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Stirb und werde!

Stirb und werde!

In Zeiten des Denkverbots kann die Besinnung auf Klassiker wie Goethe unseren Geist weiten und Anregungen zu den wesentlichen Lebensfragen geben.

Vom Gedicht „Selige Sehnsucht“ ist vor allem der letzte Vers bekannt. Der Rest sei schwierig zu interpretieren, liest man immer wieder. Doch so schwierig ist es nicht. Wenn man es vor sich hinsagt und wenn man mit dem Herzen hineinhört, schließt es sich nach und nach auf und gibt in einzelnen Tropfen seine Weisheit preis.

Hier das rätselhafte Gedicht, Vers für Vers aufgeschlüsselt:

Selige Sehnsucht

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

Weisheit ist nur von jenen zu verstehen, die darauf lauschen. Von der Menge wird alles verhöhnt, dessen Substanz nur unter der Oberfläche gefunden werden kann. Das Nachdenken verlangt einen Schutzraum, damit es nicht von der Öffentlichkeit ins Lächerliche gezogen werden kann.

In diesem Sinn ist das Gedicht besonders zeitgemäß. Einseitige Medien, Gutmenschen, Cancel Culture, Kontaktschuld sind Zeitgeist-Phänomene, die Prozesse des freien Nachdenkens im Diskurs verhindern. Wenn man unsere Epoche mit etwa der Goethes vergleicht, könnte man schon auf die Idee kommen, dass das eigenständige Denken heute noch verpönter, ja fast verboten ist.

„Die Wahrheit beginnt zu zweit“, sagt Platon. Sie ist also nicht feststehend, sondern muss ständig im Dialog errungen werden. Wo haben wir heute freie Räume des gemeinsamen Nachdenkens? So etwa, wie es früher die Salons gewesen sind oder auch die damaligen Universitäten.

Merkwürdig ist der letzte Gedanke dieses ersten Verses:

Das Lebend’ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet

Diese Zeile ist die Vorausschau, die Überschrift, deren Erklärung im nächsten Vers folgt:

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Dieser Vers beschreibt die dumpfe Welt der Motten, deren einziger Daseinszweck es ist, im Dunkeln eine Generation an die andere zu reihen.

Doch ab und zu erwacht in einer von Tausenden eine Sehnsucht danach, über sich hinauszuwachsen, und diese Sehnsucht ist ein Sog, dem sich diese Einzelne nicht entziehen kann. Sie fliegt, vom hellen Licht der Kerze angezogen — und verbrennt darin.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Liegt nicht in uns allen die Sehnsucht, über uns hinauszuwachsen, ohne die ständige Vorsicht um Leib um Leben? Aufzubrechen und unsere Bestimmung zu leben, ohne darauf zu achten, ob man dafür in der Luft zerrissen wird? Ohne Angst, dass man medial oder gar wirtschaftlich vernichtet wird, wenn man dies oder jenes erwägt, das nicht innerhalb des heute sehr engen Flaschenhalses des Erlaubten liegt?

Spüren wir diese Sehnsucht gar nicht mehr, weil wir zu sehr am Vorgegebenen hängen, an dem, was man uns als richtig, als solidarisch, als gut verkauft?

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Wir hängen an unserem Leben, an unserem Ruf, an unserem trauten Kreis, an unserer materiellen Existenz. Die heutige atheistische Wissenschaft hält uns gefangen in der Materie.

Über sich hinauszuwachsen, braucht aber ein Bild von sich selbst, das über das Materielle hinaus zeigt ins Transzendente. Wenn wir der Möglichkeit einer Metaphysik Raum geben, kann die sich die Angst in Mut verwandeln, weil wir einem größeren Horizont folgen.

Goethes Gedicht endet mit einem seiner wohl bekanntesten Verse, dem Gedanken des „Stirb und werde“, dem wir unterliegen, das wir aber selten „haben“. Wir bleiben lieber trübe Gäste in der dunklen Welt der Motten.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Lebendig sind wir doch nur, wenn wir der Sehnsucht unserer Herzen folgen, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Angst vor Einkommensverlust oder dem Verlust von materieller Sicherheit, Ruf und Ehre.

Ist es nicht auch die Sehnsucht nach der Transzendenz, die uns lebendig macht, das Streben nach dem Höheren? Nach der Freiheit, die zu werden, die wir sind: Strahlen der göttlichen Sonne?

Van Gogh, Nietzsche, Mozart, Hölderlin, Kleist und viele andere sind ihrem Genie gefolgt, ohne Rücksicht darauf, daran zugrunde zu gehen. Sie sind daran zugrunde gegangen und haben uns die größten Kulturschätze hinterlassen, von denen die ganze Welt bis heute zehrt.

Auch Giordano Bruno war so ein „Nachtfalter des Geistes“. Als einer der größten Denker der Menschheitsgeschichte hat er sich weit über das damals Erlaubte hinausgewagt und ist im wahrsten Sinn des Wortes lebendig verbrannt.

Hat Nietzsche mit seinem rätselhaften „Übermenschen“ nicht genau das gemeint? Einzelne, die über sich und ihre Ängste hinauswachsen und in Kauf nehmen, daran zugrunde zu gehen?

Heute werden wir noch nicht mit dem physischen Tod bedroht. Keiner wird bei lebendigem Leib verbrannt. Auf dem Scheiterhaufen der Medien wird man jedoch schnell verbrannt. Auch die materielle Existenz steht sofort auf der Kippe, wenn man einige Zentimeter über das Erlaubte hinausdenkt und dabei eine gewisse Reichweite erringt. Einige Beispiele sind schnell gefunden: Sucharit Bhakdi, Ulrike Guérot, Daniele Ganser, Michael Ballweg. Es gibt noch viele andere.

Nietzsche, der ja auch von Goethe inspiriert war, hat einen schönen Gegensatz zu seinem „Übermenschen“ geschaffen: „Der letzte Mensch“. Mit Nietzsches Beschreibung des letzten Menschen lässt sich die Erläuterung des Goethegedichts gut abschließen. Die letzten Menschen sind die, die lieber im warmen Sumpf der Motten bleiben. Ein Schelm, wer an unsere heutigen Zeiten dabei denkt.

Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? — So fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.

*„Wir haben das Glück erfunden“ — sagen die letzten Menschen und blinzeln. (…)

Ein wenig Gift ab und zu, das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. (…)*

Man ist klug und weiß alles, was geschehen ist: so hat man kein Ende zu spotten. (…) Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.


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Quellen und Anmerkungen:

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra
Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Diwan

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