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Vereint im Schmerz

Vereint im Schmerz

In den letzten Monaten fühlten sich viele Menschen mit ihrer Leidensgeschichte allein — die letzte Berliner Großdemo am 28. August zeigte: Sie sind es nicht.

Zugegeben, der Titel klingt etwas pathetisch, aber nachdem ich diesen bedeutsamen Tag noch einmal Revue passieren ließ und mir die Aufnahmen am Abend zu Gemüte führte, wollte ich ihn. Drückt er mit ein paar Buchstaben genau das Gefühl aus, was mich seit langer Zeit umgibt und von dem ich stetig versuchte, es in Worte zu fassen.

Es heißt nicht ohne Grund: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Erst jetzt, just in diesem Moment, verstehe ich die Bedeutsamkeit dieser allseits bekannten Redewendung tatsächlich. Denn was muss erst geschehen, dass Menschen unterschiedlichster Couleur sich vom Sofa aufraffen, in die Ferne reisen und zusammen auf die Straße gehen? Was muss passieren, dass jemand sagt, ich weiß mir nicht mehr anders zu helfen? Wie viel kann ein Mensch ertragen? Wann ist seine individuelle rote Linie erreicht? Wie weit ist es gekommen, dass die Motivation, etwas zu tun, was nicht der Mehrheit entspricht, größer wiegt, als die Pein, die ihm zwangsläufig entgegenschlagen wird?

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Wir leben in einer Zeit, in der selbst Worte, die seit Ewigkeiten legitim waren, bedeutungslos ja sogar mittlerweile abschreckend wirken. Fast schämt man sich, sie auszusprechen. Worte wie Heimat, Deutschland, Recht, Freiheit, Nationalhymne oder Führerschein sind mittlerweile so kontaminiert, dass man sich zweimal überlegt, ob man sie benutzt.

Es ist nicht nur der gesellschaftliche Umgang mit Corona, weswegen die Menschen auf die Straße gehen. Es scheint, als sei es das gesamte Lebensmodell, dass uns aufoktroyiert wird.

Es ist Klima, es ist Gendersprache, es ist die Politik in Gänze. Das ganze Weltbild passt nicht mehr. Egal welches Thema man sich zu Gemüte führt, wir fühlen, dass es falsch ist und wir verstehen nicht, weshalb so viele Brüder und Schwestern das nicht erkennen wollen und uns sogar „bekämpfen“. Dabei sind wir die Letzten, die sich streiten möchten. Ganz im Gegenteil, wir möchten den Frieden, die Versöhnung und in Harmonie miteinander leben. Dafür greifen wir auf das vorletzte Mittel, was uns bleibt, zurück: die Straße.

Wir müssen alles versuchen, die Dinge zum Guten zu bewegen. Wenn uns das nicht gelingt, sind wir gezwungen unsere eigene Welt zu erschaffen. Doch wer möchte das wirklich? Es würde zwangsläufig bedeuten, dass wir uns separieren müssen ― und diesen Zustand jemals wieder aufzulösen, würde Generationen dauern. Wer will das denn? Ich jedenfalls nicht! Und ich bin der festen Überzeugung, ebenso niemand anderes, der noch ein gewisses Maß an Empathie und Gefühl besitzt. Dafür gehen die Menschen an Tagen wie diesen weltweit auf die Straße ― vereint im Schmerz.

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Es ist alles gesagt, es ist alles bekannt. Mich erreicht der Schmerz in den unterschiedlichsten Lautstärken und Tonlagen. Es reicht! Er soll aufhören! Doch wird er es nicht von alleine. Mir bleibt nur das, was ich kann: die Fotografie. Mit ihr versuche ich in den Dialog zu kommen, denn Bilder haben eine andere Ausdruckskraft als das geschriebene Wort oder ein Video. Ein Bild kann dazu anregen, für einen Augenblick die Realität zu vergessen. Im besten Fall entsteht ein Zweifel. Ein kurzer Gedanke, der zu weiteren führt und somit zu einem völlig neuen Blickwinkel. Ein naiver, aber schöner Gedanke. Mir gibt er Kraft.

Bildlich berichten möchte ich vom 28. August 2021. An diesem Tag vereinten sich Unzählige in Berlin und machten ihrem Schmerz freien Lauf. Sie gingen gemeinsam auf die Straße, wohlwissend, wie sie in den Gazetten beschrieben werden. Die Energie war atemberaubend, sie war spürbar und gab Halt. Eine schier endlose Anzahl an Menschen ließ sich von Verboten nicht aufhalten und folgte ihrem Herzen, getragen vom unbändigen Gefühl, das Richtige zu tun. Niemand konnte sie aufhalten. Die Liebe und der Wille nach Veränderung steckte an.

Niemand warf einen bösen Blick auf die Armada des vergangenen Menschenverstands. Ganz im Gegenteil: Ich erlebte so viel Zuspruch von Passanten und Beobachtern, dass es mich darin bestätigte, was ich tue und wofür so viele Menschen den weiten Weg auf sich nahmen. Sie blickten von ihren Balkonen, schwenkten Fahnen, begrüßten uns, streckten den Daumen in die Höhe, pfiffen aus ihren Autos, nahmen selbst alles auf und schenkten uns ein Lächeln. Es war unbeschreiblich. Dabei gerät es fast in den Hintergrund, dass uns die Polizei auf einer Brücke am Weitergehen hinderte.

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Ich habe schon viele Demonstrationen fotografisch begleitet und ein paar Gedanken dazu niedergeschrieben, aber diesmal hat es mich besonders mitgerissen. Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber ich empfand, dass es ein ganz besonderer Tag war, der mir Hoffnung gab, denn diese Masse an reinen Herzen war nicht zu übersehen und regte ganz sicher den einen oder anderen zum Nachdenken an.

Genug der Worte, Bilder sprechen für sich. Ich hoffe, dass ich die Energie dieses wundervollen Tages einigermaßen vermitteln kann.


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Fotos: Earlyhaver


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Redaktionelle Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst auf earlyhaver.com.


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