Zum Inhalt:
Brandstifter und Schlafwandler

Brandstifter und Schlafwandler

Vor genau vier Jahren formulierte Russland unmissverständlich seine Sicherheitsinteressen und unterbreitete dem Westen Vorschläge zur internationalen Zusammenarbeit. Eine Einigung blieb aus — mit verheerenden Konsequenzen.

Die westliche Ukraine-Berichterstattung weist nicht erst seit Kriegsbeginn eine Reihe bemerkenswerter weißer Flecken auf. So gut wie niemand hierzulande weiß beispielsweise, dass der dem Westen sehr nahestehende Boris Jelzin schon im März 1997 — Jahre bevor Wladimir Putin an die Macht kam — im Vorfeld der ersten NATO-Osterweiterung gegenüber dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton drohte, spätestens mit einem NATO-Beitritt der Ukraine würde für Russland klar eine rote Linie überschritten. Man erkennt hier sehr deutlich, wie alt diese Option für den Westen ist — und wie tief die russischen Ängste davor verwurzelt sind.

Weiße Flecken in der westlichen Ukraine-Berichterstattung

Dass Kiew, mit offensichtlicher Duldung des Westens, über sechs Jahren lang seinen zentralen Verpflichtungen aus dem Minsk-II-Abkommen — insbesondere der Verabschiedung einer Verfassungsreform bis Ende 2015 (!) im Sinne einer Dezentralisierung unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Gebiete Donezk und Lugansk („Südtirol-Lösung“) — nicht nachkam, wurde hierzulande bestenfalls am Rand thematisiert.

Ende 2022 — „böse Zungen“ hatten es längst vermutet — ließ dann Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel die Katze aus derm Sack: Es sei darum gegangen, Zeit zu gewinnen, um die ukrainische Armee in der Zwischenzeit kampffähig zu machen.

Frankreichs Ex-Präsident François Hollande und der ehemalige Präsident der Ukraine Petro Poroschenko hatten dies zuvor bereits bestätigt.

Wenig bekannt ist im Westen auch, dass die Ukraine schon im Jahre 2021 — lange vor dem russischen Überfall — nicht nur „im Karabachkrieg 2020 bestens bewährte“ türkische Kampfdrohnen vom Typ Bayraktar TB2 kaufte und gegen die Rebellenstellungen in Donezk abfeuerte, sondern auch bereits mit der Türkei über eine Lizenzproduktion verhandelte.

Nahezu unbekannt ist bis heute jedoch die Tatsache, dass die USA bereits seit Mitte der Neunziger Jahre unter dem Etikett „Rapid Trident“ (früher: „Peace Shield“) jährlich auf dem Gebiet der Westukraine Manöver mit ukrainischen Truppen durchführten. Zuletzt geschah dies vom 20. September bis 01. Oktober 2021 — gemeinsam mit Soldaten aus Bulgarien, Kanada, Georgien, Deutschland, Großbritannien, Italien, Jordanien, Moldau, Pakistan und Polen. Gleiches gilt für die Marinemanöver „Sea Breeze“ der USA vor der ukrainischen Schwarzmeerküste, die seit 1997 regelmäßig stattfanden. Im Sommer 2021 waren Einheiten aus nicht weniger als 32 Staaten beteiligt.

Man stelle sich die Reaktion des Westens vor, hätte Russland jährlich zusammen mit Soldaten aus Belarus, Serbien, China, Kuba, Venezuela, dem Iran und anderen Staaten Truppenübungen in Mexiko oder Marinemanöver im gleichnamigen Golf vor der Küste Floridas durchgeführt!

Völlig unbekannt ist schließlich die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 24. März 2021 — also genau elf Monate vor dem russischen Überfall — das Dekret Nr. 117 unterzeichnete. Damit setzte er die „Strategie zur De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“ des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März in Kraft. Das Dekret kündigte die Vorbereitung von Maßnahmen an, um „die vorübergehende Besetzung“ der Krim und des Donbass zu beenden, und beauftragte die Regierung mit der Erstellung eines entsprechenden „Aktionsplans“.

Am 30. August 2021 unterzeichneten die USA und die Ukraine einen Vertrag über militärische Zusammenarbeit, am 10. November 2021 folgte ein Abkommen über eine „Strategische Partnerschaft“. Darin heißt es unter anderem wörtlich:

„Die Vereinigten Staaten beabsichtigen, die Bemühungen der Ukraine zur Bekämpfung der bewaffneten Aggression Russlands zu unterstützen, unter anderem durch die Aufrechterhaltung von Sanktionen und die Anwendung anderer relevanter Maßnahmen bis zur Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen.“

Das Sündenregister des Westens

Doch auch im direkten bilateralen Verhältnis zu Russland betrieb der Westen über Jahrzehnte hinweg eine Politik der Eskalation. Das Sündenregister ist lang: fünf NATO-Erweiterungen seit 1999 bis unmittelbar an die Grenzen Russlands mit insgesamt 14 neuen Mitgliedern; die Nichtratifizierung beziehungsweise Kündigung nahezu aller Verträge zur Abrüstung und Rüstungskontrolle — darunter der A-KSE-Vertrag über die Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa, der ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (2001), der INF-Vertrag, der die Herstellung und Stationierung landgestützter Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern untersagte (2019), sowie der Open-Skies-Vertrag, der durch gegenseitige Überflugrechte vertrauensbildende Transparenz (Glasnost) schaffen sollte (2020); völkerrechtswidrige Angriffskriege wie gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (1999) und den Irak (2003), die expansive Auslegung von UN-Mandaten, wie im Fall Libyen 2011; sowie höchst kreative Interpretationen der NATO-Russland-Grundakte (2016), die eigentlich die permanente Stationierung westlicher Truppen und Waffensysteme vor der russischen Haustür untersagt.. Hinzu kommt der Aufbau des weltweiten Raketenabwehrsystems Aegis mit potenziell angriffsfähigen Modulen in Rumänien und Polen.

Ende 2021 ergriff Russland dann die diplomatische Initiative und definierte gegenüber der NATO und den USA seine sicherheitspolitischen Interessen, einschließlich klar benannter roter Linien unmissverständlich.

Was Russland der NATO vorschlug …

Am 17. Dezember 2021 übermittelte Russland der NATO und den USA jeweils einen Vertragsentwurf, der Sicherheitsgarantien für beide Seiten rechtsverbindlich festlegen sollte. Aus heutiger Perspektive — mit dem Abstand von vier Jahren und vor dem Hintergrund des laufenden Krieges — lohnt es sich, noch einmal nüchtern zu betrachten, was Russland damals tatsächlich vorschlug und ob diese Forderungen wirklich so absurd und unerfüllbar waren, wie sie im Westen dargestellt wurden:

  • Beide Seiten sollten bestätigen, sich nicht als Gegner zu betrachten;
  • Rückkehr zu den Prinzipien der „gleichen und unteilbaren Sicherheit“;
  • Verzicht auf die Anwendung und Androhung von Gewalt;
  • Verzicht darauf, Situationen zu schaffen die von der jeweils anderen Seite als Bedrohung der nationalen Sicherheit wahrgenommen werden könnten;
  • Zurückhaltung bei militärischen Planungen und Übungen zur Vermeidung gefährlicher Eskalationsdynamiken („dangerous brinkmanship“), insbesondere in der Ostseeregion und über dem Schwarzen Meer;
  • Wiederbelebung des NATO-Russland-Rates und anderer bi- und multilateraler Gesprächsformate;
  • Transparenz bei militärischen Übungen und Manövern;
  • Einrichtung von Hotlines für Notfallkontakte (Revitalisierung des „Roten Telefons“);
  • Rückzug der westlichen Streitkräfte und Waffensysteme auf das Niveau vor der ersten NATO-Osterweiterung;
  • Verzicht auf die Stationierung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen in Gebieten, von denen aus das Hoheitsgebiet der jeweils anderen Seite erreicht werden kann;
  • keine weitere Ausdehnung der NATO (insbesondere nicht um die ausdrücklich genannte, Ukraine);
  • Verzicht der NATO auf militärische Aktivitäten auf dem Gebiet der Ukraine, sowie anderer Staaten Osteuropas, des Südkaukasus und Zentralasiens;
  • Einrichtung eines weitgehend entmilitarisierten Korridors zwischen NATO und Russland.

… und den USA

Der an die USA gerichtete Vertragsentwurf enthielt darüber hinaus folgende Vorschläge:

  • Bekräftigung der Erklärung, dass ein Atomkrieg keinen Sieger haben kann und dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Gefahr abzuwenden;
  • Verzicht auf gegen die andere Seite gerichtete kriegsvorbereitende Maßnahmen auf dem Territorium von Drittstaaten;
  • Verzicht der USA auf die Einrichtung von Militärstützpunkten und eine bilaterale militärische Zusammenarbeit in und mit den Staaten des postsowjetischen Raums, die keine NATO-Mitglieder sind;
  • beidseitiger Verzicht auf die Stationierung von Streitkräften und Waffensystemen außerhalb ihrer Hoheitsgebiete, die die andere Seite als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit ansehen könnte;
  • Verzicht auf Flüge schwerer Bomber und die Anwesenheit von Überwasserkampfschiffen in Regionen, von denen aus sie Ziele im Gebiet der anderen Vertragspartei treffen könnten;
  • Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes sowie Rückführung entsprechender Waffensysteme und Zerstörung der entsprechenden Infrastruktur in Drittstaaten;
  • keine Schulung von Personal im Umgang mit Atomwaffen und keine Militärübungen für deren Einsatz in Ländern, die diese nicht besitzen.

Natürlich steckte der Teufel — wie immer bei solchen Verträgen — im Detail und alle Vorschläge hätten einer intensiven Prüfung durch sicherheitspolitische und diplomatische Experten bedurft. Zudem waren die „Paketforderungen“ und der ultimative Ton, in dem die beiden Briefe gehalten waren, zweifellos undiplomatisch. NATO und USA wären aber gut beraten gewesen, die Vertragsentwürfe als das zu lesen, was sie waren: eine klare und unmissverständliche Formulierung russischer Sicherheitsinteressen. Sie hätten sorgfältig geprüft und als Ausgangspunkt für ernsthafte Verhandlungen genutzt werden müssen — mit dem Ziel, die Sicherheitslage aller Vertragsstaaten, vor allem aber Europas, auf einem möglichst niedrigen militärischen Eskalationsniveau deutlich zu verbessern.

Die Ignoranz des Westens

Am 7. Januar 2022 fand dann ein digitales außerordentliches Treffen aller 30 NATO-Staaten statt. Die Spannung war entsprechend groß: Würde die NATO auf den russischen Vertragsentwurf reagieren — und wenn ja, wie?

Aber nichts dergleichen.

Auf der abschließenden Pressekonferenz bediente Generalsekretär Stoltenberg — wie später auch US-Präsident Biden — die altbekannten Gebetsmühlen: Die NATO werde weiterhin die Ukraine und Georgien unterstützen, im Übrigen habe jedes Land, unabhängig von seiner Größe und seinen Nachbarn das Recht, seinen Weg und seine Bündnispartner frei zu wählen. Dass dies auf die Ukraine und Georgien gemünzt war, war offensichtlich.

Zu dieser Option hatte die ehemalige Moskaukorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, bereits Monate zuvor das Notwendige gesagt:

„Alle Staaten haben das Recht, bei der NATO einen Aufnahmeantrag zu stellen. Aber die NATO hat jedes Recht der Welt, Bewerber abzulehnen, wenn übergeordnete politische Überlegungen dagegen sprechen!“

Stoltenberg hingegen nutzte die Gelegenheit, um Finnland und Schweden — „Partner, mit denen wir immer enger zusammenarbeiten“ — unverhohlen auf die Warteliste zu setzen: „NATO’s door remains open!“

Sechs Wochen später begann Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine.


Finden Sie Artikel wie diesen wichtig?
Dann unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende.

Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem kleinen Dauerauftrag oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder unterstützen Sie uns durch den Kauf eines Artikels aus unserer Manova-Kollektion .

Weiterlesen

Kaputte heile Welt
Thematisch verwandter Artikel

Kaputte heile Welt

Friedrich Merz verkündet, in unsere Freiheit, Sicherheit und unseren Wohlstand zu investieren — dabei entzieht er all dem nachhaltig das Fundament.

Das Schütteln des Glases
Aktueller Artikel

Das Schütteln des Glases

Um tatsächlich etwas zu verändern, müssen die Menschen ihren Fokus von der Waffe, die auf sie gerichtet ist, auf denjenigen lenken, der sie führt.

Die Entwarnung
Aus dem Archiv

Die Entwarnung

Eine seriöse Berechnung der Inzidenzzahlen zeigt: Die Bedrohungslage für die Bevölkerung ist bei Weitem nicht so schlimm, wie behauptet wird.