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Blut, Schweiß und Russenfeindlichkeit

Blut, Schweiß und Russenfeindlichkeit

Ein kritische Auseinandersetzung mit Winston Churchill liefert rückblickend ein besseres Verständnis für die heutigen geopolitischen Verwerfungen.

Auf dem Weg zur militärischen und politischen Großmacht mussten die USA einige empfindliche Rückschläge hinnehmen. Ich nenne die russische Oktoberrevolution, welche die damals erst schwach entwickelte Fokussierung der USA auf alleinige Weltherrschaft von vornherein im Keim erstickte; den Verlust an Einfluss auf Osteuropa als geopolitisches Resultat des Frontverlaufs am Ende des Zweiten Weltkriegs und die Niederlage im Vietnamkrieg, auf dessen Folgen für die USA vorliegender Beitrag allerdings nicht eingehen wird. Bislang fand diese große und mächtige Nation stets Mittel und Wege, so zu reagieren, dass sich der Schaden für das Land und seine Menschen in Grenzen hielt. Ob sich das entscheidend ändern wird, kann man derzeit nicht sagen.

Versailles und die Folgen

Als Antwort auf die Oktoberrevolution machten die USA ihren Einfluss in den Versailler „Friedens“-Verhandlungen dahingehend geltend, ihr strikt antikommunistisches System liberaler parlamentarischer Herrschaft als Alternative zur Bolschewisierung nach Europa zu exportieren. Das schien zunächst zu gelingen, allerdings am wenigsten fruchtend in Osteuropa und auf dem Balkan. Im Zuge der völlig unausgegorenen, ahistorischen, ärger noch: sich über die gewachsenen historischen Bedingungen achtlos hinwegsetzenden und von den Völkern daher als extrem ungerecht empfundenen Ordnungsvorstellungen von Versailles entglitt ihnen die Kontrolle immer mehr, und der Aufstieg des Faschismus und Nationalsozialismus hob an.

Dieser Entwicklung gegenüber verhielten sich die USA wie die sprichwörtlichen drei Affen und zogen sich zurück, bis sie durch den Angriff der Japaner auf Pearl Harbor unsanft daran erinnert wurden, nicht allein auf der Welt zu sein. Wenn man daraus aber die Lehre ziehen wollte, dass die USA bei mehr außenpolitischem Engagement die einzige Versicherung gegen den Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus gewesen wären, dann läge man vollkommen falsch. Und es ist die große Schwäche des dritten Teils des ansonsten unübertroffen informativen Buchs von Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, die drei „Totalitarismen“, von einem deutlich als vorgefasst erkennbaren, aber nicht explizit eingestandenen linksliberalen, in den 1960er-Jahren in den USA noch weit verbreiteten Standpunkt einer für ihre Aufnahme als Flüchtling vor den Nazis dankbaren amerikanischen Neubürgerin aus, in einen Topf geworfen zu haben.

Schlagartig driftet ihre Argumentation ins Belehrende. Ich sehe sie förmlich mit dem erhobenen Zeigefinger wedeln.

Wenn der Nürnberger Prozess eins gezeigt hat, dann dass das amerikanische Rechtsverständnis kein taugliches Mittel zur Analyse und Aufarbeitung der Epoche des Faschismus und Nationalsozialismus gewesen ist. Im Gegenteil, es hat in Deutschland und Österreich selbst zu einer völlig inadäquaten, legistischen, verbotsorientierten Gewissensberuhigung geführt.

Daher wurden die hervorragenden Arbeiten von Ernst Nolte, für mich wahre Meisterleistungen historischer Analysen, als Störung empfunden, wie der sogenannte Historikerstreit zeigte. Dass Deutschland nach wie vor eine bellizistische Nation ist, kann so mangels im Volk verankerter Tiefenanalyse seiner historischen Verbrechen geflissentlich unter den Teppich gekehrt werden.

Churchill, der Stratege

Der eigentliche Nachkriegsstratege auf westlicher Seite ist der Engländer Winston Churchill. Nachdem der Stern des britischen Empires im Verlauf des Zweiten Weltkriegs endgültig verglüht war, sprangen die USA, die im Westen den Status eines glorreichen Siegers erreicht hatten, nur allzu gerne in die Bresche und setzten mit ihrer neu gewonnen Macht in die Praxis um, was der Engländer gedanklich vorformulierte.

Realpolitisch waren die USA längst an die Stelle des Empires getreten, hatten Unmengen an Dollar in das trotz seiner militärstrategisch günstigen Insellage an der Niederlage entlangschrammende Land gepulvert und dessen Verschuldung dazu benützt, aus ihm den kriegspolitisch verlässlichsten europäischen Vorposten zu machen.

Churchill mag ein großer konservativer Staatsmann und zweifellos ein scharfer Geist gewesen sein, aber ohne die amerikanische Macht im Hintergrund wäre er nach dem Krieg nie zu seiner auratischen Ausstrahlung aufgestiegen.

Nachdem es in diesen Tagen nahezu unvermeidlich ist, einen elenden Schwätzer wie den ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyj, per Videowall in irgendein x-beliebiges Parlament des „freien Westens“ zugeschaltet, eine seiner salbungsvollen Reden halten zu hören und dann auch noch einen Vergleich mit Winston Churchill ertragen zu müssen, möchte ich an die originalen Weltordnungsentwürfe dieses englischen Staatmannes erinnern, wie er sie während des Krieges und kurz danach in zahlreichen Schriften und Reden dargelegt hat. Interessant ist, dass er als „Sieger des Kriegs“ 1945 entgegen allen Erwartungen eine krachende Wahlniederlage erlitten und daher viel Zeit und Lust hatte, geschichtsträchtige Reden zu schwingen.

Aus dem Fundus greife ich an erster Stelle eine frühere Rede aus dem Jahre 1946 und eine spätere aus dem Jahre 1950 heraus. Die 46er-Rede nicht deswegen, weil sie so berühmt geworden ist, sondern weil sie Gedanken enthält, die bis in die Gegenwart die Weltsicht der „englischsprachigen Welt“ — ein Lieblingsterminus von Churchill — zum Ausdruck bringen und dort wie eine unverrückbare Doktrin gehandhabt werden. Die 50er-Rede als Fortsetzung vor dem Hintergrund des nach dem Krieg in rascher Folge aus dem Boden schießenden Netzwerks an zivilen Ordnungs- und militärischen Verteidigungseinrichtungen.

Am 5. März 1946 trat Winston Curchill in den USA in der Stadt Fulton, Missouri, vor eine aus amerikanischen College-Studenten zusammengesetzte Zuhörerschaft und sagte unter anderem (1):

„Von dem her, was ich während des Kriegs bei unseren russischen Freunden und Alliierten beobachten konnte, bin ich überzeugt, dass sie nichts mehr bewundern als Stärke und dass es nichts gibt, gegenüber dem sie weniger Respekt haben als gegenüber Schwäche, insbesondere gegenüber militärischer Schwäche. Aus diesem Grund ist die alte Doktrin des Gleichgewichts der Mächte morsch. Wir können es unter diesen Bedingungen nicht zulassen, auf Basis eines knappen Vorsprungs zu arbeiten und damit Anreize zur Austestung des Kräfteverhältnisses zuzulassen. Wenn die westlichen Demokratien in enger Geschlossenheit zu den Prinzipien der UN-Charta stehen, wird ihr Einfluss auf die Erweiterung dieser Prinzipien immens sein, und niemand wird versuchen, ihnen zuwiderzuhandeln. Falls sie jedoch aufgeweicht und ihre Befolgung lax gehandhabt werde, und diese alles entscheidenden Jahre ungenutzt verstreichen, dann wird uns die Katastrophe in der Tat in den Abgrund reißen. (…)

Niemals in der Geschichte wäre ein Krieg durch zeitgerechtes Eingreifen leichter zu vermeiden gewesen als dieser, der solch große Gebiete auf dem Globus verwüstet hat. Nach meinem Dafürhalten hätte er vermieden werden können, ohne einen einzigen Schuss abgefeuert zu haben, und Deutschland stünde heute mächtig, wohlhabend und respektiert da. Aber niemand wollte hören, und ein Land nach dem anderen wurde in den unheilvollen Strudel gerissen. Ganz gewiss dürfen wir nicht zulassen, dass sich das wiederholt. Das kann nur ausgeschlossen werden, wenn jetzt, 1946, eine gute Verständigung in allen Punkten mit den Russen unter der allgemeinen Autorität der Vereinten Nationen erreicht wird und diese guten Beziehungen für lange Jahre von diesem Welt-Gremium mit der ganzen Stärke der englischsprachigen Welt mit all ihren Verbindungen im Hintergrund sichergestellt werden“ (Übersetzung des Autors).

Was sich für die Ohren amerikanischer College-Studenten, also englischsprachiger Zuhörer, im Stadium ihrer Ausbildung mit Blick auf ihren Einzug in die Elite des Landes wunderbar angehört haben mag, zumal die Sowjetunion 1946 noch halb und halb als ein Verbündeter der USA galt, enthält im Kern das Weltbild des Westens. Bezeichnend ist zudem die penetrante Überlegenheitspose dieses in der letzten Phase des britischen Empires groß gewordenen imperialistischen Kommunistenfressers. In Reaktion auf die russische Oktoberrevolution hatte er von der „bolschewistischen Pest“ gesprochen. Weltbild und Auftritt des Engländers beeindruckten die Amerikaner schon eine ganze Weile, und je weiter das britische Empire absank, desto ungebremster übernahmen sie jene, die die amerikanische Außenpolitik bestimmten. Am Weltbild hat sich nichts Wesentliches geändert, die Penetranz des Überlegenheitsgefühls des vereinigten Westens hat sich eher noch verschärft. Das geht der übrigen Welt zunehmend auf den Geist.

Nur einen kurzen historischen Moment lang, nämlich während dieser Übergangsphase vom realen in den kalten Krieg 1946 hatte Churchill angesichts der neuen geopolitischen Realitäten Kreide gefressen und nannte „Marschall Stalin“ einen Kameraden. Vermutlich hatte er dem anwesenden amerikanischen Präsidenten Truman, der sich bereits mitten in den Vorbereitungen des zum Kalten Krieg befand, vorab zugeflüstert, das müsse er sagen, um das darniederliegende westliche Europa nicht in Angst und Schrecken gegenüber Moskau zu versetzen. Auch wenn er sich vor den amerikanischen Studenten gegenüber der Sowjetunion, der alleinigen Kontrollmacht von ganz Osteuropa und eines erheblichen Teils Deutschlands, als Demokratie-Herold mächtig ins Zeug legte, glaube ich, dass Churchill die osteuropäische Hemisphäre für verloren hielt.

Das ist, so meine ich, der eigentliche Sinn seines berühmten Sagers vom „Eisernen Vorhang“. Sämtliche, erst als bloße Gedanken in seinem Kopf herumschwirrende Pläne, den Krieg in Form eines „Befreiungskriegs“ Russlands fortzusetzen, wurden ad acta gelegt. Außerdem stand die Welt nach dem Abwurf der beiden Atombomben über Japan angesichts der verheerenden Wirkung dieser Waffe so unter Schock, dass das Wort „Krieg“ bei den Menschen Schrei- und Heulkrämpfe oder hysterisches Gelächter auslöste. Verbal angriffslustig blieb Churchill allemal (2):

„Wir können uns vor der Tatsache nicht verschließen, dass die Freiheiten, deren sich der Bürger im ganzen britischen Empire erfreut, in zahlreichen Ländern, von denen einige sogar sehr mächtig sind, nicht bestehen. In diesen Ländern wird der Bürger allen Arten der Kontrolle unterstellt, und zwar in einem Maße, das den Grundsätzen der Demokratie zuwiderläuft. Die Macht des Staates wird schrankenlos ausgeübt, sei es durch Diktatoren oder durch gewisse politische Parteien und politische Polizeiorganisationen. Es ist heute, wo es so viele Schwierigkeiten gibt, nicht unsere Pflicht, uns mit Gewalt in die inneren Angelegenheiten von Ländern einzumischen, die wir im Krieg nicht besiegt haben, aber wir dürfen nie aufhören, furchtlos die großen Prinzipien der Freiheit und der Menschenrechte zu proklamieren, die das gemeinsame Erbe der englischsprechenden Welt sind.

Ein Schatten ist auf die Erde gefallen, die erst vor Kurzem durch den Sieg der Alliierten hell erleuchtet worden ist. Niemand weiß, was Sowjetrussland und die kommunistische internationale Organisation in der nächsten Zukunft zu tun gedenken oder was für Grenzen ihren expansionistischen und Bekehrungstendenzen gesetzt sind, wenn ihnen überhaupt Grenzen gesetzt sind. Ich habe hohe Achtung und Bewunderung für das tapfere russische Volk und meinen Kameraden aus der Kriegszeit, Marschall Stalin. Großbritannien — und sicher auch Amerika — empfindet für die Völker Russlands Sympathie und Wohlwollen, und es ist entschlossen, trotz aller Differenzen und Rückschläge unentwegt an der Errichtung einer dauernden Freundschaft mit Russland zu arbeiten. Wir verstehen, dass Russland seine Grenzen im Westen gegen einen eventuellen neuen deutschen Angriff sichern muss.

Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist ein ‚Eiserner Vorhang‘ über den Kontinent gezogen. Hinter jener Linie liegen alle Hauptstädte der alten Staaten Zentral- und Osteuropas: Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia. Alle jene berühmten Städte liegen in der Sowjetsphäre, und alle sind sie in dieser oder jener Form nicht nur dem sowjetrussischen Einfluss ausgesetzt, sondern auch in ständig zunehmendem Maße der Moskauer Kontrolle unterworfen.“

Interessant zu sehen, dass keine einzige der aufgezählten „Hauptstädte der alten Staaten Zentral- und Osteuropas“ sich mehr in der „Sowjetsphäre“ und auch nicht in der vielbeschworenen russischen „Putin-Sphäre“ befindet. Es kann also nur der Churchill‘sche Expansionismus seiner starken „englischsprachigen Welt“ gewesen sein, der diese „Befreiung“, diesen Wechsel in den Orbit von Democracy und Freedom, Prosperity und Security möglich gemacht hat. Dank NATO!

Churchills Weltsicht als Triebkraft der NATO

Kurz einige historische Stichworte vorab: „Am 5. Mai 1949 (wurde) der Europarat gegründet, an dessen erster Zusammenkunft Churchill selbst teilnahm. Sein Aufruf wurde als Antrieb für die weitere Integration betrachtet, die später auf der Konferenz von Messina im Jahr 1955 beschlossen wurde. Dies wiederum führte zwei Jahre später zur Unterzeichnung der Römischen Verträge. Auch die Idee der Schaffung einer ‚Europäischen Armee‘ geht auf Churchill zurück. Diese sollte dem Schutz des Kontinents und der Diplomatie in Europa Nachdruck verleihen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wurde 1959 gegründet, ein Jahrzehnt nachdem sich Churchill erstmalig für diese Idee eingesetzt hatte“ (3).

Churchill als Hansdampf, unterwegs überall dort, wo es galt, antisowjetische Bollwerke zu errichten. Kreide fraß er bis an sein Lebensende keine mehr.

Was ist nun diese „Europäische Armee“? Hat es sie je gegeben? Heißt sie nicht so? Ist daraus vielleicht die NATO geworden und hat Churchill irgendetwas mit der Gründung der NATO zu tun? Viele Fragen, auf die ich nun so konzis wie möglich antworten möchte.

Die westlichen Nachkriegsplaner, und das waren nun einmal England und die USA, gehen an zwei Fronten vor. Zunächst an der zivilen, indem sie den Europarat aus der Taufe heben. Und dann an der militärischen durch die Gründung der NATO. Eine sehr instruktive Arbeit an der Universität Konstanz von Philipp Fraund, „Die Anfänge der Bundeswehr vor dem Hintergrund der internationalen Lage 1949 bis 1953“, untersucht die Planungsschritte im Adenauer-Staat, den Wunsch Westdeutschlands nach Wiederbewaffnung in das übergeordnete Konzept der Neuaufstellung eines antisowjetischen Verteidigungsbündnisses zu integrieren. Das war kein einfaches Unterfangen, denn eines der Hauptziele der Potsdamer Konferenz war die Entmilitarisierung Nazideutschlands gewesen. Fraund, dessen Arbeit „auf Anregung der Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam“ entstand und die daher voller Einsicht in die Notwendigkeit der Wiederbewaffnung Westdeutschlands und der Gründung der NATO ist, beschreibt nun all die Purzelbäume in erster Linie des Adenauerstaates, aus dem armseligen Zustand, ohne Waffen dazustehen, herauszukommen.

Es werden viele „unbelastete“ Militärs genannt, die das Aufbauwerk der Bundeswehr mit Begeisterung in Angriff nahmen. Das absolut Interessante ist aber nun das Zusammenwirken der militärischen mit der zivilen Front. An dieser ist der alte Haudegen und Kommunistenfresser Churchill am 11. August 1950, laut Fraund „das Entscheidungsjahr“, tätig, indem er vor der „Beratenden Versammlung des Europarats“ einen Antrag einbringt, endlich mehr für die Aufstellung einer gegen die Sowjetunion gerichteten europäischen Armee zu unternehmen und sich sicherheitspolitisch nicht nur auf die amerikanischen Atombomben zu verlassen. In seinem Sicherheitsvorschlag gehen die zivile und die militärische Front ineinander auf.

Das erinnert mich frappant an die Gegenwart, in der diese Vermischung maximal fortgeschritten ist. Zum Auftritt Churchills, seinen Antrag im August 1950 mit einer geharnischten Rede zu untermauern, blende ich im Sinne einer Erweiterung des Blickwinkels vorab einen kurzen Ausschnitt aus einem Vortrag von einem gewissen Dr. Winfried Heinemann, „Entstehung und frühe Geschichte der NATO”, ein (4):

„1947 ist das Jahr, in dem die westeuropäischen Mächte ein erstes sicherheitspolitisches Bündnis schließen. Nur ganz zögerlich, aber Großbritannien und Frankreich unterzeichnen am 4. März 1947 in Dünkirchen — welche Symbolik! — ein Bündnis für den Fall, dass einer der beiden Partner ‚von Osten‘ angegriffen werden würde. ‚Von Osten‘ hieß natürlich für Frankreich Anfang 1947, keine zwei Jahre nach Kriegsende, ‚von Deutschland‘ und erst in zweiter Linie ‚durch die Sowjetunion‘. ‚Von Osten‘ — das ließ erkennen, dass auch Anfang 1947 die Hauptbedrohung für den Frieden in Europa noch immer in einem wiedererstehenden Deutschland gesehen wurde. (…) Am 17. März 1948 wurde das bilaterale Bündnis von Dünkirchen im Brüsseler Vertrag um die Benelux-Länder zur Westunion erweitert. Zum ersten Mal wurde Deutschland nicht mehr als potenzieller Aggressor erwähnt — aber doch immer noch mitgedacht. Letztlich war eine sichere innenpolitische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Europas langfristig nur denkbar, wenn die USA sich verbindlich für die Sicherheit der Region im Angesicht der sowjetischen Bedrohung engagierten. Und diese Bedrohung wuchs: Im Sommer 1948 begannen die Sowjets den Versuch, die drei Westmächte durch die Unterbrechung der Zufahrtswege aus Westberlin hinauszudrängen; im Oktober streikten die kommunistisch gesteuerten Bergarbeiter in Frankreich. Drohten innere Unruhen, verbunden mit außenpolitischem Druck, Westeuropa unter sowjetischen Einfluss zu bringen? Diese Überlegungen waren es, die vor allem in London die Idee reifen ließen, das Bündnis der Westunion um eine Sicherheitsgarantie der USA zu ergänzen, ja, es zu einem Bündnis auf der Basis gegenseitiger Sicherheitsgarantie aller Anrainerstaaten des Nordatlantiks zu erweitern“.

So war das geopolitisch gesehen. Daraus wurde dann 1949 die NATO. Und im August 1950 tritt Churchill vor die „Planende Versammlung des Europarats“, ein an sich ziviles Gremium, und führt aus (3):

„Es gibt nur dann eine Wiedergeburt Europas, Absicherung von Freiheit für jeden von uns, wenn wir eisern und unerschrocken zusammenhalten. Ich bitte diese Versammlung, unseren deutschen Freunden zu versichern, dass wir ihre Sicherheit und Freiheit genauso hochhalten werden wie unsere eigene, für den Fall, dass sie sich mit uns zusammentun wollen. Ich habe Gerüchte aufgeschnappt (…), wenn irgendwelche Deutschen unter Ausschluss der Kommunisten bewaffnet werden sollten, dass das dann von den Russen als Vorwand für einen Präventivkrieg benützt werden könnte. Glauben Sie mir, Herr Präsident, die von langer Hand geplanten Absichten der sowjetischen Regierung werden von Ereignissen dieser Größenordnung nicht aus dem Takt gebracht oder umgelenkt werden. Es kann aber keinen Zweifel geben, dass wir, und zwar alle, in großer Gefahr sind. Die Freiheit und Zivilisation Westeuropas liegt im Schatten von kommunistischer Aggression vonseiten eines enorm bewaffneten Russlands. Die sowjetischen Streitkräfte in Europa, gemessen an aktiven Divisionen, an Luftwaffengeschwadern, bewaffneten Fahrzeugen, übertreffen jene der westlichen Union wenigstens um sechs oder sieben zu eins. Das sind schreckliche Fakten, und es ist ein Wunder, dass wir hier in unserem neuen Haus von Europa sitzen und in aller Ruhe Pläne für eine glückliche Zukunft, Eintracht unserer Völker, ihre Moral und Kultur wälzen. Es ist ein Wunder, und wenigstens ist es besser, als in Panik zu geraten. Die Gefahr ist natürlich nicht neu. Sie ist ein Erbe des Umstandes, dass die freien Demokratien des Westens nach dem Krieg ihre Streitkräfte abgerüstet und aufgelöst haben, während die Kreml-Diktatur ihre gigantischen Armeen bestehen ließ und unermüdlich mit allen Mitteln daran arbeitete, sie wieder unter Waffen zu bringen. (…)

Abgesehen davon, dass in England eine Basis für die amerikanische Bomberstaffel entstanden ist, wurde nichts unternommen, unseren Völkern einen effektiven Schutz davor angedeihen zu lassen, von den russischen Armeen mit ihrer massenhaften Ansammlung von Bodentruppen und Flugzeugen unterjocht, wenn nicht gar ausgelöscht zu werden. Ich und andere haben uns ins Zeug gelegt, was wir konnten, und gewarnt, aber es stieß wie in der Vergangenheit auf taube Ohren oder wurde für den falschen Vorwurf herangezogen, wir begingen „Kriegstreiberei“. (…) Nach einer gewissen Zeitspanne unter kommunistischer russischer Besatzung würde nicht mehr viel vorhanden sein, wie M. Reynaud aufgezeigt hat, was man befreien könnte. Die systematische Liquidierung aller der kommunistischen Welt gegenüber feindselig eingestellten Elemente würde wenig übrig lassen, das von den Rettungskräften der Überlebenden anerkennenswert wäre. (…) Es muss — und zwar in der kürzest möglichen Frist — eine wirkliche Verteidigungsfront in Europa geschaffen werden.

Großbritannien und die USA müssen große Truppenkontingente auf den Kontinent verlegen. Frankreich muss seine formidable Armee wiederbeleben. Wir heißen unsere italienischen Kameraden willkommen. Alle — Griechenland, Türkei, Holland, Belgien, Luxemburg, die skandinavischen Länder — müssen ihren Anteil übernehmen, so gut sie können. (…) Wir existieren nach wie vor unter dem Schutzschirm der sich in ausreichender Menge nur im Besitz der USA befindlichen Atombombe. Der Einsatz dieser Waffe würde die Grundfesten der sich über die ganze riesige Fläche Russlands erstreckenden Sowjetregime erschüttern, und der Zusammenbruch der Kommunikation und Zentralgewalt würde die tapferen russischen Menschen in die Lage versetzen, sich eigenständig aus dieser weit übleren Diktatur als der zaristischen zu befreien. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass solche Aussichten eine zuverlässige Abschreckung sowjetischer Aggression darstellen, zumindest so lange, bis sie in einem längeren Prozess ein ausreichendes eigenes Arsenal an Atombomben aufgebaut haben werden“ (Übersetzung des Autors).

Ich denke, man erkennt ohne langatmige Interpretation, dass sich Churchills antisowjetische Weltsicht zur Doktrin verfestigt hat, an der auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine wesentlichen Korrekturen vorgenommen wurden.

Aus einem antisowjetischen entstand nahtlos ein antirussisches Narrativ. Der Nachteil der Verwendung von Doktrinen ist, dass sie historische Veränderungen, geopolitische Plattenverschiebungen, nicht zur Kenntnis nehmen und dass jene, die ihnen stursteif anhängen, den Veränderungsprozessen gegenüber mit Einigelung reagieren.

Zum Schluss möchte ich mit dem Gedanken spielen, dass Russland ohne den Erfolg der russischen Oktoberrevolution als ehemalige Adelsgesellschaft genauso wie alle anderen derartigen europäischen Adelsgesellschaften ins Fahrwasser des Faschismus geraten wäre. Es hätte keine Macht auf Erden gegeben, die eine solche Entwicklung hätte stoppen können. Kein Zweiter Weltkrieg — dafür ein euroasiatischer Kontinent voll blühender Faschismen. Die liberale Elite Englands hätte sich mit ihrer Kriegs- und Bomberflotte nach Amerika und Kanada abgesetzt, und alle diejenigen, die nicht drauf- und hineinpassten, hätten Schlauchboote benützen müssen, um über den Atlantik hinüber zur Landmasse zu gelangen, was natürlich niemals zu schaffen gewesen wäre. Daher hätten sie, um zu überleben, Asche auf ihr Haupt gestreut und sich mit dem faschistischen euroasiatischen Koloss arrangiert, und Hitler hätte genauso wie in Österreich und anderswo bestimmt, wer England regiert. Faschisten gab es dort genug.

Churchill traue ich zu, dass er solche Gedanken gewälzt oder in seinen ewig kommunistenfressenden Horrorträumen durchgespielt hat. Als konservativer Antifaschist und in tiefster Seele Realist geblieben, fraß er nun in der Not Englands — nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor und nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion jäh aus allen Träumen gerissen — zeitbegrenzt „rote Kreide“ und plädierte für eine Allianz mit Stalin, der die Amerikaner, wenn auch höchst widerwillig, zustimmten. So konnte der euro-japanische Faschismus schließlich militärisch besiegt werden. Eine lange von den Siegern garantierte, um den Preis der ideologischen und lebensweltlichen Spaltung der Welt im Kalten Krieg erkaufte Friedensphase folgte. Bis der Machtapparat der Sowjetunion, der bis in die späten Achtzigerjahre Osteuropa und weite Teile des asiatischen Kontinents dominierte, aus tausenderlei, tiefenanalytisch nicht ausreichend erforschten, Gründen, kollabierte; ein Vorgang, auf den der Westen, vor allem Churchills „englischsprachige Welt“, bislang mit bloß antirussischen, liberalistischen, aus dem Bauchraum kommenden Reflexen reagierte.

Dieser Kollaps setzte alle möglichen geopolitischen Triebkräfte in Bewegung, auf die ich bereits in früheren Artikeln versucht habe Aufmerksamkeit zu lenken. Eine kritische Sichtung Churchills ist wichtig, um die jetzige Zeitenwende — und das ist sie zweifellos — noch besser aufarbeiten zu können.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Winston Churchill, Rede Fulton 1946, 1. Abschnitt; https://www.nationalchurchillmuseum.org/winston-churchills-speeches.html
(2) Winston Churchill, Rede Fulton 1946, 2. Abschnitt: Jürgen Weber (Herausgeber), 30 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Band II: Entscheidungsjahr 1948, München 1979, Seite 34 folgende
(3) Winston Churchill, Rede vor dem Beratungsgremium des Europarates, August 1950: file:///C:/Users/USER/Desktop/Winston%20Churchill/Rede%20%20churchill%20August%201950%20vor%20dem%20COUNCIL%20%20OF%20EUROPE.pdf
(4) Vortrag Dr. Winfried Heinemann, in: Philipp Fraund, Die Anfänge der Bundeswehr vor dem Hintergrund der internationalen Lage 1949 – 1953, Konstanz 2002, Seite 113


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