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Waldeinsamkeit

Waldeinsamkeit

Wenn Kinder im Wald Frieden üben, feiert die Wirklichkeit Auferstehung.

Als ich in dieser schweren Zeit in den Wald ging, meine Seele zu verlaufen, wie ich es oft tat, sah ich abseits des Weges im Dickicht der Bäume Gestalten huschen. Naturgemäß weckte das meine Neugierde und ich ging vom Wege ab, um mich auf einem schmalen Pfad zwischen Farnkraut und Wurzeln den Gestalten zu nähern. Zunächst schien es, sie trügen eine Art Uniform, was in mir ein ungutes Gefühl erzeugte, musste ich doch unweigerlich an Kriegstüchtigkeit und dergleichen denken. Allerdings waren die Gestalten eher klein und die Uniform, die sie in der Tat trugen, bestand aus Blättern und nichts weiter, wie ich, hinter einem Baumstamm versteckt, erkennen konnte.

Die Gestalten hatten sich an einer Stelle, an der die Bäume etwas weiter standen, in einem Kreis versammelt. Es waren halbwüchsige Knaben und Mädchen, offenbar ohne Anleitung irgendeines Erwachsenen. Sie schrien nicht, sie waren vielmehr gänzlich still und ich fragte mich, zu welchem Zweck sich die Kinder eingefunden hatten, erst noch mit diesem Blätterwerk als Kleidung.

Irgendwann, die Stellung hinter dem Baum drohte bald schmerzhaft zu werden, sprach eine helle Stimme sanft: „Komm hervor, wir haben dich längst gehört. Deinen Atem und deine Rätsel im Kopf.“ Zögerlich löste ich mich vom Baume ab und trat verwundert in den Kreis ein. Die Blicke der Kinder waren freundlich, wenngleich ernst und würdevoll.

Eine Ahnung überkam mich, die Kinder hätten etwas erkannt, was nur wenige Menschen erkennen können, und diese Erkenntnis gäbe ihnen ein Urvertrauen. Natürlich, dieser Gedanke war gewissermaßen grotesk, wusste ich doch nichts über sie und den Zweck ihres Beisammenseins. Und doch spürte ich in mir eine Kraft, die gleichsam aus den Kindern in mich hineinzuströmen schien. Es ging mir plötzlich gut.

Endlich fand ich zur Sprache, allerdings nicht bedenkenlos, denn wer wäre sich der zerstörerischen Wirkung, die Worte haben können, nicht bewusst. Und ich fragte so knapp und naiv wie möglich: „Wer seid ihr? Und was macht ihr hier?“

Ein Mädchen aber tat daraufhin einen Schritt aus dem Kreise vor und sagte: „Wir sind die letzten Kinder. Wir üben den Frieden.“

„Die letzten Kinder...? Den Frieden...?“, entgegnete ich erstaunt. „Was muss man da üben?“

„Alles“, antwortete nun ein blonder Knabe, sich ebenfalls aus dem Kreise lösend. Ein weiteres Mädchen aber sprach: „Wir üben das Hässliche und das Schöne, wir üben das Sterben und das Leben. Wenn wir alles können, können wir auch Frieden. Verstehst du?“

„Muss man Frieden denn können?“, hörte ich mich erstaunt weiter fragen. „Trägt man den nicht einfach im Herzen?“

Die Kinder schauten einander an. Sie schienen erstaunt und ich fürchtete schon, sie seien enttäuscht von meiner Frage. Das Mädchen aber, das zuerst gesprochen hatte, antwortete endlich: „Nein, den trägt man nicht einfach. Früher einmal, vielleicht, vor sehr langer Zeit. Jetzt aber muss man Frieden üben, um ihn zu können. Wenn man ihn nicht kann, bleibt nur der Krieg.“

„Komm“, so sagte ein anderer Knabe, mich bei der Hand nehmend, „wir erklären dir ein paar Übungen, damit du verstehst, was vor sich geht.“

„Schmeiß den Stein nicht. Auch nicht bei Wut und Schmerz. Auch nicht aus Angst und nicht aus Langeweile. Das ist eine erste Übung. Eine einfache. Aber auch die ist nicht einfach. Denn du sollst den Stein durchaus schmeißen. Du musst ihn sogar schmeißen. Den Stein in dir. Und auffangen musst du ihn ebenso. In dir. Und dann baue ganze Maschinen aus Steinen in dir. Und schieße mit ihnen los. Gegen alle Steine und Maschinen, die du gebaut hast. Spür dann den großen Atem nach der Zerstörung der Zerstörung. Erkenne, dass du nicht zerstört hast, sondern Raum geschaffen. So gehen erste Übungen.“

Ein Mädchen übernahm das Wort, nachdem sie mir, wie mir schien, eine Weile der Stille gegeben hatte, um die erste Übung zu begreifen. Sie sprach: „Danach werden die Übungen schwieriger. Nimm das Tempo weg. Das ist eine tägliche Übung, die gar nicht einfach ist. Dafür rennen wir. Wir rennen, bis das Rennen kein Tempo mehr ist, sondern ein Sein. Bis es kein Ziel mehr hat und nichts bezweckt. Wenn wir das Tempo nicht wegbekommen, ist Krieg, verstehst du?“ Sie schaute mich lange an, ihre Augen wurden traurig und sie wiederholte leise: „Bekommen wir es nicht weg, ist Krieg in allem.“

Nun trat ein groß gewachsener Knabe aus dem Kreis und erklärte die nächste Übung: „Nimm das Geld weg, sonst ist Krieg. So heißt die Übung. Immer, wenn du Geld verlangst und es begehrst, bist du weder in dir noch im Andern. Stattdessen werden alle Untertan. Herrschaft beginnt. Wenn du für den Frieden Geld verlangst, hört er auf, Frieden zu sein. In jedem Geld ist Krieg drin. Deshalb üben wir das Leben ohne Geld.“

„Die anspruchsvollste Friedensübung aber“, so sprach nun eine weiteres Mädchen aus dem Kreis der elfenhaften Gestalten, „ist das Sichverlieren und Finden im Anderen. Auch diese Übung hat eine paradoxe Anordnung, indem das Verlieren und Finden einzig aus dem absoluten Beisichsein aufstarten kann. Wir üben also zuerst das Beisichsein ohne alles Weitere. Jede Meldung, jeder Versuch der Welt, einzudringen, wird unterbunden. Dieses Beisichsein schließt alles aus. Auch sich selbst schließt es aus. Das absolute Beisichsein löst das Beisichsein als solches auf und endet in einem Sein, dessen Bewusstsein nicht mehr in dir ist, sondern außerhalb, verstehst du?“

Ich schwieg zunächst, denn es galt ja nicht nur diese dialektischen Botschaften zu begreifen, vielmehr musste ich mich überhaupt daran gewöhnen, dass Kinder so philosophisch sprachen. Die Kinder, die ich aus dem Gymnasium hervortreten sah, allesamt auf ihre Endgeräte starrend, wenn ich aus irgendeinem Grund meine Tochter an der Schule abzuholen hatte, sprachen jedenfalls eine andere Sprache. Endlich bestätigte ich: „Ja, ich glaube, ich verstehe es.“ Das Mädchen aber ergänzte: „Im Grunde ist es immer dieselbe Übung. Der Stein, das Tempo, das Geld: alles richtet sich auf das Eine und das Andere und die Auflösung des Einen im Andern. Wenn du diese Erkenntnis in dir wecken kannst, ist die Angst weg. Sogar die Angst vor der Angst. Dann ist Frieden. Du bis das Andere und das Andere du, die Pronomen enden, das Fest beginnt, die Waldeinsamkeit.“

„Waldeinsamkeit...? Das klingt ja fast nach Romantik, dem radikalsten Denken, das Europa je gesehen hat“, warf ich, mehr zu mir als zu den Kindern gesprochen, ein, um sodann anzufügen: „Eine Frage aber erlaubt mir noch: Wo sind eure Eltern?“

Die Kinder sahen sich an, als würden sie nicht verstehen, wie man so fragen könne. Und es dauerte eine ganze Weile, bis ein Mädchen sagte: „Sie sind im Krieg gestorben.“ Tatsächlich, die Frage war naiv. Die Frage eines Europäers eben. Mich plötzlich meiner weit zurück liegenden arabischen Abstammung erinnernd, fiel mir die angemessene Frage aber doch noch ein: „Wie habt ihr überlebt?“

Wieder schauten sich die Kinder an. Diesmal allerdings so, als ob sie es sich überlegen müssten, mir ein Geheimnis zu verraten. Nachdem sich allem Anschein nach ein Einverständnis ergeben hatte, wandte sich der blonde Knabe an mich und sprach: „Indem wir gestorben sind. So haben wir überlebt.“

„Ihr seid tot..?“Ich konnte es nicht begreifen. Der Knabe aber lächelte und sprach: „Wir sind abgefallen und aufgebrochen. In die Wälder der Welt, verstehst du. In den Wäldern sind wir unentdeckt. Wir leben von Blättern und üben den Frieden, so ist das. Doch wir wussten, dass du kommst. Auf dich haben wir gewartet. Und morgen wird ein anderer hinter dem Baum hervortreten, und übermorgen wieder einer. Wir dagegen haben keine Zeit, selbst wenn wir rennen. Wir üben nur...“

Als ich mich zwischen Farnkraut und Wurzeln wiederfand, waren die elfenartigen Geschöpfe verschwunden. Stattdessen saß ein alter dürrer Mann wenige Meter von mir entfernt im Moos. Er hatte ein scharf geschnittenes, orientalisches Gesicht und es war mir nicht klar, lachte oder weinte er. Zu meinem Erstaunen — ich sehe allerdings nur mit einem Auge, das soll angefügt sein — trug er keine Kleider und sein Körper verflüchtigte sich fortwährend. Aus der Ferne hörte man Detonationen wie von Bombeneinschlägen. Dabei hatte ich zunächst geglaubt, die Holzfäller aus dem Wald meiner Kindheit hätten mich mit ihren Motorsägen geweckt. Der alte Mann aus dem Orient, der im Moos saß und dessen spärlicher Körper sich immerzu auflöste, um wieder Gestalt anzunehmen, erkannte meine Angst. Er sagte in gebrochenem Deutsch: „Lass dich nicht schrecken von diesem Lärm. So klingt es bei uns seit Jahrhunderten. Tag für Tag. Den Ausflug der toten Kinder aber können die Bomben nicht verhindern. Einmal aber werden die Kinder nach Hause finden. Dieser Tag wird kommen und die Detonationen werden enden und die Menschen zu ihren siderischen Stimmen zurückfinden. “

In diesem Augenblick fiel alles ab von mir und ich wusste, ich war bereit. Bereit zu sterben und zu leben, ohne Angst und Zweck. Und ich spürte eine Kraft in mir, die Welt zu ändern, ein Kraft und ein Urvertrauen mich unter alle Drohnen zu stellen und unter die Atompilze und alles für ungültig zu erklären mit einem einzigen Zeichen der Hand.

Als ich aus dem Wald hinaus ins offene Feld trat, trat vom entgegengesetzten Waldrand ein anderer ebenso aufs Feld hinaus, und als ich sein Auge sah, wusste ich: Er hatte die Kinder getroffen und den alten Mann. Auch er wird sich furchtlos unter die Bomben stellen und die Arme gegen den Himmel richten und die Gültigkeiten streichen. Und dann standen plötzlich ganze viele auf dem Feld, Tausende, Millionen, in den Bergen und den Wüsten und den Prärien und auf den Gewässern. Sie standen mit den Händen zum Himmel und die Drohnen über ihnen und die Raketen und selbst die Atombomben kamen zum Stillstand und verloren alle Kraft. Das Fest begann. Die Waldeinsamkeit.

Als ich zuhause ankam, es war später Nachmittag, warf ich routinemäßig einen Blick in den Briefkasten. Tatsächlich lag ein Flyer drin. Verfasst von einer örtlichen Friedensgruppe. Darauf stand:

„Gerade wir, die den Frieden suchen und die Kraft haben, den Haltungen und Verlautbarungen unserer Regierung zu widerstehen, müssen sorgsam darauf achten, dass Frieden keine Schablone wird, kein Markenzeichen, kein Businessmodell, denn von uns allein hängt es ab, dass das, was Frieden ist, nicht auch als Idee schwindet, auf dass es kein Erinnern mehr gibt.“

Spätabends, wie ich dem Bette zustieg, ließ ich den Waldspaziergang noch einmal im Kopfe geschehen. Die elfenartigen Kinder in Blättern gekleidet — ich wollte es mir nicht eingestehen — waren wohl eine Vision. Und als ich erwacht war, den alten dürren Mann aus dem Orient im Moos erblickend, so war dies ein Erwachen im Traum. Ich musste eingeschlafen sein. Auch die Tausenden und Millionen mit erhobenen Händen blieben ein Geschehen in mir drin. Aber eines war ich mir gewiss: Auf das Feld tretend kam mir aus dem gegenüberliegenden Wald eine Gestalt entgegen und streckte die Hände zum Himmel. Im Grunde reicht das. Für unendlich viele Träume und für eine Wirklichkeit.


Redaktionelle Anmerkung: Der Text ist in gekürzter Fassung in „Endlich Frieden. 100 Persönlichkeiten zeigen Zivilcourage“, herausgegeben von Olaf Kretschmann, enthalten. Darin sind als Autoren viele bekannte Namen der deutschsprachigen Dissidenz versammelt. Neben politischen und weltanschaulichen Statements findet sich auch Literarisches, etwa von Dirk C. Fleck. Menschen, die das Mehrdeutige lieben, seien die ebenso enthaltenen vielschichtigen Texte von Lisa Marie Binder und Thomas Eblen empfohlen.


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