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Aus dem Nichts

Aus dem Nichts

Gefühle werden heute zum großen Teil künstlich geschaffen — die echten bleiben dabei auf der Strecke.

Paul Virilio, ein französischer Architekt, Essayist und Handwerker, schrieb in seinem Essayband Fluchtgeschwindigkeit, der 1995 in deutscher Sprache erschien, schon von zwei Welten: „Genau das tun die Teletechnologien der Echtzeit: Sie zerstören die Gegenwart, indem sie von ihrem Hier und Jetzt isolieren zugunsten eines kommutativen Anderswo, dass nichts mehr mit der konkreten Gegenwart in der Welt, sondern nur noch etwas mit einer vollkommen rätselhaften diskreten Telepräsenz zu tun hat.“

Seither sind 27 Jahre vergangen. Die rätselhafte diskrete Telepräsenz ist nun Besatzer unsere Gegenwart, unserem Hier und Jetzt geworden. Sie sitzt wie ein Alien auf unseren Gesichtern und pflanzt in uns Parasiten, die uns von innen heraus zerstören. Doch dieses Bild ist ja schon eine Schöpfung aus dieser anderen, diskreten Telepräsenz, eigentlich ein Entertainment, um die Menschen zu unterhalten. Die Doppelbödigkeit daran ist unverkennbar.

Unsere komplette Wahrnehmung ist damit überformt, mehr noch: durchdrungen von dieser virtuellen Welt. Wir werden zu einem Mischwesen aus nächster Nähe und Telepräsenz, die in uns wirkt. Und wir merken es nicht einmal. Würden wir uns jedes Mal mit einer Nadel piksen, bei jedem Gefühl, das von außen auf uns einströmt, wären wir an der Realität der Schmerzen schon lange verrückt geworden.

Wird der Mensch nicht, wenn er Tag für Tag mit Gefühlen beschossen wird, gefühllos? Weil sein Herz mit einer Droge abhängig gemacht wird, die es unberührbar für die natürliche Umgebung macht, und die nach immer mehr „Empfindung“ ruft?

Deshalb muss der Reiz intensiver werden. Permanent werden im Körper stärkere neue Gefühlen hochgeladen, die sich aus den Bildern lösen wie ätherische Dämpfe aus Lacken und die nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun haben. Dies gilt für die Unterhaltung genauso wie für die täglich veröffentlichte Meinung, die keine Resonanz in der nächsten Nähe findet. Sie hakt nicht ein, um es einmal mechanistisch auszudrücken. Besonders junge Leute inhalieren diese Dämpfe voller Gier, sind sie doch besonders betroffen, da sie noch wesentlich aufnahmefähiger und durchlässiger sind als ältere Menschen.

Entertainment

Ein Beleg dafür, dass Gefühle von außen geschaffen werden, ist die Rolle der Selbstjustiz in Kinofilmen und ihrer emotionalen Bewertung. Menschen in meinem Alter (Jahrgang 62) haben die Entwicklung vor Augen. Ich kann mich noch an Szenen erinnern, wo der Täter, von seinem Opfer mit einer Waffe bedroht, nicht erschossen wird, weil der Polizist, verkörpert als Mann der Gerechtigkeit, das Opfer überredet, dies nicht zu tun, um den Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen.

Beim Zuschauer, zumindest bei mir, blieb immer ein Unwohlsein zurück, weil die Gefühle dermaßen getrimmt und in eine Enge getrieben worden waren, dass man als Zuschauer lieber abgedrückt hätte. Aber da war der Rechtsstaat, dieses unangenehme Gegenüber, der sich über diese Gefühle stellte.

Wie anders ist es heute. Die auf die Spitze getriebenen Gefühle finden nur Erlösung in einer direkten Tötung ohne Gerichtsverhandlung. Es wird kein Verständnis mehr gefordert für die Zusammenhänge. Vielmehr wird der Täter, der die Ordnung zerstört oder sie zumindest bedroht, sofort liquidiert. Das Gefühl, von außen getriggert, hat über den Rechtsstaat gesiegt.

Ein gutes Beispiel ist der Film „Equalizer“ mit dem Schauspieler Denzel Washington in der Hauptrolle. Die Figur tritt mit einem totalitären Führungsanspruch auf. Ruhig, selbstsicher, überlegen schafft sie Gerechtigkeit. Nicht mittels Justiz, sondern mittels Kampfkraft. Dahinter steckt die beim Zuschauer evozierte unerträgliche Melancholie, etwas tun zu müssen, was die Institutionen nicht mehr zustande bringen, selbst wenn er dadurch scheinbar moralisch diskreditiert wird.

Überhöht wird das Ganze durch eine Perfektion, die übermenschlich ist, was bereits auf das transhumanistische Phantasma hindeutet. Die Tötungen der Figur des „Equalizer“ sind perfekt, rational, effektiv wie eine Maschine oder die Wissenschaft. Ein Anfangs- und ein Endpunkt werden eingegeben, dazwischen wird etwas hergestellt: ein perfektes Produkt, in diesem Fall die Tötung eines Menschen. Der Betrachter, der dieser Inszenierung nichts entgegenzusetzen hat, wird einerseits eingeschüchtert und andererseits mitgerissen.

Die Wirklichkeit wird ausgeschieden wie eine Notdurft, die nur im Heimlichen stattfindet. In der öffentlichen Wahrnehmung hat sie keinen Platz.

Die Menschen sind hilflos dagegen, weil ihre haltlose Verfasstheit keine Verankerung mehr erlaubt und sie sich in einem Phantasma einrichten, das ihr unerträgliches Angestelltendasein erträglich macht. Niemand ist frei davon, auch die Kritiker dieser Sphäre sind darin gefangen und können sich nicht befreien. Nur wer es erkennt, kann es zumindest verstehen. Aber was heißt das schon.

Eine Kraft jedoch wirkt dieser Energie entgegen und das ist die der Verwurzelung. Weder im Sinn einer Blut- und Boden–Theorie noch von heimatlich sentimentalen Gefühlen oder gar von Nationalismus möchte ich das verstanden wissen, sondern im Sinne eines inneren Lichts, wie es Simone Weil genannt hat, das für eine innere Verwandtschaft aller Menschen miteinander steht.

Die Unberührbaren

Ich sehe sie oft auf den Straßen oder in Restaurants, wo sie sich gegenübersitzen. Sie haben ein Gerät in der Hand. Ein rechteckiges flaches Etwas. Darauf starren sie. Wischen mit leichten Bewegungen darüber, holen es aus Taschen, sobald sie sich setzen und stecken es in diese, wenn sie aufstehen. Der Blick bleibt gesenkt. Die eigene Umgebung gibt es nicht mehr.

In Bewegung, wenn sie auf Straßen gehen, tun sie dies mit einer traumwandlerischen Sicherheit, denn sie traumwandeln ja auch. Jedes Hindernis ist ihnen eine Belästigung, jede reale Berührung reißt sie aus ihrem virtuellen Raum. Selbst Kinder werden zur Last, sind Unterbrechung statt Anregung. Stellt sich ihnen jemand in den Weg, werden sie ungehalten oder sind zumindest irritiert, weil sie in eine Wirklichkeit gestoßen werden, die sie nicht wollen.

Die Welt um sie herum ist für sie belanglos. Ihre Schönheit und Vielfalt, die Menschen schon seit Jahrtausenden inspiriert haben, existiert nicht mehr in diesen Köpfen. Sie zehren nicht mehr davon, begreifen die nächste Nähe nur als ein Ärgernis, das es, wenn möglich, zu ignorieren gilt, und wenn es doch unausweichlich ins Leben tritt, zur Not flüchtig wahrnimmt.

Durch die fremden Gefühle, die in Menschen wuchern und sie allmählich deformieren, entsteht eine irritierende Feindschaft gegenüber der nächsten Nähe, der Wirklichkeit. Alles, was aus dieser kommt, wird als Angriff verstanden und aus der Fülle künstlicher Gefühle in ihnen bewertet und beantwortet. Diese Diskrepanz, dieser Abstand ist längst neurotisch und hysterisch. Besonders gefühlsbetonte Menschen erliegen dieser „Mechanik“.

Somit emotionalisieren sie ihre Umgebung. Sie bauen Luftschlösser, in die nur ihresgleichen Zugang haben. Die anderen werden zu Feinden, zuerst nur an der Oberfläche dieser Emotionen, die zum Herbeisehnen eines Atomkriegs einladen. Irgendwann aber werden diese gezüchteten Emotionen selbst real, verformen sich zu einer pervertierten Nähe und in dieser Zuspitzung wird der Atomkrieg sehr schnell real. Die gezüchtete Emotion zerstört Körper, Landschaft, Gemeinwesen, zerstört die Topografie von Stadt und Land, überhaupt die realistische Einschätzung jeder analogen Nähe.

Ganz am Ende liegt dem allem die Angst zugrunde, die Angst, eine eigene Person zu sein, die sich mit ihrer nächsten Nähe in Beziehung setzen und Standpunkte einnehmen muss. Oder um es mit Hannah Arendt zu sagen: die Angst, zur Welt zu kommen.

Gefühlsgeboren zu sein ist leicht. Man kommt da nicht zur Welt, sondern zu einem abgeschauten Ich, aufgelöst in Bildern ohne Wirklichkeit.


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