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Verstaubte Linke

Verstaubte Linke

Wer für die Rechte der Ausgebeuteten kämpft, den bringt das überholte Denken in „Klassengegensätzen“ nicht wirklich weiter.

In dem Artikel formuliert der Autor:

„Es ist auffällig, dass Linke, die eigentlich die 'Klassenfrage' kennen sollten, kaum recherchieren, was für soziale Kräfte denn hauptsächlich in FFF vertreten sind.“

In der weiteren Argumentation erklärt der Autor dann, wieso er diese Aussage macht: Wer nicht aus der richtigen Klasse kommt, kann auch keine richtigen Antworten auf Fragen der Gesellschaft haben. So beginnt er zum Beispiel seine Argumentation damit, „dass 43,6 Prozent der TeilnehmerInnen an Fridays for Future sich zur Mittelschicht zählen und nur 4,3 Prozent zur Arbeiterklasse und 1,8 Prozent zur Oberschicht“. Und der Autor resümiert dann: „FFF repräsentiert nicht die Arbeiterjugend. ... Die Arbeiterjugend ist weitgehend apolitisch.“

Dann stellt der Autor die Forderungen der Fridays-for-Future-Bewegung dar und zeigt, dass die Maßnahmen (der Bundesregierung) so ausgeführt sind, dass sie „eine Erhöhung der Lebenskosten der Beschäftigten“ bringen werden.

Schließlich folgert er dann:

„Somit folgte als politische Konsequenz der einjährigen FFF-Proteste eine neue antisoziale Offensive.“

Dann zeigt der Autor, dass sich auch bedeutende Industrie- und Kapitalgruppierungen für eine CO2-Reduktion einsetzen und fährt fort, die Fridays-for-Future-Bewegung trage selbst Verantwortung dafür, dass sie „als zusätzliche Legitimationsstrategien für diverse Operationen der westlichen Großmächte gegen andere Staaten missbraucht werde“.

Zudem meint Posdnjakow, dass es sich bei den Forderungen der FFF-Bewegung für einen „System Change“ lediglich „um die Opposition zu dem bisherigen bürgerlich-demokratischen Entscheidungsmechanismus“ handle. Diese Anschuldigung begründet er damit, dass die Aussage, „die 'Wissenschaft' habe schon längst die Antworten auf die 'Klimakrise' gefunden“ und „alles, was wir tun müssen, ist aufzuwachen und die Lage zu verändern“, eine „reaktionäre, autoritäre Infragestellung der bürgerlichen Demokratie“ sei.

Schließlich vergleicht der Autor die FFF-Bewegung mit dem neoliberalen Schlachtruf von Margaret Thatcher: „There is no alternative.“ Jenem Satz also, mit dem die Konterrevolution der schonungslos brutalen Bereicherungs-„Elite“ gegen den Versuch eines demokratischen „Sozialstaates“, gegen das Menschen- und gegen das Völkerrecht begründet wurde.

Hiermit fährt der Autor ein großes Geschütz auf gegen zig-Millionen Jugendlicher und Erwachsener, die sich Sorge um ihre Zukunft machen, dafür auf die Straße gehen und die Politik auffordern, Maßnahmen zu ergreifen und die Bedrohung, die auf der Menschheit lastet, zu reduzieren.

Es ist auffällig, dass der Autor in keinem Satz die Frage stellt, ob es diese Bedrohung gibt. Das scheint ihn nicht zu interessieren oder er meint schlicht, es gäbe sie nicht. Stattdessen verlangt er den richtigen Klassenstandpunkt einzunehmen.

Der „richtige Klassenstandpunkt“

Den „richtigen Klassenstandpunkt“ zu fordern, geht auf Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin zurück. Lenin formulierte das so:

„Das Wichtigste in der Marxschen Lehre ist die Klarstellung der weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats als des Schöpfers der sozialistischen Gesellschaft.“ (2)

Das schrieb Lenin 1913, also noch vor dem 1. Weltkrieg und der Oktoberrevolution. Und er fügte hinzu:

„Einen noch größeren Triumph aber wird dem Marxismus — als Lehre des Proletariats –die kommende geschichtliche Epoche bringen.“

Stimmt die Sichtweise, dass der „richtige Klassenstandpunkt“ sozusagen automatisch zur richtigen Politik führt? Ergibt sich „richtig“ oder „falsch“ tatsächlich aus der Klassenzugehörigkeit?

Karl Marx und Friedrich Engels ging es um Wissenschaft, die vom Proletariat getragen werden sollte. Interessant ist dabei die Frage: Hatten jene Urväter, von denen heutige „Linke“ letztlich wohl irgendwie „abstammen“, hatten diese „Urväter“ schon ein Bild von einer drohenden Zerstörung menschlicher Daseinsmöglichkeiten? Sehen wir mal nach bei Friedrich Engels. Dieser formulierte in der Schrift „Dialektik der Natur“ — „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ folgendes:

„In der Natur geschieht nichts vereinzelt. Jedes wirkt aufs andre und ungekehrt...Wir beherrschen die Natur nicht, sondern wir gehören ihr an, stehen in ihr... Unser Vorzug als Menschen ist nur, dass wir ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden können... Schmeicheln wir uns nicht so sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, dass sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen.… Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht — sondern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören … Der Mensch ist ein Teil der Natur.“ (3)

Ganz schön weitsichtig — oder? Engels schrieb dies vor 142 Jahren.

Was sich Karl Marx und Friedrich Engels aber anders erhofft haben, war folgendes: Im Kommunistischen Manifest von 1847 schreiben sie:

„Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweg gezogen, ... Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ (4)

Das war die Hoffnung vor 172 Jahren. Und dieser Hoffnung folgte ein heroischer Kampf der Arbeiterbewegung, den „Kapitalismus“ einzuschränken. In Russland wurde der Sturz der Bourgeoisie verwirklicht. Das Proletariat eroberte die Weltbühne. Das erschütterte den Kapitalismus so sehr, dass er sich tatsächlich für einige Jahrzehnte ein wenig in Ketten legen ließ und eine „soziale Marktwirtschaft“ entstand.

Nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz entfaltete sich dann — mit Hilfe einer Phalanx neoliberaler Ökonomen — beginnend mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher eine wahre Entfesselung des Marktes. Ohne jegliche Rücksichtnahme auf die Biosphäre. Das System wucherte immer ungebremster. Und je mehr es die Menschen ausbeutete und/oder zu Konsumenten degradierte, umso mehr trat dieses System eine über Jahrhundertmillionen gewachsene Biosphäre mit Füßen! Wer das nicht sieht, der muss ein Freund dieses „Kapitalismus“ sein.

Keine Kapitulation vor dem Kapitalismus!

Wie wir heute wissen, ist es mit dem Modell des „Klassenbewusstseins“ nicht nachhaltig gelungen, den „Kapitalismus“ zu stürzen. Mit dem „Klassenkampf“ wurden große Erfolge erzielt, aber auch bittere Niederlagen eingesteckt, zu denen auch die „systemeigene“ Missachtung von Menschenrechten gerechnet werden muss. Das westliche Kapital-Imperium obsiegte und heute bedroht ein System der Bereicherung sehr weniger Menschen nicht nur das Menschsein der Ausgebeuteten, sondern auch die gesamte Biosphäre, die Voraussetzung allen Lebens auf dieser Erde.

Und nun stehen Menschen auf, junge Menschen und sagen: So wie bisher kann es nicht weitergehen! Sie werden von den Mächtigen lächerlich gemacht, an ihnen wird gezogen und sie machen selbstverständlich auch Fehler. Aber ihren Kampf als „reaktionär“ zu bezeichnen, riecht nach einer Kapitulation vor dem „Kapitalismus“ — im erwähnten Beitrag mithilfe des „Klassenarguments“. Seltsam, wie vielfältig die Verdrehungen sein können, wenn Menschen an den Säulen des Systems rütteln.

Es geht um „richtig“ oder „falsch“ und nicht um die „richtige Klasse“ oder die „falsche Klasse“. Dieser Gedanke war von Anfang an falsch, auch bei Marx und Lenin. Es gibt keine Automatik, die von der „richtigen Klasse“ zu den „richtigen Ideen“ führt. Das sollten wir zur Kenntnis zu nehmen!

„Richtige“ Gedanken und Forderungen sind letztlich immer abhängig von Interessen. Wer die Interessen der Bereicherungs-Elite vertritt, wird im Wesentlichen keine „richtigen“ Gedanken im Sinne der Ausgebeuteten hervorbringen. Insofern hatten Marx und Lenin Recht. Und daraus folgt: „Richtige Gedanken“ müssen sich auf die Interessen der 99 Prozent der Menschheit beziehen. Aber trotzdem gibt es keinerlei Sicherheit, dass die Zugehörigkeit zur Klasse der Ausgebeuteten oder eine diesbezüglich gute Absicht automatisch zu richtigen Gedanken führt.

Wie ist die Lage wirklich?

Die Lage, in der wir uns derzeit als Menschheit befinden, ist ja wohl diese: Wir können es uns nicht aussuchen, ob wir für eine intakte Biosphäre kämpfen oder ob wir den Kampf gegen die Bereicherungs-Eliten aufnehmen. Das eine gegen das andere auszuspielen wäre fatal.

Auch die Gewinner der Bereicherungs-Gesellschaft sind von Zusammenbrüchen im System der Biosphäre betroffen. Daraus abzuleiten, dass niemand etwas gegen die Bedrohungen unternehmen dürfe, die menschliches „kapitalistisches“ Handeln bezüglich des Klimas bereits angerichtet haben, ist absurd.

Die aktuelle Lage entspricht doch ungefähr einem großen Haus, in dem verschiedene Parteien wohnen. Sehr wenige Bewohner verfügen über enormes Vermögen und Einkommen, fast alle Anderen arbeiten fleißig und fördern das Vermögen der Superreichen. Ein paar dazwischen hoffen, dass sie im Windschatten des Dienstes an der Bereichungswirtschaft in ihren relativ guten Wohnungen bleiben können. Die Reichen kämpfen um ihr „Recht“ auf Bereicherung und die anderen ums Überleben oder versuchen, den Abstieg zu verhindern oder vielleicht doch zu den Gewinnern zu gehören.

Alle sind in diesen Kampf verstrickt. Und wegen dieses Kampfes haben viele lange übersehen, wie das Haus Risse bekam und nun einzustürzen droht. Als nun ein Teil der Bewohner fordert: Wir müssen dringend etwas tun, dass wir nicht alle unter dem einstürzenden Haus begraben werden, erwidert ein Teil der Superreichen: Ja, das muss gemacht werden, aber sicher nicht auf unsere Kosten. Und ein anderer Teil der Superreichen behauptet, es müsse gar nichts saniert werden, weil sie befürchten, infolge der Sanierung Abstriche in ihrem Lebenswandel machen zu müssen.

Und weil nun ein paar der Superreichen ebenfalls von der Haussanierung überzeugt sind, sagen „schlaue“, „klassenbewusste“ Menschen, daran sei erkennbar, dass die Sanierung nicht sein muss. Vom Standpunkt der Ausgebeuteten sei ganz klar, dass die Risse im Haus nur eine Fake-Meldung der reichen Hausparteien sind.

Diese „klassenbewussten Leute“ prüfen nicht wirklich nach, ob die Mauern des Hauses Risse aufweisen. Sie fragen nicht, ob das Haus in den zurückliegenden Jahrzehnten gepflegt wurde. Nein, sie sagen, vom Klassenstandpunkt aus sei klar, dass es keine Risse im Gebäude geben kann. Sie sagen das, obwohl auch den Angehörigen der so leidenschaftlich vertretenen Klasse das Haus mit Gewissheit auf den Kopf fällt, wenn es einstürzt.

Statt diesen Standpunkt einzunehmen, wäre es gut, die beiden Fragen miteinander zu verknüpfen:

Wenn wir zum Beispiel für ein ausnahmsloses Höchsteinkommen — welcher Art auch immer das Einkommen sein mag — kämpfen und dieses durchsetzen würden, dann wäre der Wucherwahnsinn des Systems heruntergefahren und zugleich die Verteilung neu geregelt.

So müssen wir die Fragen angehen! Auf dieser Ebene sollten wir weiter reden!


Quellen und Anmerkungen:

(1) Hasan Posdnjakow: https://deutsch.rt.com/meinung/95596-fridays-for-future-bewegung-von/?utm_source=browser&utm_medium=push_notifications&utm_campaign=push_notifications
(2) Lenin-Werke, Band 18 S. 576-579 zitiert nach „W.I. Lenin — Ausgewählte Werke“, Progress Verlag Moskau, 1970, S.13
(3) Karl Marx/Friedrich Engels: „Dialektik der Natur“, Dietz Verlag, Berlin, S. 450ff
(4) Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke, Progress Verlag, 1971, S. 45


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