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Vom Sinn des Lebens

Vom Sinn des Lebens

Um wirklich zu leben, brauchen wir Mut.

Das Leben konfrontiert uns mit vielen Situationen, auf die wir allzugerne verzichten wollten. Das Missgeschick, wenn uns etwas entgleitet und nur noch Scherben übrig bleiben. Die Trennung von einer lieb gewordenen Situation, sei es durch Umzug, Kündigung, Scheidung oder Tod oder ein Unglück anderer Art. Die Trauer, die uns dann erfasst, will gelebt werden. Sonst umhüllt der Schmerz infolge des erhöhten Drucks unsere Seele.

Das Gefühlsleben ist einem See vergleichbar, den verschiedene Quellen speisen, kalte und warme, dessen Ufer im Schatten liegt und auch von der Sonne beschienen wird, der tiefe und flache Stellen aufweist. Der See hat mindestens einen Abfluss, vielleicht auch mehrere Stellen, an denen sein Wasser abfließen kann. Unser See ist ein in sich lebendiges und harmonisches Ganzes, eine Einheit voller Gegensätze, die alle dazu beitragen, dass der See genau das ist, was er ist.

Und der See steht zugleich in einem dynamischen Austausch mit seiner Umgebung. Alles das fügt sich zu einem Gesamtbild des Sees zusammen: zur Schönheit des Sees selbst und der ihn umgebenden Welt. Wenn jetzt Biber den Abfluss stauen, dann steigt der Wasserspiegel und damit der Druck auf das Flussbett des Sees.

Überträgt man das gedanklich auf das Seelenleben des Menschen, dann entsteht vor unserem inneren Auge die Idee, dass unsere Gefühle frei fließen wollen, und wenn ein Stau dies verhindert, steigt von innen her der Druck auf die Seele. Das Bild vom See für das Gefühlsleben habe ich aus der Trauerarbeit von Jorgos Canacakis.

Fataler Irrtum

Wenn wir die Dynamik des Seelenlebens und seinen Ausdruck durch einen solchen „Stau“ stören, dann tun wir das meist in bester Absicht. Möglicherweise wegen der unbewussten Idee, dies sei gut für uns. Wir wollen alles im Griff haben, wir wollen keine Fehler machen, wir wollen nach außen glücklich und unbelastet wirken...

Der Irrtum dieser Idee besteht aus vielen Elementen: Wenn wir möglichst unbelastet wirken wollen, dann sind wir nicht mehr wir selbst, sondern auf unsere Wirkung auf andere orientiert. Dadurch werden wir uns selbst zunehmend fremd.

Ein anderer Irrtum besteht darin, dass wir uns gegen bestimmte Erfahrungen und die damit verbundenen Gefühle wehren, weil wir meinen, dann mit dem Leben besser klar zu kommen. So kommt zum Schmerz trauriger Erfahrungen noch zusätzlich der Schmerz-Druck der Verdrängung hinzu.

Am Ende kann das dazu führen, dass der Schmerz der Verdrängung stärker wird als der Schmerz der Erfahrung. Unter dieser Last leben wir wie gelähmt und handeln schlimmstenfalls wie Schlafwandler, die sich darum bemühen, ihr selbst erbautes Kartenhaus zusammenzuhalten. Falls es nicht schon längst – von uns unbemerkt – zusammengefallen ist, reicht unsere Kraft vermutlich nicht mehr lange aus, um es zusammenzuhalten.

Nicht geweinte Tränen verhärten das Gesicht. Zensur unserer Seele erfasst unausweichlich den gesamten Körper und alle Lebensäußerungen.

Darum empfehlen nicht nur die Lehrer ostasiatischer Lebenskunst, auf den Fluss der Erlebnisse mit fruchtbarer Weichheit zu reagieren. Nur diese lässt die Dynamik des Lebens für uns erst möglich werden. So schrieb beispielsweise Laotse (6. oder 4. bis 3. Jhdt v. Chr.):

„Schmiegsam und geschmeidig ist der Mensch, wenn er geboren wird, starr, störrisch und steif, wenn er stirbt. Biegsam, weich und zart sind die Kräuter und die Bäume im Wachstum, dürr, hart und stark im Entwerden. Darum gehören Starre und Stärke dem Tode, Weichheit und Zartheit dem Leben.“

Herbert Grönemeyers Frau bat ihn gegen Ende ihres Lebens, vor ihrem Krebstod:

„Du wirst traurig sein, das bist Du ja jetzt schon. Ich bitte Dich dabei um eins: Lass Dich von dieser Trauer nicht lähmen.“

Zum weisen Hintergrund dieser Bitte zählt die Erkenntnis, dass wir nicht wissen können, ob Erlebnisse, die uns zunächst äußerst unangenehm erscheinen, uns zu Erfahrungen verhelfen, die uns im späteren Leben nutzen können und über die wir – nach gebührendem zeitlichem Abstand – möglicherweise sogar froh sind.

Unter diesem Aspekt gesehen kommt es vielleicht weniger auf unsere Lebensbedingungen und auf Lebenssituationen an, sondern mehr darauf, was wir damit und daraus machen. Dazu schrieb der französische Romanautor Jean Anouilh:

„Die Dinge sind nie so, wie sie sind. Sie sind immer das, was man aus ihnen macht.“

Zum Beispiel war meine Kindheit und Jugend von einer lebensbedrohlichen Herzkrankheit überschattet. Diese bittere Zeit schuf die Bedingung dafür, dass ich die Sterbebegleitung meiner ebenfalls an Krebs gestorbenen Frau so mit Leben füllen konnte, dass meine Frau und die gesamte Familie – letztlich auch ich – diese Zeit als große Unterstützung empfanden. Ich kannte alle zu dieser Ausnahmesituation gehörenden Gefühle, konnte Sicherheit ausstrahlen und hatte den Blick für das Wesentliche.

Als eine wesentliche Erkenntnis sehe ich, dass ich das Leben als Zusammenspiel von Schatten und Licht erfahre. Auf und Ab des Lebens folgen nicht wie auf der Achterbahn aufeinander, sondern geschehen oft gleichzeitig.

So wie der Schatten das Spiel des Lichtes mit den sichtbaren Dingen der Welt ist. Die Blitze am Tag und die Kälte in der Nacht, die Wärme des Sommers und die Stürme im Herbst, was auch immer geschieht, geschieht, damit ich das Unsichtbare – das Wesentliche – sehe. Die Liebe zu mir als beseeltes und beherztes Wesen, die Begegnung mit den Menschen an meiner Seite und die Offenheit für alles, was kommt, das ermöglicht „richtiges“ Leben.

Denn wofür ein Ereignis gut ist, erfahre ich in der Regel nicht in dessen Moment, sondern oft erst viel, viel später. Diese Erfahrung hat mich veranlasst, den Augenblick möglichst nicht mehr zu bewerten, sondern ihn „nur“ wahrzunehmen und die Erfahrung in das unbekannte Neuland der Zukunft mitzunehmen. Woher soll ich wissen, welche Bedeutung einzelne Ereignisse für mein späteres Leben haben werden?

So wächst in mir das Vertrauen in den Prozess, und stärkt Leib und Seele. Möglicherweise irre ich mich bei dieser Einstellung. Doch bestärken mich darin buddhistische Lehrer, westliche Philosophen blenden diese Sicht auf die Welt häufig aus. Aber ein intelligentes Wesen zu sein, bedeutet für mich auch gleichzeitig offen und aufgeschlossen zu sein für die Botschaften der Welt. Nicht nur an meine Seele, sondern auch an die aller Menschen.

Mit dem beschriebenen Blickwinkel sehe ich tiefer in mich und in die Welt hinein. Mein Horizont weitet sich. Meine Kraft zur Beharrlichkeit wächst und die Empfänglichkeit für Schönheit, meine Fähigkeit, zu trauern, mich über mich selbst zu wundern sowie mein Humor. Ich kann schier Unaushaltbares anders betrachten, als der erste Augenschein es will.

Es wächst die Freude am Du, die Haltung, nichts von anderen zu verlangen, die Dinge anders sehen als ich. All das führt dazu, dass ich selbst in einem Moment, in dem ich einen Rückschlag erlebe, der sich wie ein Schlag anfühlt, weitergehe. Sogar dann tue ich, was mir wichtig und richtig erscheint, ohne von anderen zu verlangen, dass sie mit den Erfahrungen ähnlich umgehen.

Ohne Scheuklappen

So mancher hält mich für verrückt, wenn ich nicht einmal ausschließe, dass der nichtmaterielle Bestandteil des Körpers, der Seele genannt wird, den eigenen Tod überlebt. Wer kann sich da so sicher sein? Wenn man das Weiterleben der Seele nicht ausschließen kann, dann nimmt sie vielleicht meine (ihre) jetztigen Erfahrungen in ein späteres Leben als Schatz mit. Im Idealfall kann sie diesen dann dafür nutzen, dass die Welt und alles Leben gesundet.

Was ich nicht ausschließen kann, halte ich für möglich und das wirkt sich auf mein Leben aus: Dann erlebe ich das Leben in der Tiefe, ich nehme alles in vollen Zügen und mit allen Sinnen auf – ohne Scheuklappen. Ich lasse mich von keiner Erfahrung lähmen, sodass ich ganz der Mensch sein kann, der ich bin. Ich habe mich von Bewertungen verabschiedet, urteile nicht, ob etwas, das ich erlebe, für mich falsch oder gut ist. Stattdessen bereichern die Erfahrungen den großen Schatz meiner Seele. Nur so komme ich immer mehr bei mir zuhause an und kann dann über mich selbst hinaus wachsen.

Wir Menschen sind alle wichtig für das Leben. Ich bin genauso wichtig wie Du. Keiner ist wichtiger als jemand anderes. So brauchen wir uns nicht darauf festzulegen, was der Sinn des Lebens ist, sondern können uns und damit die Welt heilen.

Bei meinen Taten orientiere ich mich nicht an ihrem Erfolg in der Gesellschaft oder an der voraussichtlichen Anerkennung anderer. Stattdessen überlege ich, was mir sinnvoll scheint und entscheide mich im Einklang mit meinem Gewissen.

Das ist dann vielleicht der Sinn des Lebens... Wer weiß.


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