnsucht zu tun. Das Ersehnte ist oft das Unerwartete. Das Unerwartete gibt den Blick frei auf neue Möglichkeiten. Es vermag, was dem Gewohnten nicht möglich ist: uns aufzuschrecken, herauszufordern und zu verändern. Das Unerwartete verdient unsere ganze Aufmerksamkeit, unsere Wertschätzung und unsere Liebe. Denn nichts geschieht ohne Grund. Das Unerwartete ist die Folge von bestimmten Taten und ihren Wirkungen. Alles ist, wie es sein muss. Der Weg ist die logische Verbindung zweier Punkte, auch wenn er nicht geradlinig verläuft. Es heißt, der Weg sei das Ziel. Da der Weg aus Umwegen besteht, ist der Umweg das Ziel.

Die menschliche Freiheit besteht darin, das Ersehnte, das Unerwartete, das Wirkliche, kurz: das Schicksal anzunehmen oder abzulehnen. Was die anderen tun oder lassen, hat keinen Einfluss auf meine Freiheit. Ich bin in jedem Fall verantwortlich, als Handelnder, als Beobachter oder als Gleichgültiger. Die Welt ist immer nur Welt in Bezug auf mich selbst.

Die Woge der Geschichte

Das Einzelschicksal weist über den Einzelnen hinaus. Seine Wurzeln nähren sich von Gewesenem und seine Flügel tragen es in Werdendes. Das Sein ist das Leben, das der Einzelne besteht. Das Ja zum eigenen Schicksal bejaht die Welt.

Wer einsieht, wie nichtig der menschliche Wille ist — egal, ob das Gewollte erreicht wird oder nicht —, hat etwas Wesentliches begriffen: dass nämlich alles geschieht, weil es geschehen muss, und dass unser Wille keinen Einfluss darauf hat. Diese Erkenntnis verwandelt Anmaßung in Bescheidenheit, Hochmut in Demut und Selbstgefälligkeit in Menschenliebe. Was geschieht, verunsichert uns nicht mehr. Was geschieht, ist notwendig.

Meine geschichtliche Rolle oder Bedeutung kann ich mir nicht aussuchen, sie wird mir von der Geschichte, von den Kräften, die in ihr walten, zugewiesen. Was ich wählen kann, ist die Intensität, die Kompromisslosigkeit, die Konsequenz, mit der ich mich verwirkliche — wie ich meine Anlagen zur Vollendung bringe.

Ich bin frei, ein eigenverantwortlicher Mensch zu werden, aber gezwungen in meine gesellschaftliche Rolle. Das macht mich zugleich zu einem selbstständigen und fremdbestimmten Wesen, zu einem Subjekt und einem Objekt der Geschichte.

Die Geschichte der menschlichen Gesellschaft ist eine Woge, die an den Strand der Zukunft rollt. Sie gleitet unter den Schwimmern und ihren strampelnden Beinen dahin oder fällt tosend über sie her, in jedem Fall aber wird sie das Ufer erreichen. Die Ohnmacht der Schwimmer ist grenzenlos. Nach etlichen Jahren des Schwimmens und Strampelns habe ich erkannt, dass das Schicksal der Gesellschaft — ihre Geschichte — in mir selbst beginnt und endet. In der individuellen Seelengeschichte erfüllt sich die Weltgeschichte.


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