Wir leben in einer gefährlichen Zeit. Anstatt die politische Macht und ihren Apparat zu kontrollieren, anstatt Unrecht, Heuchelei und Lüge aufzuzeigen und alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, damit die Öffentlichkeit sich ein Bild machen und verstehen kann, begleiten Medien wie die Kriegstrommler und Trompeter früherer Heere die neuen Beutezüge der westlichen Welt.
Im Wettlauf mit den so genannten „sozialen Medien“ feuern herkömmliche Medien – nicht alle, aber zu viele – Konflikte an, anstatt sie zu hinterfragen. Mit einseitiger Berichterstattung, ungeprüften Behauptungen und dem Verschweigen bekannter Tatsachen drängen sie zum Handeln, anstatt Ereignisse und deren Hintergründe transparent zu machen. Quellen werden ausgelassen, historische Entwicklungen gar nicht, kurzfristig oder einseitig dargestellt. Medien kontrollieren nicht mehr die politische Macht, sie sind Teil dieses Machtapparats geworden.
Das Internet oder soziale Medien bieten da keine Lösung, sie sind vielmehr Teil des Problems.
Wenn Sie heute beispielsweise im Internet nach den jüngsten Entwicklungen im Mittleren Osten suchen, bietet sich an prominenter Stelle „Mena Watch“, ein nach eigenen Angaben unabhängiger Nahost-Think-Tank an. Vorläufer dieses per Impressum in Wien registrierten Internetportals war eine „Medienbeobachtungsstelle Nahost“, die laut Selbstdarstellung „zur Verbesserung der Qualität der Berichterstattung über den Nahen Osten im Allgemeinen und Israel im Besonderen“ beitragen wollte. Inzwischen werden Analysen und Dossiers angeboten, die – professionell aufgemacht – gutgläubige Internetrechercheure vermutlich gern aufgreifen.
Nur wer sich mit einer Region und einem Konflikt auskennt, erkennt eine mögliche Einseitigkeit solcher Internetportale. In Sachen „Mena-Watch“ ist es die Parteinahme für die israelische Regierungspolitik. Ein Blick auf die Liste der Autoren zeigt bekannte Namen, die in deutschen Foren wie „Honestly Concerned“, „Lizas Welt“ oder auf dem Blog von Hendryk Broder (Achgut.com) publizieren.
Diese Foren agieren wie digitale Wächter vor den Toren Israels, wer es wagt, die israelische Politik zu hinterfragen oder zu kritisieren, gilt als „Antisemit“, als Feind. Sie intervenieren bei Medien, Funk und Fernsehen und prangern deren Berichterstattung als „antisemitisch“ an, wenn Israel kritisiert wird. Beliebtes Ziel sind öffentliche Veranstaltungen mit Kritikern der israelischen Besatzungspolitik.
Prominentes Beispiel ist die „Nakba-Ausstellung“, eine Ausstellung über Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948 aus ihrer Heimat im Zuge der gewaltsamen Staatsgründung von Israel. Ein unverzichtbar wertvoller Blick in die Vergangenheit. Mehr als einmal haben diese Autoren über ihre Blogs Journalisten, Politiker, Wissenschaftler in Deutschland wegen angeblichen „Antisemitismus“ an den öffentlichen Pranger gestellt. Mit Erfolg, denn viele der Betroffenen verloren ihre Arbeit.
Selektive Wahrnehmung
Nur wenige Menschen haben und nehmen sich die Zeit, Nachrichten aus unterschiedlichen und gegensätzlichen Medien zu vergleichen. Noch weniger Leute vergleichen deutsche Nachrichten mit denen aus anderen Ländern oder mit dem, was Politiker tatsächlich sagen.
Nie zuvor wurde die Öffentlichkeit so überschüttet mit Nachrichten, ohne wirklich zu erfahren, was geschieht. Nachrichten lenken heute eher ab, als dass sie helfen, den Blick oder das Ohr auf das Wesentliche zu richten. Dinge, die in den Zeitungen nicht stehen, die im Radio nicht zu hören oder im Fernsehen nicht zu sehen sind, finden für die deutsche Öffentlichkeit nicht statt.
Direkte Kommunikation im Sinne von „Annäherung“, „Kennenlernen“, „Verstehen“ gibt es kaum noch. Jeder kann sich sein Universum erschaffen, seine Welt. Nur wenige diskutieren über das, was sie lesen und hören, tauschen Ideen, Fragen und Einschätzungen aus, um sich von einem Konflikt, einem Geschehen ein Bild machen zu können. Nicht um zu sagen: „So ist es“, sondern um zu wissen, welche Fragen gestellt werden müssen, um besser zu verstehen.
In der Unübersichtlichkeit der angebotenen Informationen ist es einfacher geworden, sich die Meldungen rauszusuchen, die einen ansprechen, die die eigene Denkweise bedienen, während andere Meldungen, andere Blickwinkel ignoriert oder gar als „Lügen“ diffamiert werden.
Als ich bei einem Vortrag einmal über die lokalen Waffenstillstände und über die Versöhnungskomitees berichtete, die es in Syrien gibt, sprang ein Mann auf und rief:
„Sie lügen. Sie haben sich das ausgedacht. Ich habe noch nie davon in den Medien gehört.“
Und ein Redakteur, der eine Reportage aus Damaskus bestellte ermahnte mich, nur ja die Namen meiner Gesprächspartner zu nennen. „Sonst denken die Leute, Du hast Dir das ausgedacht.“
Einmal hieß es – das war kurz vor der Irak-Invasion 2003:
„Wir werden darüber schreiben und das Ihrem Beitrag beifügen. Sie sind in Bagdad und haben ja keine Informationen.“
Und als ich 2011 – ganz zu Beginn des Konflikts in Syrien – einen Vortrag hielt über den „schwierigen Weg zum nationalen Dialog in Syrien“, protestierten syrische und kurdische Oppositionelle lautstark vor dem Veranstaltungsort: „Die Frau, die dort spricht, hat Blut an den Händen“, wurden Besucher gewarnt. „Sie ist die Stimme des Regimes.“
Noch ein Beispiel will ich nennen. Als ich einmal um ein Interview mit dem damaligen Vorsitzenden der Partei der demokratischen Union (PYD) vor einer Veranstaltung bat, lehnte der deutsche Medienkontakt für die Veranstaltung mit den Worten ab, es gebe keinen „Sonderzugang“ zu der Person.
Zudem habe man kein „Vertrauen“, dass ich „mit den Informationen (…) verantwortlich“ umgehen würde. Festgemacht wurde das an meinen Artikeln über Nord-Syrien, die von der deutschen Kurdistan-Solidarität kritisiert werden. Mit anderen Worten: Berichtet man nicht im Sinne der Pressestelle eines Akteurs in einem Konflikt, wird man ausgeschlossen.
Von „Aktivisten“, Handy-Wackel- und Feindbildern: Syrien als mediale Black Box
Unser Blick auf Syrien ist nicht nur getrübt, weil bestimmte Gruppen – Kurden, syrische Opposition, Militärs, Regierungen – gern ihre Sicht der Dinge verbreiten und Medien und Öffentlichkeit entsprechend bedienen. Auch Redaktionen, die Korrespondenten eigentlich den Rücken stärken sollten, greifen ein, maßregeln, verändern Texte und Bilder oder lassen einfach weg, schneiden raus, ergänzen mit Agenturmeldungen.
Der Blick ist getrübt, weil man uns wackelige Handybilder unbekannter Herkunft als angeblich authentisch von einem Ort des Geschehens präsentiert. Stellungnahmen, Berichte von „Bürgerjournalisten“, Aussagen von „Aktivisten“ werden verbreitet – die sich schon mal als falsch herausstellen können, wie in dem Fall des „lesbischen Mädchens aus Damaskus“, dessen Tagebuchaufzeichnungen es bis in die BBC schafften.
Als die junge Frau angeblich entführt wurde in Damaskus, wandte sich sogar der damalige Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung an die syrische Regierung, umgehend für die Freilassung der Frau zu sorgen. Tatsächlich handelte es sich bei der Person um die Erfindung eines US-Studenten in Schottland, der sich einen Spaß erlaubt hatte.
Wir hören nicht von den vielen Freiwilligen des Syrischen Arabischen Roten Halbmondes, von Versöhnungskomitees, aus der Gesellschaft, die sich für Verletzte, Vertriebene, Entführte einsetzt. Stattdessen gibt es Schlagzeilen über die selbstlosen „Weißhelme“, die Menschen aus Trümmern bergen. Denen sogar ein Film und viele Preise gewidmet wurden. Aber die gleichen Medien zeigen nicht die Bilder, auf denen manche dieser „Weißhelme“ Fahnen der Al Qaida und/oder Gewehre schwenken. Die breitbeinig über Leichen auf Lastwagen stehen und das Siegeszeichen in die Kamera machen. Die gerade Hingerichtete in Plastiksäcke packen und abtransportieren.
Kaum jemandem ist bekannt, dass die „Weißhelme“ keine traditionelle syrische Hilfsorganisation ist, sondern erst 2014 von einem ehemaligen britischen Elitesoldaten gegründet wurden. Westliche Staaten – Großbritannien, Frankreich, USA, Türkei und Deutschland – unterstützen die Gruppe großzügig finanziell. Allein die Bundesregierung unterstützt die „Weißhelme“ aus dem Fonds des Auswärtigen Amtes bisher mit sieben Millionen Euro.
Unser Blick ist getrübt von Leid, Flucht, Tod und von Trümmern, Trümmern und noch mehr Trümmern. Syrien, ein Land in Trümmern?
Vor wenigen Tagen fragte mich jemand, ob es in Syrien überhaupt noch Menschen gäbe. Ob die was zu essen hätten, ob es Zahnbürsten gibt?
Ja, es ist richtig, wer Syrien aus dem Jahr 2010 und 2011 kennt, wird es heute nur schwer wieder erkennen. Die Zerstörungen sind immens und doch gibt es weite Teile des Landes, die unversehrt geblieben sind. Gegenden, wo 6 Millionen Inlandsvertriebene klaglos aufgenommen wurden, wo die Schulen in zwei Schichten arbeiten und die Universitäten überfüllt sind. Es gibt Syrien und es gibt Millionen Syrer, die sich helfen, die hoffen, dass der Krieg und die Sanktionen endlich ein Ende haben werden. Unser trüber Blick sieht das nicht – oder soll es nicht sehen.
Unser Blick ist getrübt, weil die Medien über die Wirtschaftssanktionen und deren Auswirkungen auf den Alltag der Bevölkerung nicht berichten. Eine Studie von ESCWA – der UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien mit Sitz in Beirut – über die „Humanitären Folgen der einseitigen ökonomischen Strafmaßnahmen gegen Syrien“ (Mai 2016) stellte fest, dass es sich bei den von der EU und den USA seit 2011 gegen Syrien verhängten Sanktionen um die schärfsten Sanktionen handelt, die jemals (!) seit Gründung der UNO gegen ein Land verhängt wurden. Deren Folgen, so die Autoren, beträfen jeden Syrer. Und Deutschland hat die Verschärfung der Sanktionen durch das Auswärtige Amt immer besonders vorangetrieben.
Unser Blick ist getrübt, weil es für den Krieg in Syrien eine bestimmte Sprache gibt:
- Es wird von einem „Bürgerkrieg“ gesprochen, von einem „Machthaber“ oder „Diktator, der sein Volk umbringt“.
- Da gibt es eine „syrische Opposition“ und es gibt „die wichtigste syrische Oppositionsgruppe“, die nach Genf zu Gesprächen eingeladen wird.
- Es gibt „ein Regime“ und es gibt „Assads Armee“, die Giftgas einsetzt.
- Es gibt „Rebellen“ und „moderate Rebellen“ und es gibt eine „Freie Syrische Armee“, deren Bewaffnung in hiesigen Medien nicht nur von syrischen Oppositionellen, sondern auch von Journalisten gefordert wurde. Ein Kommandeur dieser „Freien Syrischen Armee“ wurde sogar ins Europaparlament nach Brüssel eingeladen, wo er vor den Abgeordneten in Uniform auftrat und – natürlich – auch mehr Waffen forderte.
Oft wurde ich von Redakteuren und bei Veranstaltungen ermahnt, nicht von „Präsident“ Assad oder von der „Regierung“ zu sprechen, es handele sich um einen „Diktator“, „Machthaber“ und um ein „Regime“. Die syrische Armee habe sich aufgelöst, es gäbe nur noch Milizen, die sich „Assads Armee“ nennen würden.
In Syrien wurde ich darauf angesprochen. Mehr als einmal wurde ich als ausländische Korrespondentin von Armeeangehörigen – ungefragt – darauf hingewiesen: „Wir sind Angehörige der syrischen Armee, wir kämpfen nicht für einen Mann, wir kämpfen für Syrien. Herr Bashar al Assad ist unser Präsident.“
Und kurz vor Palmyra – das von der syrischen Armee mit ihren Verbündeten zwei Mal zurückerobert wurde, hängt über der Straße ein großes Transparent auf dem sinngemäß steht:
„Ja, wir können das. Weil Jesus und Mohammed, die Propheten gemeinsam für uns gebetet haben. Wir sind nicht „Assads Armee“. Wir sind die Armee aller Syrer, Christen, Muslime und anderer.“
Haben Sie von dem früheren Außenminister Katars Hamad bin Jassim bin Jaber Al Thani gehört, der im Oktober vergangenen Jahres im katarischen Fernsehen offen darüber sprach, wie die Waffen zu den Kämpfern nach Syrien kamen und wer das organisierte? Man habe die Waffen an die „moderate“ Opposition geschickt, sagte er, doch viele Waffen seien in die Hände der Nusra-Front, der Al Qaida gelangt. Die Waffenlieferungen seien mit Saudi Arabien, Türkei und den USA koordiniert worden:
„Alles (was nach Syrien geschickt wurde) ging über die Türkei und wurde mit den USA koordiniert. Die Verteilung von allem lief über US-Militärs.“
Lassen Sie mich dazu Moktar Lamani zitieren. Er war Stellvertreter des UN-Sondervermittlers für Syrien Lakdhar Brahimi und ich hatte 2013 in Damaskus die Gelegenheit, ihn zu befragen.
„Die Medien sprechen ja immer über die ‚Freie Syrische Armee‘ und die Opposition. Wenn man genau ist, muss man von ‚Armeen‘ und von ‚Oppositionsgruppen‘ sprechen.
Eine ‚Brigade‘ kann nicht militärisch definiert werden. Es können fünf oder auch 5000 Leute sein. Wir haben mehr als 2.000 verschiedene Gruppen ausgemacht. Es gibt Nationalisten, die Demokratie wollen. Es gibt Extremisten, die ein Programm haben, das mit Syrien nichts zu tun hat. Es gibt Kriminelle, die die Situation ausnutzen, um ein Museum zu plündern oder Leute zu entführen und dann Geld erpressen. Und natürlich gibt es auf der Seite der Regierung Hardliner und Leute, die einlenken.
Das ist normal. Tatsache ist, dass sie nicht miteinander reden, außer mit Waffen. Sie hören sich nicht zu. Es wäre wichtig, innerhalb des Landes einen Konsens herzustellen und die Syrer gegen den Einfluss von außen zu immunisieren. International muss ‚Genf II‘ unterstützt werden, sonst gibt es Chaos. Und zwar nicht wie in Somalia, sondern viel schlimmer. Denn die Auswirkungen werden regional sein.“
Niemand hat auf den Mann gehört, er quittierte 2014 seinen Dienst.
Unser Blick ist getrübt von den vielen Hilfsangeboten, den Milliardensummen, die die Bundesregierung gibt, um den Opfern des „Assad-Krieges“ zu helfen. Doch wohin fließt das Geld?
Die Bundesregierung gibt Geld an UN-Organisationen und an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die gemäß dem humanitären Völkerrecht verpflichtet sind, allen Syrern und überall zu helfen. Diese Organisationen koordinieren ihre Arbeit mit der syrischen Regierung, wie es das humanitäre Völkerrecht, dem sie verpflichtet sind, vorschreibt.
Weit mehr Geld aber fließt in die Nachbarländer Irak, Türkei, Libanon und Jordanien in Flüchtlingslager, wo die Menschen gar nicht leben wollen. Anstatt sich für ein Ende des Krieges und die Rückkehr der Menschen in ihre Heimat einzusetzen, werden Projekte in den Flüchtlingslagern finanziert, die nicht nur Mitarbeiter deutscher NGOs in Lohn und Brot bringen, sondern die dafür sorgen, dass die Flüchtlinge bleiben, weil ihnen eine entsprechende Unterstützung in ihrer Heimat Syrien nicht angeboten wird.
Private Hilfsorganisationen – übrigens auch mit Geld aus staatlichen Hilfsfonds ausgestattet – helfen Oppositionellen in Syrien und auch die Bundesregierung hilft der syrischen Opposition und zwar nur und ausschließlich der Opposition. Zum Beispiel bei der Ausbildung für das „humanitäre Minenräumen“ in Manbij oder Rakka oder beim Aufbau einer „Freien Syrischen Polizei“ in Idlib. Auch die eben genannte Unterstützung der „Weißhelme“ gehört dazu. Wie und durch wen diese Hilfe in den von bewaffneten Gruppen kontrollierten Gebieten umgesetzt wird, darüber schweigt die Bundesregierung sich aus. Eines allerdings haben verschiedene Außenminister – US-amerikanische, deutsche und französische – in den letzten Jahren immer wieder gesagt:
„Es gibt keine Zukunft für Assad in Syrien“. Und: „Wiederaufbau in Syrien wird erst finanziert, wenn der politische Übergangsprozess ohne Assad begonnen hat“.
Humanitäre Hilfe wird politisch instrumentalisiert. Dazu noch einmal Moktar Lamani im Jahr 2013:
„Wenn versucht wird, humanitäre Hilfe zu politisieren, ist das ein Problem. Es gibt sogar den Versuch, die Arbeit der UN-Organisationen zu politisieren. Wir lehnen das ab. Ich persönlich finde es zynisch, wenn das Leid der Menschen für politische Zwecke benutzt wird. Viele Gruppen haben mich angesprochen, weil sie Unterstützung für die Einrichtung einer Hilfsorganisation haben wollten. Ich habe sie gefragt, warum sie das als politische Partei wollten? Um Stimmen zu fangen? Wer vertritt die schweigende Mehrheit in diesem Land? Mehr als 157 Parteien und Gruppen sind zu uns gekommen, dazu kommen noch die Kurden mit ihren 35 verschiedenen Gruppen. Jeder hat erklärt, 70 Prozent der Bevölkerung zu vertreten. Wie viele 70 Prozent passen eigentlich in 100 Prozent! Alle geben an, die Mehrheit zu vertreten.“
Das wäre in der Berichterstattung zu Syrien zu vermitteln, zu hinterfragen. Doch es geschieht nicht oder kaum.
Unser Blick auf Syrien ist nicht zuletzt dadurch getrübt, dass in den öffentlich-rechtlichen und anderen Medien Korrespondentenstellen gestrichen werden.
Die ARD schloss beispielsweise ihr Korrespondentenbüro in Amman im März 2013 just zu dem Zeitpunkt, als der Krieg in Syrien eskalierte und Jordanien zu einer militärischen Drehscheibe für die Bewaffnung von Kampfverbänden in Syrien wurde.
Stattdessen werden Agenturmeldungen übernommen, was dazu führt, dass die Meldungen nahezu gleichlautend in vielen Medien zu finden sind. Dass man sie überall lesen und hören kann, macht sie nicht unbedingt richtiger. Ich habe häufig Agenturmeldungen überprüft, die nicht nur aufgrund der Auswahl eines Themas und der angebotenen Einschätzung einseitig waren, sondern auch oft fehlerhaft und von Unkenntnis der lokalen Gegebenheiten oder der involvierten Akteure geprägt.
Redaktionen und Vorstände maßregeln zudem die Korrespondenten und machen ihnen Vorgaben, was sie wie zu berichten haben. Auch das trübt den Blick der Öffentlichkeit. Folgendes Beispiel möchte ich schildern.
Ein arabischer BBC-Reporter wurde bedroht, als er (Januar 2012) berichtete, dass der französische Kollege Gilles Jacquier (France 2) bei einem Mörsergranatenbeschuss von bewaffneten Oppositionellen in Homs getötet worden war. Der Tod von Jacquier wurde umgehend politisch instrumentalisiert. Die französische Regierung und die US-Administration machten die syrische Regierung und den syrischen Präsidenten persönlich dafür verantwortlich, denn es sei deren Verantwortung, die „Sicherheit internationaler Journalisten in ihrem Staatsgebiet zu gewährleisten“, so der damalige französische Außenminister Alain Juppé. Die Sprecherin des US-Außenministeriums Victoria Nuland erklärte:
„Präsident Assad (…) geht weiter gewaltsam gegen sein eigenes Volk vor, anstatt für ein Klima zu sorgen, in dem Journalisten arbeiten und friedliche Proteste stattfinden können.“
Die BBC entschuldigte sich und zog ihren Reporter ab.
Ein halbes Jahr später bestätigte eine offizielle Untersuchung in Frankreich, dass tatsächlich die bewaffnete Opposition (aus Baba Amr) für den Tod von Gilles Jacquier und acht weiteren Menschen verantwortlich war. Diese Meldung fand kaum Aufmerksamkeit.
Bündnisrücksichten bestimmen was und wie berichtet wird
Unser Blick auf Syrien ist zudem getrübt, weil kaum jemand das Land und die Gesellschaft dort vor dem Krieg gekannt hat. Diejenigen, die dort Jahrzehntelang gearbeitet haben, sind bis auf wenige Ausnahmen verstummt. Und sie werden nicht gefragt.
Stattdessen geht es jetzt um die „Stunde null“, wie eine Studie der Brandenburgischen Technischen Universität heißt, in der eine digitale Karte der Altstadt von Aleppo entworfen wurde. „The Day After“ heißt eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, wo ein Szenario für Syrien nach dem Sturz von Präsident Assad und seinem „Regime“ – wie es heißt – entworfen wird.
„Die Fragmentierung Syriens“ heißt eine andere SWP-Studie, die den Zerfall des Landes entlang von ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten beschreibt und einer Studie des Brookings Institute in den USA ähnelt.
Der Deutsche Akademische Auslandsdienst (DAAD) bietet Stipendien für Programme mit dem Titel „Leadership for Syria“ an, „Führung in Syrien“. Journalisten, Künstler, Schriftsteller und Kulturschaffende, die Syrien verlassen haben, finden ein breites Netz von Unterstützern – über Künstler, Theaterschaffende in Syrien selbst wird immer weniger berichtet.
Doch warum ist das so, warum wird unser Blick auf Syrien getrübt? Weil es nicht um Syrien und um die Syrer, sondern weil es um geostrategische Interessen geht.
In unseren Gedanken, in unserer Vorstellung soll Syrien zerfallen und ein neues Syrien geschaffen werden. Nicht, wie es den Syrern, sondern wie es anderen gefällt. Es geht um die systematische Zerstörung eines intakten und friedlichen Landes im Mittleren Osten, dass 2011 wirtschaftlich und politisch den Ausgleich mit seinen Nachbarn suchte, die Kooperation mit Europa und alles für eine gute Bildung und Ausbildung seiner Jugend tat.
Das deutsche militärische und zivile Engagement wie es sich in Syrien und in der Region darstellt, dient nicht dazu, dem Land und seinen Nachbarn dabei zu helfen, inneren und äußeren Frieden wiederherzustellen. Es sichert Flüchtlingslager, es sichert die fortgesetzte Destabilisierung. Es dient der Kontrolle, der Einmischung und Einflussnahme, der Spaltung von Gesellschaften. Die Verlegung des deutschen Truppenkontingents nach Jordanien zu einem Zeitpunkt, wo der „Islamische Staat“ weitgehend zerschlagen ist, sollte aufhorchen lassen.
Genau darüber müssten Medien berichten, aufklären, kritisch hinterfragen. Doch es geschieht kaum. Weil es die außenpolitischen Interessen der Bundesregierung und ihrer Verbündeten in der Region, vor allem Israel berührt. Die Berichterstattung in Funk, Fernsehen und in den Printmedien heute hat viel damit zu tun.
Vor 10 Jahren stieg der Kollege Uli Tilgner aus seinem langjährigen Vertrag mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen aus. Seit 1982 hatte er für das ZDF aus dem Mittleren Osten berichtet, zuletzt als Leiter des ZDF-Studios in Teheran. Ende 2007 verzichtete er auf eine Vertragsverlängerung bei dem Sender und begründete das damit, dass er sich „in Deutschland in seiner Arbeit zunehmend eingeschränkt“ fühle: „Gerade auch was die Berichterstattung aus Afghanistan angeht, jetzt, wo dort deutsche Soldaten sterben.“
Tilgner kritisierte, dass es im Sender „Bündnisrücksichten“ gebe, die die Unabhängigkeit der Redaktionen beeinträchtigten. Gleichzeitig werde Politik immer mehr in Nischen verdrängt. Er sagte: „Wenn die politische Berichterstattung von Kollegen gemacht wird, die mit der Bundeswehr kommen, und ich für eine Art journalistischer Folklore zuständig bin, dann habe ich ein Problem.“
Ein anderer ZDF-Korrespondent, Alexander von Sobeck, Studiochef in Paris kritisierte, „dass wir immer stärker mit der privaten Konkurrenz mitschwimmen und leider unseren öffentlich-rechtlichen Auftrag vernachlässigen“.
Sein Londoner Kollege, Ruprecht Eser, sah „ganz klar eine Tendenz zur Verflachung“.
Tilgner sagte, laut einem Artikel der Süddeutschen Zeitung, der „eingebettete Journalismus in Deutschland habe mit Gerhard Schröder angefangen und Steinmeier habe das fortgesetzt“. Damals gab es eine rot-grüne Regierung, die Deutschland in den Jugoslawienkrieg führte.
Die BILD-Zeitung wurde salonfähig und in Kabul redeten deutsche Militärs nicht mit dem ZDF-Korrespondenten Tilgner, weil gerade die Politik exklusiv was mit einem Boulevard-Blatt machte. Tilgner wurde von deutschen Diensten in Kabul abgehört, übrigens auch eine Spiegel-Journalistin.
Früher hätten die Sender von den Korrespondenten wissen wollen: Was haben die Leute vor Ort zu sagen? Heute würden Beiträge in den Redaktionen „gebaut und designed“, so Tilgner:
„Vergleichen Sie einfach nur die Dauer der Berichte: Früher habe ich Stücke von vier oder gar fünf Minuten machen können, heute sind sie nur noch gut halb so lang. Da muss ich die Verhältnisse vor Ort immer oberflächlicher zeigen.“
Unter Radio- und Fernsehjournalisten gibt es das geflügelte Wort: „Und bist Du noch so fleißig, es bleiben nur 1:30“. Gemeint ist ein Beitrag von 1 Minute und 30 Sekunden. Was Tilgner und auch andere erfahrene Fernsehkorrespondenten beschreiben zeigt, von wem der Blick der Öffentlichkeit auf Geschehnisse nachhaltig getrübt wird:
Von den Redaktionen und Chefredaktionen. Von Vorständen und Herausgebern. Warum?
Dabei sind Ausmaß und Mittel der Eintrübung unterschiedlich, doch Redaktionen bei Funk und Fernsehen nehmen ebenso Einfluss auf Texte von Auslandskorrespondenten, wie Redaktionen der Printmedien. Konflikte dieser Art werden Lesern und Leserinnen meist vorenthalten. Sie spielen sich hinter verschlossenen Türen ab, manchmal sogar unter Ausschluss des betroffenen Autoren oder der Autorin. Die werden lediglich mit Folgen konfrontiert: weniger Platz für Berichte, Entzug von Themen, redaktionelle Bearbeitung von Texten oder auch: gar keine Aufträge mehr.
Auf diese Art verschwinden Korrespondenten von der Bildschirmfläche, aus den Sendern, aus den Zeitungen, die sich in der Region und in den Ländern oft jahrelang aufhielten, über die sie berichteten. Eine neue Generation von Journalisten wächst heran und berichtet heute „moderner“, angepasster und entsprechend der politischen und redaktionellen Vorgaben. Sender und Zeitungen setzen zudem auf „soziale Medien“, Twitter, Facebook und Blogs.
Programmreformen nennt man das dann, die Medien müssen „zeitgemäß“ bleiben,sparen. Der getrübte öffentliche Blick, das Verständnis über Geschehnisse in anderen Teilen der Welt wird neu eingeschliffen.
Was Tilgner 2008 über Afghanistan sagte, gilt seit 2011 auch für die Berichterstattung über Syrien. Kollegen berichteten aus Istanbul oder Kairo oder sie waren – oft unter Lebensgefahr – mit den bewaffneten „Oppositionellen“ eingebettet. Andere reisten offiziell mit einem Journalistenvisum ein und blieben 7 oder 10 Tage. Einer dieser Kollegen sagte mir bei einer gemeinsamen Busfahrt 2012:
„Wir berichten so schlecht über sie und trotzdem geben sie uns immer wieder ein Visum.“
Während sich in europäischen und deutschen Medien Kolleginnen und Kollegen an die neuen Direktiven anpassen oder sich Nischen suchen, fand in der arabischen Welt übrigens eine Art Medienrevolution statt.
Der Fernsehsender Al Jazeera, der vom Emir von Katar gegründet worden war und einst als Flaggschiff eines ungebeugten Journalismus während der Kriege in Afghanistan (2001) und Irak (2003) galt, wurde zum Sprachrohr der oppositionellen syrischen Muslim Bruderschaft und westlicher Interessen.
Arabische Kolleginnen und Kollegen diskutierten den Kurswechsel und fragten sich, ob es ihre Aufgabe als Journalisten sei, eine Seite in dem Konflikt – zudem noch die Seite des politischen Islam – zu fördern? Viele verließen Al Jazeera und suchten sich neue Arbeitsplätze. In Beirut entstand der Nachrichtensender Al Mayadeen, der heute zu den meistgesehenen Sendern gehört.
Eine kritische und selbst-kritische Auseinandersetzung mit der Syrien-Berichterstattung fand meines Wissens in deutschen Medien nicht statt.
In eigener Sache: Ein paar Worte an die neue Journalistengeneration
Lassen Sie mich zum Schluss etwas zu denjenigen sagen, die Journalismus studieren oder die Journalisten im weitesten Sinne werden wollen.
Lesen Sie, lesen Sie vor allem Bücher. Geschichtsbücher, Romane, Tagebücher. Gehen Sie in die Bibliotheken. Sehen Sie sich Filme an, lernen sie Sprachen, reisen Sie.
Ein Fotografenkollege sagte mir einmal: Du siehst nur, was Du weißt.
Wenn Sie also über etwas berichten wollen, müssen sie informiert sein.
Ohne die Protokolle der Pariser Friedenskonferenz aus den Jahren 1919/20, ohne die Bücher über die Diplomaten Sykes und Picot, werden Sie die heutigen Konflikte im Mittleren Osten nicht verstehen.
Ohne den Kampf Syriens um Unabhängigkeit, ohne die Aufstände gegen das französische Mandat werden Sie das Verhältnis zwischen Syrien und Frankreich nicht verstehen.
Ohne die Geschichte der Besiedlung Palästinas durch die zionistische Bewegung werden Sie den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nicht verstehen.
Und ohne die Geschichte der Verfolgung der Juden in Europa werden sie nicht verstehen, wie der politische Zionismus entstanden ist.
Jeder Konflikt, jedes Geschehen hat eine Geschichte, nichts geschieht plötzlich. Nur wenn Sie informiert sind, können Sie Fragen stellen, die dazu beitragen, ein Geschehen zu erläutern.
Und Ihre Aufgabe ist es nicht, als großer Zampano vor der Kamera oder in Talk-Shows zu glänzen. Ihre Aufgabe ist zu erläutern, zu erklären, damit andere die Möglichkeit haben, einen Konflikt oder ein Geschehen zu verstehen. Sie sollen nicht Ihre Meinung verbreiten – es sei denn, Sie schreiben einen Kommentar oder ein Meinungsstück – sie sollen dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit sich eine Meinung bilden kann.
Gehen Sie auf Menschen zu, wo es möglich ist. Halten Sie Distanz, wo es nötig ist.
Zeigen Sie Respekt. Suchen Sie immer das Gespräch, egal mit wem.
Nur so können Sie die Mosaiksteine sammeln, die Sie für Ihre Reportage, ihren Bericht, Ihre Dokumentation brauchen.
Lassen Sie sich von Ihrer Redaktion nicht „einhegen“, nennen Sie Dinge beim Namen.
Und natürlich muss man über Krieg berichten und vermutlich in der Zukunft noch mehr. Wägen Sie immer ab und lassen Sie sich nicht einbetten. Mit keiner Seite.
„Friedensjournalismus“ ist ein großes Wort. Und sich der „Wahrheit“ zu verpflichten ein schöner Vorsatz, den man doch nie erreichen wird. Gerade der Krieg kennt viele Wahrheiten.
Sicherer sind mir bei meiner Berichterstattung klare Regeln, wie sie in der „Friedens- und Konfliktforschung“ erarbeitet wurden. Deeskalieren in Bild, Wort und Sprache ist dabei ebenso unabdingbar wie die Achtung des Völkerrechts, niemanden vorzuverurteilen, Feindbilder nicht zu fördern, Respekt zu zeigen.
Einen 95-jährigen Mann in Homs habe ich einmal gefragt, ob er mit denjenigen, die ihn mit dem Tod bedroht hätten, in Zukunft wieder zusammenleben könne. Er habe sein ganzes Leben lang gut mit seinen Nachbarn gelebt und daher glaube er fest an eine gute gemeinsame Zukunft in Syrien, antwortete er:
„Für mich ist ein halb gefülltes Glas immer halb voll, nie halb leer.“
Vielen Dank.
Quellen und Anmerkungen:
(1) http://www.ialana.de/arbeitsfelder/frieden-durch-recht/ialana-kongresse-frieden-durch-recht/januar-2018-kassel-krieg-und-frieden-in-den-medien/2114-einladung-zum-ialana-medienkongress-26-28-januar-2018-in-kassel
(2) Die Autorin konnte krankheitsbedingt an der Tagung in Kassel nicht teilnehmen.
Literaturhinweise:
- Flächenbrand, Syrien, der Irak, die arabische Welt und der Islamische Staat, PapyRossa Verlag Köln, 3. Auflage 2017
- Syrien zwischen Schatten und Licht, 100 Jahre Geschichte von 1916 bis 2016, Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land, Rotpunkt Verlag Zürich, 2017.
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