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Vom Kampf um die Öffentlichkeit

Vom Kampf um die Öffentlichkeit

Ein Gespenst geht um in Deutschland: die Verschwörungstheorie.

„Was trieb Frau A.K. ins Stadtzentrum?“: Dieser Artikel, erschienen in der Wochenendausgabe der Leipziger Volkszeitung vom 24./25. Juni 1989, war eine Warnung an alle, die sich seit einigen Wochen jeden Montagabend an der Nikolaikirche trafen. Bleibt zu Hause, liebe Leute. Genießt die „Vorzüge“, „die unsere Gesellschaft den Bürgern und insbesondere den Familien zukommen lässt“. Hört auf, den „BRD-Ratgebern“ zu lauschen und „die öffentliche Ordnung zu stören“.

Diese „Frau A.K. aus Wurzen“, die Chefredakteur Rudi Röhrer da anspricht (allerdings im Schutz eines Pseudonyms), ist ein Kind der DDR. Drei Jahre Lehre im Wunschberuf, ein Jahr daheim nach der zweiten Geburt. Eine junge Frau, die allen Grund zu haben scheint, an so einem Montagabend „einen neuen Film“ zu sehen oder „in einer Eisbar den Feierabend zu genießen“. Und jetzt das. Eine „Unruhestifterin“, die sich „in voller Absicht über die bei uns gültigen Normen des Zusammenlebens und über Rechtsnormen“ hinwegsetzt und so zu einer Handlangerin wird — „von jenen Kräften in der BRD, die unsere sozialistische DDR von innen heraus“ so lange reformieren wollen, bis von ihr nichts mehr übrigbleibt. Lasst euch nicht täuschen, liebe Leserinnen und Leser.

Forderungen wie „mehr Meinungspluralismus, mehr Offenheit, mehr Erneuerung, mehr Reisen“ machen „aus Provokateuren keine Unschuldsengel“. Damit die Warnung auch wirklich ankommt, lässt der Chefredakteur „Leipziger Bürger“ nach „Ordnung, Ruhe und Sicherheit“ rufen. Tenor: Bietet diesem „Treiben“ endlich Einhalt, „ohne Ansehen der Person“.

Vermutlich ist das alles zu lange her und zudem in einem Landstrich passiert, der den Edelfedern in Hamburg oder München bis heute fremd geblieben ist. Gleich zehn Reporterinnen und Reporter (eine Frau und neun Männer) hat Der Spiegel aufgeboten, um über die Corona-Demonstrationen am zweiten Maiwochenende zu berichten. Drei Seiten unter der Überschrift „Wut und Wahnsinn“, dazu eine Fotostrecke mit dem Kommentar „Sie fühlen sich einzigartig, weil sie vermeintlich etwas erkannt haben, das die breite Masse übersieht“.

Das Wort „berichten“ trifft es dabei nicht ganz. Rudi Röhrer, der Mann, der einst gegen „Frau A.K. aus Wurzen“ hetzte, hätte das auch nicht für sich in Anspruch genommen. Die Unterzeile im Spiegel: „Verschwörungsideologen, extreme Rechte wie Linke nutzen die Unsicherheit der Bürger und vergiften die Debatte“.

Ganz so einfach kann man das Damals natürlich nicht mit dem Heute vergleichen. Das Westfernsehen sendet inzwischen landesweit. Und dass dort Meinungspluralismus gefordert oder gar gelebt wird, scheint auch schon eine Weile her zu sein. Damals wie heute geht es aber um Delegitimation und Eindämmung. Übersetzt: so wenig Menschen wie möglich auf der Straße. Und die, die trotzdem gehen, sollen selbst schuld sein an dem, was mit ihnen passiert. Der Spiegel schafft das, indem er sein Reporterteam Dinge zusammenbauen lässt, die nicht zusammengehören. Der Text beginnt mit Pegida und Lutz Bachmann (also mit dem Bösen schlechthin), schwenkt dann zu den Protesten gegen „Corona-Beschränkungen der Politik“ und rührt in diesem Topf schließlich alle zusammen, vor denen man sich zu fürchten hat: „Rechtsextremisten, Impfgegner, Antisemiten, Verschwörungsideologen, Linksradikale, Alt-Autonome und Esoteriker“. Huuuh.

Journalismus soll informieren. Journalismus soll Wählerinnen und Wählern erlauben, sich selbst eine Meinung zu bilden. Der Spiegel traut uns das nicht zu.

Auf genau acht Zeilen geht es um das, was Menschen in Berlin, Stuttgart, München auf die Straße getrieben hat. Der Job weg, das Restaurant zu, Probleme mit den Kids. Zusammengefasst:

„Sie halten die Einschränkungen für unverhältnismäßig, protestieren ‚gegen staatliche Willkür‘, für die ‚Wiederherstellung der Grundrechte‘ oder die Rettung des Stuttgarter Nachtlebens.“

Zweimal Anführungszeichen (Botschaft: von wegen Willkür, von wegen Einschränkung der Grundrechte) und zum Schluss der Schubs ins Lächerliche. Diese Rumtreiber und ihre Bars. Da hätte Rudi Röhrer von der Leipziger Volkszeitung noch etwas lernen können.

Wie man „gut“ und „böse“ auseinanderhält, wusste er sicher schon. Hier „zahlreiche führende Ärzte und Virologen wie Christian Drosten von der Charité“ (Zahlreich! Führend!) und eine Sozialpsychologin, „die zu Verschwörungserzählungen promoviert und darüber gerade ein Buch geschrieben hat“ (Wissenschaft!). Dort ein „Berliner Dramaturg und Journalist“, der „sich mit kapitalismuskritischen Theateraufführungen einen Namen gemacht“ und jetzt auch stadtbekannte NPD-Funktionäre anzieht, oder ein „pro-russischer Journalist“, der sich „ständig“ von RT Deutsch und Sputnik interviewen lässt („Kreml-Propagandisten“). Merke: Was diese Menschen sagen, ist völlig egal. Das Etikett hilft uns, das Angebot zu sortieren.

Das Konzept „Verschwörungstheorie“ kannten die DDR-Propagandisten so nicht. Es gab nur einen Gegner, und den konnte man genau wie seine Jünger leicht als „Klassenfeind“ abstempeln. Heute ist die Welt komplexer. Heute gibt es das Internet und mit ihm Plattformen, die das Deutungsmonopol der Herrschenden auf ganz andere Weise herausfordern als einst die Programme aus der Bundesrepublik, die sich ganz zwangsläufig mehr mit dem eigenen Land beschäftigt haben als mit dem schmuddeligen Nachbarn im Osten. Wer heute gegen „Verschwörungstheorien“ kämpft, kämpft um die Macht — um Definitionsmacht: Wer darf sagen, was wir „wissen“ und für richtig halten sollen?

Vor 30 Jahren war das keine Frage. Vor 30 Jahren durften nur wenige öffentlich sprechen. Was „da draußen“ passiert, wie wir beschreiben, was da gerade passiert, und wie wir uns folglich einrichten in dieser Welt: In der guten, alten Zeit war das Sache der Massenmedien und damit der Journalisten. Wer Zugang zum Fernsehen hatte oder zur Presse, der konnte beeinflussen, was als Realität durchging. Es gab nur diese eine. Es gab nur das, was in der Zeitung stand, und das, was über den Bildschirm lief. Das Wörtchen „und“ täuscht dabei noch. Meist stand das in der Zeitung, was vorher über den Bildschirm gelaufen war. Oder umgekehrt.

Der britische Medienforscher Nick Couldry (2012) nennt das den „Mythos vom mediatisierten Zentrum“. Eigentlich ist das ein doppelter Mythos. Punkt eins: die Behauptung, es gebe so etwas wie eine ‚Wahrheit‘ oder ein ‚natürliches Zentrum‘ der Werte und Lebensstile. Punkt zwei: Der Weg zu diesem Zentrum führt nur über die Medien. Der Kern unseres Lebens: Das ist das, worüber die Massenmedien angeblich berichten. Für Couldry ist dieser Mythos die Wurzel aller Medienwirkungen. Presse, Funk und Fernsehen definieren, was ist und was sein darf, und sorgen so dafür, dass die Realität der Massenmedien in Alltagshandeln und Weltanschauungen übernommen wird. Medien ordnen die Welt. Medien liefern die Kategorien, mit denen wir die Welt beschreiben. Politiker und Journalisten füttern den „Mythos vom mediatisierten Zentrum“, weil sie von ihm leben. Corona ist ein Festmahl. Ein Virus, das gefährlich ist, das unseren Alltag verändert. Wie genau, sagen uns die Nachrichten.

Und damit zum Wort Verschwörung, das im Spiegel gekoppelt wird mit den Begriffen Theorie, Portal, Ideologe, Erzählung, Mythos. Es ist das Wort zur Krise überhaupt. Zwanzigmal allein in diesem Artikel. Da bleibt kein Platz für Inhalte, Erklärungen oder gar eine Definition. Man erfährt nur (von der schon erwähnten Expertin), dass in der Welt der Verschwörer „böse Hintermänner Schuld an der Situation sind“ und (aus dem Mund eines Innenministers) dass diese Menschen glauben („bis weit in die Mitte der Gesellschaft“!), „die Pandemie“ sei „bewusst herbeigeführt“ worden, „um das Volk zu kontrollieren“ (von Bill Gates oder anderen „vermeintlich finsteren Mächten“).

Es kann gut sein, dass manche der Demonstranten das so sehen. Es kann gut sein, dass einige Bill Gates nicht nur „vermeintlich“ für eine „finstere Macht“ halten und der Politik nicht zutrauen, frei von Lobbyisten nur nach ihrem Gewissen und zum Wohle aller zu entscheiden. Gründe genug hätten solche Zweifler. NSU und NSA, Ramstein und die Drohnen, die Bankenrettung im Namen des Gemeinwohls. Nur so als Beispiele. Aber darum geht es an dieser Stelle nicht. Es geht um die Frage, warum Der Spiegel und mit ihm die anderen Leitmedien plötzlich überall Verschwörungen sehen. Nick Couldry würde sagen: Der „Mythos vom mediatisierten Zentrum“ wankt. Fake News, Hate Speech, Menschen mit „kruden Thesen“: Das gibt es alles, keine Frage. Vermutlich gibt es sogar Minister und Redakteure, die sich ernsthaft sorgen um ihre Schäfchen.

Zuallererst aber hilft das Schlagwort „Verschwörungstheorie“ denen, die an der Macht sind, und ihren traditionellen Sprachrohren. Das stimmt auch deshalb, weil dieses Schlagwort ablenkt von den Problemen, über die man eigentlich sprechen müsste. Über die Qualität des Journalismus in dieser Krise zum Beispiel (vgl. Meyen 2020) oder über all das, was sonst noch so auf den Transparenten steht. Das SED-Blatt Leipziger Volkszeitung hat im Sommer 1989 immerhin vier Punkte genannt, auf die „Frau A.K. aus Wurzen“ sich berufen konnte. Meinungspluralismus, Offenheit, Erneuerung, Reisen. Rudi Röhrer, der Chefredakteur, hat das zwar sofort in den Schmutz gezogen (Provokateur bleibt Provokateur), aber die geneigte Leserin konnte in sich gehen und das mit Babyjahr und Eisbar verrechnen.

Der Spiegel dagegen opfert eine seiner drei Seiten für die „drei Medien, die von Anfang an besonders aktiv über die ‚Hygienedemos‘ berichteten“: Rubikon („Querfront-Magazin“, „eine Art Hausmedium der Protestler“), RT Deutsch und Sputnik („deutschsprachigen Ableger eines staatlichen russischen Medienunternehmens“). Dazu kommen Links zu KenFM („Verschwörungsportal“, „Fake-News-Verbreiter“) und Weltnetz.tv („systematische Verbindungen zur Linkspartei“).

Was genau man auf all diesen Portalen findet oder wie die Kolleginnen und Kollegen dort arbeiten (wie überall: viele ausgezeichnet und manche nicht ganz so gut), ist dem Reporterkollektiv egal. Auf die Botschaft kommt es an: Geht nicht ins Stadtzentrum. Und vor allem: Hört nicht auf die Signale aus dem Netz.

Im Spiegel lässt sich der Dreiklang studieren, den die Rudi Röhrers der Gegenwart singen: Etikettierung von Personen (was schneller geht, als sich mit Inhalten zu beschäftigen), Kontaktschuld (Sie veröffentlichen auf einer Plattform, auf der auch jemand unterwegs ist, dem man irgendetwas anhängen kann oder will) und implizite Verknüpfung. Man schreibt über Rubikon oder KenFM und lässt nebenbei ein paar wirklich „krude Thesen“ fallen. Im Spiegel: 5G und eine „Biowaffe“. In der Süddeutschen Zeitung, für die Willi Winkler eine Seite 3 zu den Demos gefüllt hat: Angela Merkel als „natürliche Tochter Adolf Hitlers“ („Sie wurde, falls Sie‘s nicht wussten, mit dem vorsichtshalber tiefgefrorenen Sperma des 1945 tragisch hingeschiedenen Führers gezeugt“). Ja. Was will man da noch machen. Das ist wie bei „Frau A.K. aus Wurzen“, die einfach kein Eis essen wollte.

Der Stempel „Verschwörungstheorie“ ist ein Generalangriff der Herrschenden auf den öffentlichen Debattenraum. Über Verschwörungstheorien muss man nicht reden und mit ihren Anhängern auch nicht. Verschwörungstheorien sind, so sagt es Michael Butter, einer der Wissenschaftler im Streitwagen der Macht, „falsch“. Immer. „Noch nie“ habe sich „eine Verschwörungstheorie im Nachhinein als wahr herausgestellt“ (Butter 2018: 37). Dass das Unsinn ist, sollte jeder Forscher wissen. Ob etwas „wahr“ oder „falsch“ ist, zeigt die Empirie. Ich kann zwar das eine hoffen oder das andere, um aber sicher zu sein, muss ich ins Feld. Ich muss Pro und Contra abwägen, sachlich, ohne Emotionen und ohne jedem gleich jede Kompetenz abzusprechen, der die Welt anders sieht als ich.

Es gibt ein feines Kriterium, mit dem sich die Qualität von Journalismus einschätzen lässt: publizistische Vielfalt (vgl. Rager/Weber 1992). Dieses Kriterium wurzelt im Pluralismusmodell: In der Gesellschaft gibt es viele und zum Teil gegensätzliche Meinungen und Interessen, die prinzipiell gleichberechtigt sind (die Interessen von Einzelpersonen und Außenseitern genauso wie die Interessen, die in Parteien oder Verbänden organisiert sind). Feld der Verständigung ist die Öffentlichkeit, wobei ein Ausgleich nur möglich scheint, wenn die verschiedenen Interessen in den Leitmedien artikuliert werden können — ohne dass die (Ab-)Wertung gleich mitgeliefert wird wie in vielen der „Fakten-Checks“, die gerade wie Pilze aus dem Boden schießen.

Was macht Der Spiegel? Er denunziert die Nachfahren von „Frau A.K. aus Wurzen“ und ruft nach Zensur. „Personalnot“ bei Facebook, Twitter, Google. Man kommt dort mit dem Löschen einfach nicht mehr hinterher. Die „automatisierten Filter“? „Fehleranfällig“. Schlimmer noch: Die Verschwörer weichen aus auf „freiere“ Plattformen (tatsächlich in Anführungszeichen) wie Bitchute und Telegram, wo die „Verschwörungsideologen“ (leider, leider) immer noch „ungehindert“ schwadronieren können — „bis sie sich das nächste Mal auf den Straßen wiedersehen. Inmitten von ganz normalen Bürgern“.

Die Leipziger Volkszeitung von Rudi Röhrer wusste sich am Ende gar nicht mehr zu helfen (vgl. Reichert 2000: 108). Am 5. Oktober 1989 hat sie unter der Überschrift „Nicht nur zusehen“ einen Kampfgruppenkommandeur gegen „nichtgenehmigte Demonstrationen“ hetzen lassen und einen Tag später in einem „Leserbrief“ unverhohlen gedroht: „Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!“ Innenminister und Polizisten denken im Moment laut darüber nach, wie die nächsten Demos laufen könnten. Die Leipziger haben sich damals nicht abschrecken lassen.


Quellen und Anmerkungen:

Michael Butter: „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp 2018
Nick Couldry: Media, Society, World. Social Theory and Digital Media Practice. Cambridge: Polity Press 2012
Michael Meyen: Journalismus nach Corona. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2020. https://medienblog.hypotheses.org/9508
Günther Rager, Bernd Weber: Publizistische Vielfalt zwischen Markt und Politik. Eine Einführung. In: Günther Rager, Bernd Weber (Hrsg.): Publizistische Vielfalt zwischen Markt und Politik. Mehr Medien — mehr Inhalte? Düsseldorf: Econ 1992, S. 7-26
Steffen Reichert: Transformationsprozesse: Der Umbau der LVZ. Münster: Lit 2000


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