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Verbrecher unter uns

Verbrecher unter uns

Die Messermorde der jüngsten Zeit werden stets ohne den größeren Kontext analysiert. Das ist fahrlässig, möchte man dergleichen in Zukunft eindämmen.

Im westfälischen Siegen hat Ende August eine Frau in einem Bus mit einem Messer mehrere Personen teilweise schwer verletzt. Es hieß, die Täterin sei vermutlich psychisch krank, ein politischer Hintergrund liege nicht vor. Sein Fehlen bei der Analyse psychischer Erkrankungen gilt nicht als Ausdruck einer psychischen Erkrankung, nicht einmal eines Niedergangs der, im weitesten Sinn, Geisteswissenschaften. Psychische Erkrankungen oder Störungen werden nur insofern registriert, als sie „Abweichungen“ von als normal definiertem Verhalten darstellen.

Diese methodologische Genügsamkeit entspricht einer ziemlich verkrüppelten Form von Realität. Ihr Rahmen bestimmt sich nach Maßgabe nicht eines menschlichen Maßes, sondern polit-ökonomischer Zwänge. Nach Karl Marx kommt die Produktion unserer Lebensgrundlagen „zum Stillstand, nicht wo die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern wo die Produktion und Realisierung von Profit diesen Stillstand gebietet“ (1). Dem Fall der Profitrate entgegenzuwirken gelten alle Bemühungen der Machtzentren und ihrer Presseorgane, ihren Instituten und Bildungsorganen. Die Erzählungen, die in Umlauf gebracht werden, sind Rationalisierungen von Maßnahmen, mit denen die Bevölkerung systematisch in Bedrängnis gebracht wird. Diese Propaganda, die begleitet wird von Kriegsgeschrei, identitärer Zersplitterung und Genderkitsch, schmückt den Königsweg hin zur Entwicklung von Traumata (2).

Die Notwendigkeit, die Bevölkerung in immer größer werdende Bedrängnis zu bringen, ergibt sich aus der zunehmenden Unproduktivität einer finanzialisierten Wirtschaft. Es sind diese verwirrten, krankhaften Zustände, die zu Verwirrungen und Erkrankungen führen. Verstärkt wird die psychische Destabilisierung durch ein lähmendes Gefühl ganz realer Ohnmacht, allgegenwärtige Jubelkommentare offizieller Agenturen über alle Kanäle und eine bedrückende Vereinsamung inmitten immer stärker separierter Bereiche einer Massengesellschaft. Angesichts dieser Parodie auf Leben, Lebendigkeit, Kreativität werden Gedemütigte verhöhnt mit Erzählungen von ihrer individuellen Einzigartigkeit.

Tatsächlich haben die Menschen nicht einfach das Gefühl, so „einzigartig“ nicht zu sein. Ihr Problem sind gesellschaftliche Strukturen, die unerbittlich dafür sorgen, ist, dass, um mit Marx zu sprechen, „der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (3). Sie zählen mit anderen Worten überhaupt nicht. Sie sind, um einen Nazi-Vergleich zu bemühen, überflüssig wie ein Blinddarm.

Unsichere Beschäftigungsverhältnisse oder bereits bestehende Arbeitslosigkeit, finanziell prekäre Lagen und zunehmende soziale Ungleichheit sind die Grundlagen von Benachteiligungen, die gesundheitliche Schäden durch die Umwelt im weitesten Sinn, eine fatale Ernährungsweise oder gar den Griff nach Suchtmitteln aller möglichen Arten mit sich bringen. Die damit provozierten Symptome psychischer Erkrankungen sind nicht oder nur sehr begrenzt individuell lösbar, weil sie ein gesellschaftliches Problem darstellen. Hervorgebracht wird es von aktiv Mitwirkenden, aber auch passiv Beteiligten, die direkt oder indirekt zu bevorzugten Objekten der Rache werden.

Die Zerstörung persönlicher Autonomie produziert mit dem Verlust unserer Integrität eine Orientierungslosigkeit, die eine Projektionsfläche für glücks- und heilversprechende Einflüsse aller Art bildet. Dazu gehört auch das Angebot, Verzweiflung und Wut nach außen zu richten.

Die eigene Ohnmacht entwickelt dann gegenüber den als übermächtig und feindselig erlebten Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen das als vital empfundene Bedürfnis nach eigener Omnipotenz, die sich angesichts der realen Machstrukturen zumeist gegen Schwächere und Wehrlose richtet. Entscheidend sind das Streben nach Vergeltung, eine Art Machtrausch und die zwanghafte Suche nach Belegen, daß man sich nicht geschlagen gibt. Eine hektische Hyperaktivität geht einher mit einem Mangel an konstruktiver Orientierung, die eine pathologische Normalität den Menschen zumal in Zeiten einer Negierung ihrer zentralen Wesenseigenschaften aus dem Kopf geschlagen hat.

Es sei kein Wunder, dass es unter solchen Umständen zu Amokhandlungen komme, meinte Erich Fromm des Öfteren. Ein Wunder sei es, dass es so selten passiere. Wenn doch, wird es als nicht „normal“ eingestuft und den Akteuren eine „psychische Erkrankung“ attestiert. Diese Diagnose blieb dem nach allem, was wir wissen, syrischen Täter von Solingen erspart. Er hatte offenbar andere Probleme. Doch wenn er auch nicht für geisteskrank gehalten wurde, haben wir eine Gemeinsamkeit der Verbrechen: In beiden Fällen wurden im gesellschaftlichen Umfeld des Täters beziehungsweise der Täterin keine Merkmale ausgemacht, die ein Verzweiflungstaten begünstigendes Trauma hätten produzieren können.

Der Bundespräsident Deutschlands hat die Morde in Solingen als „Anschlag auf unsere Art zu leben“ bezeichnet. Wir wollen außer Acht lassen, in welchem Ausmaß ein „Anschlag auf unsere Art zu leben“ bereits durch den von ihm beflügelten Kahlschlag der Sozialsysteme betrieben wurde. Festzuhalten ist, dass sich in diesen rührseligen Schnipseln offizieller Verlautbarungen eine kognitive Dissoziation zeigt, die für die bürgerlich-kapitalistische Herrschaft kennzeichnend und unerlässlich ist. Sie ist der Schlüssel zu ihrem Selbstbetrug.

„Unsere Art zu leben“ ist dank Verarmung, wirtschaftlichen Niedergangs und Meinungskontrolle schon für die hiesige Bevölkerung eine Verhöhnung menschlicher Bedürftigkeit.

Der Bevölkerung in den einst „Dritte Welt“ genannten Gebieten kann sie bestenfalls ein Lächeln aufs Gesicht zaubern, das kein Lächeln des Glücks ist. Insbesondere für die Landschaften von Pakistan, Afghanistan über Irak und Syrien bis Libyen, von aktuell Gaza zu schweigen, ist es Ausdruck unverfrorener Bedrohung. Den Menschen dort müssen die Ohren klingeln, wenn ihnen nicht schon längst Hören und Sehen vergangen wäre.

Als Afghanistan ein Verbündeter der Sowjetunion war, hatten Frauen alle Rechte, weswegen die Grünen, die so ziemlich destruktivste Gruppierung in Deutschland seit Gründung der NSDAP, die Bombardierung des Landes durch die NATO guthießen. 1978 stürzte eine Befreiungsbewegung, die sich aus den Reihen der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) gebildet hatte, unter dem Beifall der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung eine diktatorische Monarchie. Der Entwurf eines Reformprogramms sah Religionsfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, die Abschaffung ländlicher Feudalstrukturen und eine Besserstellung ethnischer Minderheiten vor. Die Lebenserwartung lag bei 35 Jahren, jedes dritte Kind starb vor seinem sechsten Geburtstag, und die Alphabetisierungsrate betrug zehn Prozent.

In den ärmsten Regionen wurde ein kostenloser Gesundheitsdienst eingerichtet, die Leibeigenschaft verboten und eine Alphabetisierungskampagne ins Leben gerufen. Gegen Ende der 1980er-Jahre stellten Frauen 50 Prozent der Studierenden, 40 Prozent der Ärzte, 70 Prozent der Lehrer und 30 Prozent der Angestellten im öffentlichen Dienst (4).

Als die UdSSR im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschierte, kam sie nicht nur einer bedrängten Regierung zu Hilfe. Es sollte auch verhindert werden, dass der religiöse Fanatismus der Mudschahidin sich auf die muslimischen Regionen der Sowjetunion ausbreitete. Daran wiederum lag den Kräften in Washington um Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski. Die Unterstützung der Gegenreformer in Afghanistan durch die USA hatte nichts mit dem russischen Einmarsch zu tun. Er begann schon ein halbes Jahr vorher. Zu diesem Zeitpunkt, August 1979, meinte der US-Botschafter in Kabul, „der Sturz der DVPA-Regierung würde den allgemeinen Interessen der Vereinigten Staaten dienen, unabhängig davon, was dies für die weiteren sozialen und wirtschaftlichen Reformen in Afghanistan bedeutet“ (5).

Das war natürlich für die dortige Bevölkerung kein „Anschlag auf die Art und Weise zu leben“. Auch nicht die Verwüstungen des Iraks ab dem ersten US-Überfall auf die dortige Bevölkerung, das ebenfalls völkerrechtswidrige Embargo mit Hunderttausenden Opfern mit dem Angriff 2003 als krönendem Abschluss, die sektiererischen Spaltungen, welche die Bildung diverser Milizen und bewaffnete Konfrontationen nach sich zogen. Diese archaischen Zustände tauchen nie in Zusammenhang mit von Kritikern vorhergesagten Folgen der US-amerikanischen Angriffskriege auf. Sie seien bedingt durch zivilisatorische, mentalitätsgeschichtliche und aufklärerische Rückständigkeit, wie sie mehr oder weniger typisch für von Muslimen bewohnte Regionen sei.

Ein durchgehendes Charakteristikum der Berichterstattung ist es, westliches Berserkertum als Auswüchse erscheinen zu lassen. Am 12. Januar 2006 konnte man im Radio hören, dass die US-Streitkräfte im irakischen Haditha eine 14-köpfige Familie ausgelöscht haben. In der Süddeutschen Zeitung (SZ) stand davon kein Wort. Anders als bei den russischen „Machthabern“ haben wir es bei unserem „gütigen Hegemon“ nur mit Einzeltätern wie Frank Wuterich zu tun.

Der US-Oberfeldwebel war der Hauptangeklagte wegen des Massakers. Insgesamt wurden 24 Iraker ermordet, darunter zehn Frauen und Kinder. Der Staatsanwaltschaft lagen Fotos vor von zwei Frauen, drei Mädchen und einem Jungen, die im Bett erschossen wurden, einige aus nächster Nähe in den Kopf (6). Den Ermittlungen zufolge gab Wuterich, dessen Vorfahren bei der Emigration möglicherweise einen Umlaut, in keinem Fall aber ihre zivilisatorischen Werte zurückgelassen hatten, vor ihren Durchsuchungen der „Rebellenverstecke“ die Parole aus, „erst zu schießen und dann Fragen zu stellen“ (7). In Wuterichs Gerichtsverfahren wurden zunächst keine Fragen gestellt — und dann nicht „geschossen“: Die Anklage lautete nicht auf Mord, sondern fahrlässige Tötung (8).

Das war nicht einer Verschwörung geschuldet. In einem System, das funktioniert und ebenso sublim wie straff organisiert ist, sind keine Verschwörungen nötig. Es reicht auch bei unseren Medienvertretern der ganz normale Konformismus, der nicht einmal auf polizeistaatlichen Druck angewiesen ist. Als ein Iraker nicht rechtzeitig an einem Straßenposten anhielt, war es dem US-Gefreiten Steven Green, „als ob du eine Ameise zerquetschst“ (9). Seine letzten Opfer waren ein 14-jähriges Mädchen, das er vorher vergewaltigte, und drei Angehörige.

Green bekam lebenslänglich (10). Er gilt als geisteskrank. Seine Vorgesetzten nicht. Die Vertreter unserer Medien, die mit zum Krieg gegen den Irak bliesen, auch nicht. Die Washington Post legte vier Psychologen anonymisierte Aussagen von Green vor. Unabhängig voneinander attestierten sie ein Trauma, typische Symptome der Verdrängung und eine Art Gefühlsstau. Eine Wiederholung des Experiments mit anonymisierten Aussagen von Regierungsmitgliedern oder Angestellten von Presseorganen fand offenbar nicht statt. Das ist verständlich, denn der Zusammenhang von gesellschaftlichen Verhältnissen, die uns allen zugemutet werden, und psychischen Störungen könnte zu offensichtlich geworden sein. Zu den Folgen gehört die Geburtsstunde des sogenannten Islamischen Staats (IS, ISIS oder Daesh), der sich zu den Morden in Solingen „bekannte“.

Es handelt sich um eine Terrororganisation, die sich, ausgehend von den Verwüstungen staatlicher Strukturen im Irak, auch nach Syrien ausbreitete. Zusammen mit anderen Ablegern von al-Qaida fungierte sie, begleitet vom Medienrummel um ihre aufopferungsvolle Hilfstruppe „Weißhelme“, als eine der „moderaten Kräfte“, die von den USA und ihren Vasallen unterstützt wurden. Syrien versank im Chaos, entfacht von westlichen Sanktionen — so das Codewort für die staatsterroristische Bestrafung einer Bevölkerung —, türkischer Invasion im Norden sowie US-Besatzung im Nordosten mitsamt Raub von Öl und Blockade landwirtschaftlicher Nutzflächen.

Bei uns wird eine Zerstörung des Gemeinschaftlichen nicht erwogen, weil sie einer verherrlichten Wirtschaftsordnung inhärent ist. Also greift man nach der „psychischen Erkrankung“ als einem individuellen Phänomen. Ansonsten ist alles in Ordnung, was Hass und Neid der restlichen Welt provozieren muss.

Das Ergebnis sind blutrünstige Taten „religiöser Fanatiker“, die anlasslos ohne Ansehen des Alters oder des Geschlechts, das heißt, auch Kinder, Alte und Frauen töten — was im Islam angelegt sei.

Es gibt etwa 600 Millionen Muslime. Vor 100 Jahren gab es unter ihnen eine Handvoll gewaltbereiter Extremisten; vor 90 Jahren entstand die Muslimbruderschaft im von Großbritannien kolonisierten Ägypten; vor etwa 60 Jahren als Reaktion auf das zionistische Regime die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO). Vor knapp 50 Jahren wurden die afghanischen Mudschahidin von Saudi-Arabien und den USA mit Milliarden US-Dollar hochgepäppelt. Diese „Handvoll Hitzköpfe“, wie 1992 Brzezinski beschwichtigte, übten dann, abgesehen von Afghanistan, ihr Unwesen aus von Pakistan bis Algerien, wo in den 1990er-Jahren Hunderttausende in einem furchtbaren Bürgerkrieg starben. Aber die beste Zeit dieser Fanatiker sollte noch kommen.

Im Zuge des Bestrebens der USA, die ganze Region zwischen Pakistan und Libyen neu zu ordnen (11), wurden seit 1990 zwischen fünf und sieben Millionen Muslime ermordet, noch mehr verstümmelt, traumatisiert und vertrieben, ohne Ansehen des Alters oder des Geschlechts, und die staatlichen Strukturen von Landstrichen über Tausende von Kilometern zerstört. Aber wie westliche Verbrechen generell ist das alles, wie Harald Pinter in seiner Nobelpreisrede festhielt, „nie passiert“. Deshalb haben auch die Reaktionen derer, die überhaupt noch in der Lage waren, zu reagieren, per definitionem mit alledem nichts zu tun, sondern erklären sich aus den religiösen Interpretationen, die sich gegen ihre Zermalmung Wehrende zurechtgelegt haben.

Gegen die Groteske, aus dieser Selbstdarstellung einen dämonischen Popanz zu machen, wäre schon die bloße Statistik anzuführen: Wir haben mit brachialer Beihilfe des Westens vielleicht 10.000 Gewalttäter — wenn die religiöse Motivation ausschlaggebend sein soll: Was ist mit den rund 599.990.000 anderen Muslimen? Weg von einer selber religiösen Sicht hat der Orientforscher Olivier Roy gemeint, man solle nicht von einer Radikalisierung des Islam sprechen, sondern von einer Islamisierung der Radikalität (12).

Ähnlich amüsierte sich der Ex-CIA-Beamte Graham Fuller über den Eifer, mit dem man sich auf den Islam konzentriere und ihn dämonisiere. Seiner Ansicht nach würde es im Orient auch ohne Islam nicht viel anders aussehen, weil die Eingriffe des Westens einfach zu verheerend seien, als dass nicht irgendeine Form des Widerstands, die „wir“ natürlich Terrorismus nennen, daraus erwüchse. Nicht nur nach Fuller hätten die USA nicht ISIS geschaffen, wohl aber Umstände, die das Entstehen einer Organisation wie ISIS nach sich zogen (13).

Kritiker der US-amerikanischen Angriffskriege, die von den Medien mit herbeigeschrieben wurden, haben seinerzeit auf die Terrorgefahr in der Region und auch Europa hingewiesen. Das interessierte nicht, weil der europäische Westen und östliche Neo-Vasallen und Kollaborateure wie Václav Havel sich an diesen Verbrechen beteiligt haben. Bei den Verwüstungen von Afghanistan über Irak und Syrien bis nach Libyen ging es um Ressourcen und ihre Transportwege, an deren Sicherung auch die europäischen Machtzentren großes Interesse haben. Ein verheerendes Beispiel war Libyen, wo sogar Frankreich und Großbritannien vorpreschten, was dann, insbesondere auf Druck des Prototyps der Vertreterin einer „feministischen Außenpolitik“, Hillary Clinton, von den USA unterstützt wurde.

In Syrien waren viele europäischen Staaten beteiligt an der finanziellen und militärischen Unterstützung eines „Regime Change“, dem US-amerikanischen Konzept einer Neuordnung von Ländern mit undisziplinierten, nicht ausreichend fügsamen Regierungen. Am Ende landeten die meisten Waffen auch dank Saudi-Arabien, Katar und anderer Partner unserer „Wertegemeinschaft“ bei Fanatikern, die ihre Überzeugungen in archaische Vorstellungen des Islams kleideten und entsprechend handelten. Das Vorbild für dieses Drehbuch war Afghanistan.

Es sind zwar reaktionäre Ideen, die aber für Gedemütigte, Ausgebeutete und Terrorisierte den Charme haben, einen wie auch immer gearteten Widerstand gegen den Westen und dessen „Ideale“ zu verkörpern.

Natürlich müssen sie sich nicht so entscheiden, wie sie sich entscheiden. Aber ist das ihr Fehler allein? Wo sind die guten Vorbilder? Auf dem weiten Feld von Kollaborateuren, Mitläufern und Hurra-Schreiern — über unsere Medien brauchen wir kein Wort verlieren — soll es ansonsten keine Schuldigen geben? Ein Palästinenser klagte einst:

„Sie klauen unser Land, schikanieren uns jeden Tag, bombardieren uns, töten unsere Kinder, Verwandte und Nachbarn, aber wenn eine Rakete auf israelisches Gebiet fällt, sollen wir es verurteilen!?“

Natürlich — wenn man akzeptiert, dass die Gebote rationalen und moralischen Handelns erst gelten, wenn „wir“ Grund zum Jammern haben.

Howard Zinn führte ein Zitat an, dessen Urheber ihm nicht mehr geläufig war:

„Die Schreie der Armen sind nicht immer gerecht, aber wenn wir nicht auf sie hören, werden wir nie wissen, was Gerechtigkeit ist“ (14).

Wir werden es nicht wissen, wenn wir uns nicht freimachen von Oberflächigkeit, Hybris und doktrinärer Einstellung gegenüber den gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen sich jene Taten vollziehen. Sie müssen nachvollziehbar sein, da sie ansonsten nicht begriffen werden könnten. Ob sie uns gefallen, spielt keine Rolle. Wer sagt, dass sie ihren Protagonisten gefallen? Und was ist mit uns? Was bestimmt unsere Akzeptanz von Regelverstößen, und wann lehnen wir sie ab?

Die Morde in Solingen und das Verbrechen in Siegen verbinden, ebenso wie im Übrigen der Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023, die traumatischen Erfahrungen massiver Störungen gemeinschaftlichen Lebens gepeinigter Menschen. Wenn es gar nicht mehr möglich ist, werden die Folgen um so schwerer ausfallen. Unseren Anteil an den Ereignissen blenden wir mit schlafwandlerischer Sicherheit aus, solange wir an unserem von besten Absichten und hehren Ideen geprägten Weltbild festhalten.

Der Hamas-Angriff hat nichts mit Besatzung und Unterdrückung zu tun, weshalb er stets als „Massaker“ zu bezeichnen ist. Der folgende Genozid in Gaza, begleitet von verstärkten Mordaktionen auf der Westbank, wird registriert wie ein Erdbeben in Baerbock’schen hunderttausend Kilometern Entfernung und kann unmöglich einen Muslim in Wut und Depression stürzen.

Die Messerattacke in Siegen steht ebenfalls nicht in Zusammenhang mit „unserer Art zu leben“, die nur zur Sprache kam, um sie als durch einen „islamistischen Fanatiker“ gefährdet zu sehen. Die „Art zu leben“, die ihm zugemutet wurde, wird wiederum nicht einmal angedeutet. Alles Mögliche wird an den Haaren herbeigezogen, nur um nicht auszusprechen, unter welchen Umständen in seiner Heimat aller verbindlichen und verbindenden Gemeinschaft der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Das läge außerhalb des Rahmens, den unser Propagandasystem zulässt.

Die Täterin in Siegen kam nicht in den Genuss eines handgreiflichen Motivs, obwohl es vor unserer Haustür läge. Der Anstoß für die Tat in Solingen wiederum wurde in jeder Beziehung weit weg von uns verlegt, aber im Grunde in ebenso persönlichen, dieses Mal religiös-politischen Defekten angesiedelt. Beide Male haben wir es mit einem Versagen zu tun, das einen moralischen und intellektuellen Bankrott zu nennen untertrieben wäre.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band, Berlin 1969, Seite 268
(2) Siehe Chris Hedges, Trauma in the U.S.A. [U.S.-] America spawns trauma and this trauma expresses itself in a variety of self-destructive pathologies, including the erosion of democracy und rise of neo-fascism, Consortium News 6. September 2023 consortiumnews.com/de/2023/09/06/chris-hedges-trauma-in-the-usa/
(3) Karl Marx, Zur Kritik der Hegel'schen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 1, Berlin 1970, 385
(4) Siehe John Pilger, Verdeckte Ziele. Über den modernen Imperialismus, Frankfurt a.M. 2004, Seiten 74 folgende
(5) Zitiert nach Pilger, Verdeckte Ziele, Seite 76
(6) SZ 2./3. Juni 2007, Der New Yorker *hat jetzt alle Fotos dieser Galerie des Grauens freigeklagt
(7) Zitiert nach Christian Wernicke, US-Soldaten wegen Massakers vor Gericht, *SZ
23./24./25./26. Dezember 2006
(8) SZ 6./7. Oktober 2007
(9) Zitiert nach SZ 5./6. August 2006
(10) SZ 23./24. Mai 2009
(11) nachdenkseiten.de/?p=26145 oder Stichwort „Wesley Clark“ eingeben
(12) Siehe nzz.ch/feuilleton/debatte-zum-jihadismus-radikalisierung-islamophobie-ld.9892
(13) Vor dem Hintergrund der üblichen Schönfärbereien siehe auch die Einschätzung Fullers in dem Interview mit Ezgi Basaran: Former CIA officer says US policies helped create IS, al monitor 2. September 2014, al-monitor.com/pulse/politics/2014/09/turkey-usa-iraq-syria-isis-fuller.html; siehe auch Fuller, The ISIS Phenomenon: How Does It End? 24. November 2014, grahamefuller.com/the-isis-phenomenon-how-does-it-end/?; derselbe, Why does ISIS hate Shi’a ? 17. Dezember 2014, grahamefuller.com/why-does-isis-hate-shia/?; derselbe, Yes, it is Islamic Extremism — But why? 22. Februar 2015 grahamfuller.com; derselbe, A World Without Islam, New York 2010
(14) Howard Zinn, Geschichte des (US-)amerikanischen Volkes, Berlin 2007, Seite 18

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