Manche Menschen haben sich innerhalb dieser verstörenden Krise ihre Stabilität und ihre innere Präsenz bewahrt. Sie sind willens und bereit, neben der Bewältigung ihrer eigenen Aufgaben ihre Nächsten durch das entstandene Chaos zu begleiten.
Wir werden bald viele solcher hilfreichen Seelen benötigen, die das Ausmaß dieser Katastrophe mit zuversichtlicher Haltung, klugen Gedanken, fühlenden Herzen, heilsamen Worten und tatkräftigen Händen auffangen, abmildern und umwandeln.
Denn ein großer — wenn nicht der größte — Anteil dieser Katastrophe ist, dass sich die Menschen erbittert bekämpfen.
Das ist erst durch Beschäftigung mit der Trauma-Psychologie zu verstehen, die zwischen naturgegebenen und menschengemachten Katastrophen unterscheidet. Sie beschreibt das erstaunliche Phänomen, dass sich innerhalb von naturgegebenen Katastrophen die Menschen sogleich zusammenfinden, sich solidarisieren, einander helfen und bereit sind, einen hohen eigenen Einsatz für das Allgemeinwohl zu leisten. Eine Naturkatastrophe setzt aus der Erschütterung heraus die kraftvollsten sozialen Fähigkeiten frei, die uns Menschen zu eigen sind.
Eine menschengemachte Katastrophe hat die gegenteiligen Auswirkungen: Die Menschen entsolidarisieren sich, sie werden misstrauisch und missgünstig, verraten einander, bekämpfen sich und sind eher auf das eigene Wohl als auf das der Gemeinschaft bedacht.
Bei einer menschengemachten Katastrophe kommen tiefsitzende Ängste und die dunklen, unerlösten Seiten der Psyche an die Oberfläche.
Eine Naturkatastrophe war beispielsweise das Münsterländer Schneechaos im November 2005, das viele Tage anhielt. Ausgelöst wurde sie durch extreme Schneefälle — 50 cm innerhalb von Stunden — und ein zusätzliches Sturmtief. Der nasse, schwere Schnee lastete auf den Überlandleitungen und der Sturm vereiste ihn zu zentimeterdicken Schichten, die durch ihr Gewicht die Hochspannungsmasten wie Streichhölzer knicken und zusammenbrechen ließen. Der Stromausfall betraf 250.000 Menschen bei eisigen Temperaturen in hauptsächlich ländlichen Gebieten — der Katastrophenfall wurde ausgerufen.
Die Menschen fanden sofort zusammen und halfen, wo sie konnten. Die Landwirte, die einen Generator besaßen, fuhren von Hof zu Hof, um die Melkmaschinen in Betrieb zu setzen. Die Familien, die einen Gasherd hatten, kochten Suppen und Eintöpfe für die Nachbarschaft. Die Haushalte mit holzbeheizten Kachelöfen luden ihre Mitmenschen ein, sich bei ihnen zu wärmen. Gerne auch bei Schnaps und Klönschnack.
Alle taten, was sie konnten — dabei wuchsen sie über sich selbst hinaus und mit den anderen zusammen. Die lichtvolle Seite der Menschlichkeit strahlte auf.
Die gegenteiligen Auswirkungen sehen wir in der aktuellen Katastrophe. Die Menschen — ja, die ganze Gesellschaft — ist entzweit wie nie zuvor. Fronten haben sich gebildet, politische Lager bekämpfen sich, Freundschaften und Familien brechen auseinander. Die jeweils Andersdenkenden werden diffamiert, verunglimpft und ausgegrenzt. Der Denunziant ist in Windeseile wieder auferstanden.
Viele Menschen agieren ihre Ängste wie zwanghaft am Gegenüber aus und ihre dunklen Seiten steigen vom Verborgenen auf, werden sicht- und erlebbar. So zeigt unsere Gesellschaft in einem erschreckenden Ausmaß ihre antisozialen Seiten.
Die eigentliche Katastrophe
Wie konnte das geschehen? Wie konnte das geschehen, was nun die eigentliche Katastrophe ist?
Wie konnte es zum Verlust von Menschlichkeit, von Empathie und Solidarität kommen? Schließlich gehören diese zu den angeborenen Fähigkeiten eines jeden Menschen. Und nur, wenn dramatische Ereignisse auf uns einwirken — deren Ausmaß uns überwältigt und damit traumatisiert — können pathologische Formen der Angst, der Kontrolle und der Macht an ihre Stelle treten.
Die Auswirkung der jetzigen Katastrophe ist darin zu sehen, dass sie die Gesellschaft in weiten Bereichen traumatisiert und spaltet. Sie löst nicht nur bei den direkt vom Virus betroffenen Menschen große Ängste aus, sondern ebenso bei den von den politischen Maßnahmen Betroffenen. So dreht sich unser Gesellschaft in einer anhaltenden Angstspirale und manifestiert fortwährend ihr Trauma.
Ausweg aus der Angstspirale
Wie können wir nun mithelfen, die Angstspirale zu unterbrechen und diese Menschheitskatastrophe langfristig wieder in Mitmenschlichkeit zu wandeln? Wie können wir Empathie und Solidarität erneut zum Leben erwecken? Wie können wir dem Andersdenkenden die Hand reichen und seine Ängste mildern?
Diese Frage stellen sich viele besonnene Menschen, die während — und vor allem nach — dieser Katastrophe helfen und heilen wollen, sei es als Freund oder als Therapeut. Die verängstigten, geschockten und erkrankten Mitmenschen — und wieder besonders die Kinder — sind auf unser beherztes und mitfühlendes Handeln angewiesen.
Die Folge eines Traumas ist stets, dass die Wahrnehmung eingeschränkt und vom Denken abgespalten ist. Wenn wir uns die Wahrnehmung also schrittweise zurück erobern und erneut mit dem — dann klareren — Denken verbinden, können wir allmählich die krankmachenden Ängste hinter uns lassen und wieder in das reale Leben zurückkehren.
Der erste Schritt in eine Veränderung ist, zunächst die eigenen Ängste und die Schattenseiten ihres Ausagierens wahrzunehmen und kennenzulernen, um anschließend auch unsere Nächsten in ihren individuellen Ängsten begleiten zu können.
Diese speziellen Ängste kennen und verstehen zu lernen, bedeutet gleichzeitig, der Menschlichkeit und Empathie wieder neue und erweiterte Räume zu verschaffen.
Zu den durch die Corona-Krise ausgelösten Ängsten hat Dr. Daniele Ganser im Vortrag „Corona und die Angst“ referiert. Er nennt drei Ängste, die sehr unterschiedlich — fast konträr — sind und dennoch einen gemeinsamen Nenner haben:
- Die Angst vor Viren,
- die Angst vor Diktatur,
- die Angst vor Armut.
Durch intensive Arbeit mit diesen Ängsten und zusätzliche Erkenntnisse möchte ich noch zwei weitere ergänzen:
- Die Angst vor Ausgrenzung,
- die Angst vor Täuschung.
Bei näherer Prüfung seiner Stimmungslage findet jeder Mensch seine eigene, corona-bezogene Angst, die dann auch seine Einstellung prägt. Die jeweils individuelle Form der Angst entsteht durch (frühe und frühere) Erfahrungen und die soziale Prägung. Die zu seiner Biographie passende Angst erscheint ihm deshalb auch so „vertraut“ und gibt ihm das Gefühl, sie sei „logisch“ und „richtig“. Allein diese Annahme lässt ihn seine eigene Position verteidigen und die der Anderen bekämpfen.
Doch gibt es weder eine „richtige“ noch eine „falsche“ Angst.
Angst entsteht dann, wenn unser physisch-psychisches System samt unserer Sinne überfordert oder überfrachtet ist und wir (scheinbar) den Bereich des Bewältigbaren verlassen.
Dann ist unser Körper hochgradig erregt und wird von Stresshormonen geflutet. Wir schalten blitzschnell in den „Überlebensmodus“ und unser Instinkt will nur noch kämpfen, flüchten oder erstarren. Es geht — vollkommen reflexhaft — ums reine Überleben. Diese Vorgänge werden allein vom Stammhirn gesteuert und entziehen sich gänzlich dem logischen Denken.
Es ist zwar ein Unterschied, ob mir aktuell eine (tatsächliche) Gefahr, zum Beispiel ein Erdbeben, droht oder ob mich ein Trigger, wie das Rumpeln einer Straßenbahn, an diese bereits erlebte Gefahr erinnert. Außenstehende können beide Geräusche unterscheiden, die Betroffenen jedoch erleben das Getriggerte als genau so bedrohlich wie die Ursprungssituation. Und weil sich auch in den Momenten der „erinnerten“ Ängste das Großhirn abschaltet, ist es vollkommen wirkungslos, dem Ängstlichen zu erklären, dass ihm doch keine Gefahr drohe. Das kann er einfach nicht verstehen, weil er gerade nicht denken kann.
Es ist also kaum zielführend, dem Gegenüber zu erklären, dass seine Angst ungerechtfertigt ist. Diese Botschaft kann wegen der panikbedingten Denkblockade nicht bis zu seinem wirklichen Begreifen vordringen und — falls doch — wird er sie sogleich instinkthaft ablehnen, weil die eigene Angst doch „richtig“ ist.
Deshalb brauchen wir andere Wege, um uns und unsere Mitmenschen längerfristig bei der Abmilderung der Ängste oder sogar beim Angstabbau zu unterstützen. Dazu ist es hilfreich, die fünf auf die Corona-Krise bezogenen Ängste näher zu betrachten. Denn diese zu verstehen, ermöglicht uns eine erweitere Sichtweise und Empathie.
Die Angst vor Viren
Diese Angst erscheint den meisten Menschen zwingend „logisch“, denn es gibt in der öffentlichen Wahrnehmung fast kein anderes Thema mehr als die todbringende Gefährlichkeit des Sars-Cov-2-Virus. Tagtäglich werden vielfach die entsprechenden Fallzahlen, Berichte und Bilder aus den Intensivstationen an sie herangetragen und untermauern so unentwegt die große Gefahr.
Menschen mit der Angst vor dem Virus sind daher sehr besorgt, wollen sich und ihre Nächsten „um jeden Preis“ schützen und reagieren extrem beunruhigt oder aggressiv, wenn andere „fahrlässig“ mit den verordneten Maßnahmen umgehen.
Die Angst vor Diktatur
Unter dieser Angst leiden diejenigen Menschen, die sehen, wie die aktuelle Regierung zugunsten eines erweiterten Infektionsschutzgesetzes und unter Umgehung des Parlamentes unser Grundgesetz außer Kraft setzt und die verbrieften Menschenrechte übergeht. Sie sehen „1984“ in großen Schritten näher kommen und die bedrohliche Parallele zur DDR und zu China.
Menschen mit der Angst vor einer (Gesundheits-)Diktatur fürchten nicht nur den Zusammenbruch der Demokratie und den Entzug der Freiheit, sondern auch einen Impfzwang, den Politiker inzwischen — trotz stetiger Verneinung — immer häufiger einfordern und der in manchen Ländern sogar schon umgesetzt wird.
Die Angst vor Armut
Diese Angst hat diejenigen Menschen fest im Griff, die durch die Maßnahmen der Regierung an ihre existenziellen Grenzen kommen. Sie betrifft diejenigen, die ihre Geschäfte — trotz eingehaltener Hygienekonzepte — schließen müssen, die ihre Rücklagen aufgebraucht oder ihre Arbeit verloren haben. Die seit Monaten vergeblich auf finanzielle Hilfen warten und — mitten in Deutschland — nicht wissen, wie sie sich morgen selbst und ihre Kinder ernähren sollen.
Menschen mit der Angst vor künftiger Armut und solche, die bereits in Armut leben, sind verzweifelt oder depressiv. Von ihnen haben sich etliche das Leben genommen und in den letzten Monaten weltweit die Suizidrate in erschreckende Höhen getrieben.
Die Angst vor Ausgrenzung
Unter dieser Angst leiden all die Menschen, die die Spaltung der Gesellschaft ganz bewusst wahrnehmen. Die sehen, wie Andersdenkende diffamiert und ruiniert werden, wie sie mit Berufsverbot belegt, suspendiert oder verhaftet werden, wenn sie auf die Folgen der derzeitigen Politik hinweisen. Die aber auch heftigst angegriffen werden — wieder die Kinder voran — wenn sie aus gesundheitlichen Gründen keine Masken tragen können.
Die Angst vor Ausgrenzung lässt die Menschen verstummen, weil sie sich weitere solcher Erlebnisse ersparen wollen. Gleichzeitig leiden sie enorm — und wieder insbesondere die Kinder — unter dem gesellschaftlichen Druck und der Atemnot unter den Masken.
Die Angst vor Täuschung
Hierzu gehört sowohl die Angst, sich selbst getäuscht zu haben, als auch die Angst, von der Regierung oder anderen für die derzeitige Lage Verantwortlichen getäuscht worden zu sein. Beide Formen wiegen schwer, weil die derart Verängstigten erstens das eigene Selbstbild in Frage stellen und sich zweitens ihren eigenen Irrtum eingestehen müssten, auf dem ihr bisheriges Weltbild beruht. Schwere und schwerste Erschütterungen wären die Folge.
Deshalb ist es eine bewährte — nicht unbedingt sinnvolle — Strategie zur Eindämmung dieser Angst, „eisern“ an den gewohnten Meinungen und Haltungen festzuhalten und die Augen vor dem zu verschließen, was zusätzlich zum Bisherigen sichtbar und erfahrbar ist. Heilsam ist dagegen die Ent-Täuschung, also die Täuschung in einem — allerdings schmerzhaften — Erkenntnisprozess hinter sich zu lassen.
Nun kann jeder schon selbst beobachten, welche Wirkung allein das Lesen der vorherigen Textpassage über die Angst auf ihn ausübt. Wenn jemand bei einer der Schilderungen „zusammenzuckt“ und von einer der Aussagen „getriggert“ wird, geschieht dies ganz sicher bei der Beschreibung einer Angstform, der der eigenen — als „richtig“ wahrgenommenen — Angst konträr gegenübersteht. Ebenso kann beim Lesen einer bestimmten Angstform ein Entspannungsmoment des Sich-verstanden-fühlens eintreten.
Wie heftig wirkt dann erst das unerwartete Aufeinandertreffen zweier Menschen mit unterschiedlichen Angststrukturen im Supermarkt, wenn ein Maskenträger einem Unmaskierten begegnet? Oder wie beruhigend ist es, wenn sich zwei Gleichgesinnte begegnen und durchatmen können, weil sie sich in der Gegenwart des anderen sicher und verstanden fühlen?
Enorm hohe Spannungen
Damit nähern wir uns erneut der Frage, warum sich die Menschen aus den verschiedenen „Lagern“ — zum Beispiel die Maßnahmenbefürworter und die Maßnahmenkritiker — derart bekämpfen. Die Antwort lautet: Sie alle haben fürchterliche Angst. Auch wenn sie den Meisten vermutlich noch unbewusst ist, stellt diese Angst sie dennoch unter eine derart hohe Anspannung, dass sie schnell „die Nerven verlieren“.
Woher diese enorme Spannung rührt, verstehen wir, wenn wir nun auf die Gemeinsamkeiten schauen, die die fünf Ängste miteinander verbinden.
Bei allen diesen Ängsten geht es um das Ausgeliefertsein, um Kontrollverlust und Ohnmacht — in der letzten Konsequenz um den Tod.
Die Menschen mit den genannten Ängsten fühlen sich der Corona-Krise hilflos ausgeliefert. Ihr bisheriger Alltag, ihr bisheriges Verständnis der Welt, ihre bisherigen Sicherheiten sind ins Wanken geraten — sie verlieren den Boden unter den Füßen und fürchten, in einen Abgrund gerissen zu werden. Dieses katastrophale Erleben hebelt die „Mechanismen“ aus, mit denen die Menschen bisher ihr Leben stabilisierten. Das kommt einem inneren Zusammenbruch gleich, den sie nicht mehr kontrollieren können: Die vom Stammhirn gesteuerten Instinkte fürchten den Tod.
Die gemeinsamen Nenner der durch die Corona-Krise ausgelösten Ängste sind also die Ohnmacht und die Angst vor dem Verlust des Lebens.
Wer vor den Viren Angst hat, fürchtet, an den Viren zu sterben.
Wer vor einer Diktatur Angst hat, fürchtet, die Freiheit zu verlieren und letztlich durch Gewalt oder im Gefängnis zu sterben.
Wer Angst vor Armut hat, fürchtet die Existenzvernichtung und den Hungertod.
Wer Angst vor Ausgrenzung hat, fürchtet die soziale Ächtung und ohne den Schutz der Gemeinschaft „vogelfrei“ zu sterben.
Wer Angst vor Täuschung hat, fürchtet die unbekannte Realität, den Verlust der Integrität, die Auflösung des eigenen Selbst und damit den (seelisch-geistigen) Tod.
Die Angst vor dem Virus können die meisten Menschen noch verstehen. Sie fühlt sich für die Betroffenen „logisch“ und „richtig“ an und deshalb befolgen sie gewissenhaft alle Vorschriften. Sie sind dankbar und froh, dass die Regierung sie so konsequent beschützt.
Trifft jedoch ein „Virus-Ängstlicher“ auf einen „Diktatur-Ängstlichen“, so fühlt er sich von ihm massiv bedroht, weil dieser nachlässig mit den Hygieneregeln umgeht und die Regierungsmaßnahmen in Frage stellt. Das steigert seine Angst ins Unerträgliche — er wird den „Gegner“ vehement ablehnen oder ihn gar angreifen.
Trifft ein „Diktatur-“ oder ein „Armut-Ängstlicher“ auf einen „Virus-Ängstlichen“ so sieht er in ihm den Schuldigen, weil der die autoritären Maßnahmen des Staates mitträgt, von denen er sich so bedroht fühlt.
Trifft ein „Ausgrenzungs-Ängstlicher“ auf jemanden, der lautstark seine Position verteidigt, so zieht er sich aus Angst vor An- und Übergriffen zurück.
Trifft ein „Täuschungs-Ängstlicher“ auf wen auch immer, kann er meist dessen Angst nicht nachvollziehen, denn er findet alles in Ordnung. Der Staat macht doch alles richtig.
Begegnen sich also Menschen der verschiedenen Angst-Kategorien, dann „fliegen die Fetzen“. Denn jeder empfindet seine eigene Angst als berechtigt, weil sie ja schließlich die „richtige“ ist.
Bei all diesen Menschen ist der Stresshormonspiegel inzwischen so gewaltig angestiegen, dass „Krieg“ die zwangsläufige Folge ist.
Und im Krieg geht es stets darum, selbst zu überleben und den Feind „auszuschalten“.
Die Wandlung dieser Katastrophe
Während sich bei naturgegebenen Katastrophen, wie anfangs geschildert, die Menschen vereinen, um die große, schicksalshafte Herausforderung gemeinsam zu meistern, geben sie innerhalb menschengemachter Katastrophen stets dem Anderen die „Schuld“ an der jeweils eigenen Not. Die Anderen sind „schuld“, wenn ich krank werde. Die Anderen sind „schuld“, wenn ich verarme. Die Anderen sind „schuld“, wenn ich ausgegrenzt werde oder mich plötzlich in einer Diktatur wiederfinde. Deshalb sind die Anderen auch stets sehr bedrohlich für mich.
Der Ausweg liegt darin, selbst den ersten Schritt zu tun, um den Mitmenschen in seiner Not anzunehmen und ihm bei der Bewältigung seiner Angst zu helfen.
Doch das ist wesentlich leichter gesagt als getan, denn diejenigen, die in starkem Maße von der Angst durchdrungen und daher wie „betäubt“ sind, können diese Aufgabe (noch) nicht leisten. Sie sind es, die zuerst auf die Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen sind.
Aufeinander zugehen und dem Anderen hilfreich die Hand reichen, können diejenigen, die sich stabil genug und dazu in der Lage fühlen. Die in Begegnungen bereit sind, die Angst des anderen Menschen zu erkennen, sie aufzufangen und ihn aufzurichten. Die sich — Kraft der in ihnen wohnenden Freiheit — dazu entscheiden, im Gegenüber statt einen Feind, einen Menschen mit angstvollen Gefühlen zu erkennen. Die bereit sind, einen Verängstigten wahrhaft zu sehen, zu hören und zu verstehen, die mit ihrem Mitgefühl einen Beitrag zur Heilung leisten. Auch, wenn die Verängstigten gar nicht ängstlich erscheinen, sondern — als Ausdruck ihrer unbewussten Angst — voller Wut, Empörung, Hass und Herabwürdigung agieren.
In dieser Not sind besonders diejenigen Menschen gefragt, die Vorkenntnisse und Erfahrungen mit einer achtsamen, gewaltfreien und bindungsorientierten Kommunikation haben. Denn das ist genau ist das, was die schwer erkrankte Menschengemeinschaft jetzt benötigt.
Dabei ist es wichtig, zunächst die eigenen Ängste zu erkennen, sie ins Bewusstsein zu heben und sie von nun an wohlwollend — weil sie zutiefst menschlich sind — und achtsam zu beobachten, damit ihre krankmachende Wirkung bald nachlassen kann.
Dann erst können wir die Ängste der Anderen erkennen und den geschockten und aufgewühlten Menschen — unabhängig von der persönlichen Haltung zur Corona-Krise — mit freundlicher Gesinnung, Respekt und Verständnis begegnen und sie wahrhaft sehen, hören und verstehen.
So finden die Anderen durch die dann (wieder) entstehende Bindung — quasi wie „von selbst“ — zu einer neuen inneren Sicherheit.
Die Kraft menschlicher Bindungen
Wir können wahrhaft auf die heilende Wirkung der zwischenmenschlichen Bindung vertrauen. Denn Bindungskräfte sind die Ur-Kräfte des Lebens. Die Bindung zu anderen Menschen hält den Körper gesund, schenkt der Seele Liebe, Halt und Sicherheit und ermöglicht die Klarheit des Geistes. All das sind die Grundlagen unserer Entwicklung und inneren Freiheit.
Bindung geht immer dort verloren, wo Bedürfnisse nicht erfüllt werden und Angst und Stress überwiegen.
Bindung wird dort ermöglicht, wo Bedürfnisse erfüllt und der Mensch in seinem So-sein — mitsamt seiner Angst — gesehen, gehört und von Herzen verstanden wird.
Das Bindungsbedürfnis ist — nach der Luft zum Atmen — das zweitwichtigste Lebensbedürfnis. Bindung entsteht immer dann, wenn ich mit meiner Empathie den anderen Menschen wahrhaft mit dem Herzen sehe, ihn mit dem Herzen höre und ihn mit dem Herzen verstehe. Wenn ich ihn also in seiner Gesamtheit als Mensch wahrnehme, annehme, wertschätze und widerspiegele.
Dadurch fühlt er sich — mitsamt seiner Not — angenommen, gehalten, getragen und willkommen geheißen. Er ist in Sicherheit.
Diese wiederbelebte Sicherheit löst die Anspannung, lässt die Angst „schmelzen“ und ermöglicht dem Menschen einen erneuten Zugang zu sich und zu seinem Herzen. So findet er zur Orientierung, zur Intuition und zum klaren Denken zurück.
Steht ihm ein freundlich gesinnter Mensch gegenüber, schwindet seine Angst und das Stammhirn kann vom Überlebensmodus Kämpfen-Flüchten-Erstarren ablassen. Sein Limbisches System nimmt die Verarbeitung der Emotionen wieder auf und er kann seine Gefühle nun erneut wahrnehmen, beobachten und reflektieren.
Er wird sich seiner Selbst erneut bewusst.
Erst danach setzt das rationale und klare Denken wieder ein. Erst dann ist der Mensch wieder in der Lage, seine Situation zu erkennen, zu analysieren und einzuschätzen. Erst dann kann er die erweiterten Zusammenhänge erkennen und zu einer vernunftbasierten Haltung oder Handlung finden. Wirklich erst dann — nach der Überwindung seiner Angst!
In dieser nun „erwachsen“ gewordenen Gemütsverfassung wird er erkennen können, dass jeder Mensch in eigener Verantwortung zu seinen Ängsten und sonstigen Gefühle steht, er wird keinem anderen mehr die „Schuld“ an seinem gesundheitlichen oder emotionalen Zustand geben. Er wird erkennen, dass Angst stets „nur“ ein Gefühl ist und daneben noch die Realität existiert.
Und diese Realität zeigt uns unter anderem, dass der Tod zum Leben gehört und dass er unausweichlich auf uns zu kommt. Wollen wir den Tod vermeiden, spalten wir uns vom Leben.
Daniele Ganser sagt in seinem Vortrag so trefflich, dass der Tod die einzige Sicherheit ist, die wir Menschen letztlich haben. Doch wann er kommt, unterliegt — trotz modernster Medizin — nicht unserer Einflussnahme. Das liegt allein in den Händen höherer Mächte. Manche nennen es „Gottes Wille“, manche „die Kraft des Schicksals“ und manche „das kosmische Gesetz des richtigen Zeitpunktes“.
Wer sich diesen Mächten anvertraut, braucht den Tod nicht zu fürchten.
Doch bis dieser uns ereilt, können wir leben. Wir können in der Endlichkeit unseres Daseins unser Bewusstsein erweitern und uns so lange des Lebens erfreuen.
Das Lebenselixier
Die schönste und erfüllendste Freude erfahren wir in der Begegnung mit anderen Menschen. Diese Begegnungen sind das Lebenselixier schlechthin, denn sie erhalten uns an Körper, Seele und Geist gesund.
Die Bindung zwischen den Menschen ist die größte Kraftquelle, die uns die Natur je geschenkt hat. Ihr verdanken wir nicht nur unsere Kraft, sondern auch unseren Schutz, unsere Lebendigkeit, unsere Empathie und unsere Kreativität. Durch Nähe und wahrhaftige Begegnung kommt unser gestresstes Hormonsystem zur Ruhe, dann fließt — endlich — wieder das Bindungshormon Oxytocin durch unsere Blutbahn.
Bindung in Empathie ist der schönste und effektivste zwischenmenschliche Vorgang, uns zu heilen und gesund zu erhalten. Bindung ist für alle Menschen — für die, die sie aussenden, als auch für die, die sie empfangen — ein großer Reichtum.
Bindung schenkt Vertrauen und Zuversicht, Kreativität und Freude, sie lässt die Angst verschwinden und das Selbstbewusstsein wachsen. Sie stärkt das Immunsystem, senkt den Blutdruck und mindert die Aggressivität.
Genau das brauchen wir zur Heilung in dieser weltumspannenden Krise.
Indem wir den Ängstlichen unsere Empathie schenken, schenken wir ihnen auch einen Bindungsmoment. Ihre Herzen kommen zur Ruhe, ihre innere Sicherheit wächst und sie können die Welt — in diesem Moment - wieder mit anderen Augen sehen.
Sobald die Angst schwindet, wird der Blick auf die Realität frei.
Mit der Wahrnehmung des Realen kommt der Mensch wieder bei sich an. Erneut kann er sich, sein liebendes Herz und seine stabile Mitte spüren — so kann er sich selbst und seinen inneren Frieden finden.
Und wenn wir wieder bei uns angekommen sind, kehrt auch das Lachen unserer Kinder zurück.
Quellen und Anmerkungen:
Wege aus der Angst — Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen,
Dr. Gerald Hüther, Verlag Vandenhoeck + Ruprecht
Corona und die Angst, Dr. Daniele Ganser, YouTube
Informationen zu Traumaforschung und Traumatherapie, Professor Dr. Franz Ruppert, www.franz-ruppert.de
und Dr. Peter A. Levine, Somatic-Experiencing, www.somatic-experiencing.de
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