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Brief an den Volontär

Brief an den Volontär

Die Corona-Warn-App hat Risiken und Nebenwirkungen.

Lieber Herr M.,

mit Interesse habe ich in der gestrigen Ausgabe „meiner“ Lokalzeitung Ihren Artikel „Installieren oder nicht?“ über die Corona-Warn-App gelesen.

Angenommen, Ihnen geht es in erster Linie darum, zukünftig vom (Tageszeitungs-) Journalismus leben zu können, dann haben Sie alles richtig gemacht. Sie gehen von den offiziellen, von „allen“ geglaubten Darstellungen aus, ergänzen sie um persönliche Erlebnisse, bewahren dabei einen milde kritischen Ton ohne weitere Konsequenzen — und das alles flüssig und ohne Rechtschreibfehler geschrieben: Herzlichen Glückwunsch! Weiter so!

Falls Sie allerdings zu denjenigen Menschen gehören sollten, die sich für den journalistischen Beruf interessieren aus Motiven, die etwas mit Aufklärung, Information, „Hinter-die-Kulissen-Blicken“ oder investigativem Journalismus zu tun haben, dann — verzeihen Sie die Arroganz eines alten Mannes — scheint Ihr Text doch eher in die Kategorie „nett und nutzlos“ zu fallen.

Die Diskussionen um Datenschutz und Akkuverbrauch setzen Sie als bekannt voraus — ok. Und ich moniere hier natürlich nicht, daß Sie auf die Besichtigung kritischer Internetseiten verzichten; man braucht da doch sehr viel Zeit und/oder spezifische Fachkenntnis, um seriöse Kritik einerseits und glaubensgewisse „Wahrheiten“ andererseits auseinanderzuhalten. Ob Bill Gates oder die Bilderberger alles von langer Hand heimlich eingefädelt haben, muß man wirklich nicht in der Lokalzeitung diskutieren. Für kritischen, aufklärerischen Journalismus reicht es für den Hausgebrauch oft schon aus, den eigenen Kopf zu benutzen und bekannte oder leicht beschaffbare Informationen aus seriöser oder offizieller Quelle zu kombinieren. Da könnte zum Beispiel auffallen: Die offizielle Story lautet, die „Warn-App“ solle die „Corona-Pandemie“ bekämpfen helfen. Kann sie das denn? Was sagen die bekannten Fakten dazu aus?

Keine Warnung zu erwarten

Die App soll Sie warnen, wenn Sie einer mit Corona infizierten Person zu nahegekommen sind. So ist die allgemeine Story. Das ist offenbar eher unsinnig. Die App kann nur warnen, wenn Ihr Smartphone einem anderen Smartphone nahegekommen ist, das einer Person gehört, die 1. positiv auf Corona getestet wurde, 2. die App nicht nur installiert, sondern zum Zeitpunkt des Kontaktes auch aktiviert hatte, 3. ihr Smartphone bei sich trug und 4. die positive Testmeldung brav in die App eingetragen hat. 5. müssen die unter 2. und 3. genannten Voraussetzungen auch bei Ihnen zu diesem Zeitpunkt zugetroffen haben. Nun ist allgemein bekannt, daß es neben den positiv getesteten Personen eine „Dunkelziffer“ gibt.

Ich bin da kein Experte — die mir bekannten Schätzungen bewegen sich vom fünf- bis zehnfachen der per Test identifizierten Fälle oder noch höher. Wenn die Dunkelziffer nur das fünffache beträgt, kann die App also nur durchschnittlich einen von sechs Fällen erkennen, in denen Sie Kontakt zu einer infizierten Person hatten. Wenn die Bedingungen 2. bis 4. bei immerhin 50 Prozent der Bevölkerung alle erfüllt sind — was ich für eine recht hohe Schätzung halte —, halbiert sich die Trefferquote nochmals: Sie werden in 1/12, also 8,33 Prozent aller kritischen Fälle gewarnt. Toll.

Diese Quote verschlechtert sich entsprechend, wenn der Anteil der Dunkelzifferfälle höher liegt als fünf von sechs, bei einer zehnfachen Dunkelziffer beträgt sie 1/22, also 4,55 Prozent. Und sie gilt nur für Sie, der sich schon für die App entschieden hat — setzt man bei zwei potentiellen Kontaktpartnern jeweils die Wahrscheinlichkeit der Erfüllung der genannten Bedingungen mit 50 Prozent an, halbiert sich die Trefferquote nochmals.

Und das ist eher ein „hoffnungsvolles“ Szenario. Gut vorstellbar wäre auch folgende Konstellation: Die Dunkelziffer beträgt das zehnfache der gemeldeten Fälle; zwei zufällige Kontaktpartner aus der Allgemeinbevölkerung haben jeweils eine 30-prozentige Wahrscheinlichkeit der Erfüllung aller obigen Bedingungen; dann liegt die durchschnittliche Trefferquote bei 1/11 mal 0,3 mal 0,3, also bei 0,82 Prozent. Herzlichen Glückwunsch zu diesem Beitrag zur Pandemiebekämpfung!

Die App wird Sie durchschnittlich so gut wie nie warnen — versprochen.

Sie warnt vor Kontakten innerhalb der letzten — wenn ich mich recht entsinne — 14 Tagen mit als infiziert getesteten Personen. Sie kann also nur vor denjenigen Personen warnen, die in den jeweils letzten 14 Tagen tatsächlich positiv getestet wurden. Die Zahlen kann man für Schleswig-Holstein täglich in Ihrer Zeitung nachlesen, oft liegen sie derzeit bei 1 oder 0. Ich bin zum Nachzählen zu faul und schätze die Zahl der in den letzten 14 Tagen positiv getesteten Personen in Schleswig-Holstein mal bewußt zu hoch mit 20. Wenn davon wiederum 50 Prozent die genannten Bedingungen — App installiert und so weiter — erfüllen, dann gibt es derzeit in ganz Schleswig-Holstein bei 2,8 Millionen Einwohnern schätzungsweise 10 „gefährliche“ Personen, vor denen Ihre App Sie warnen kann. Da müßten Sie selbst für einen Lokaljournalisten doch heftig weit herumkommen, um einem davon zu begegnen.

Falscher Alarm

Wenn die App Sie doch einmal warnen sollte, werden Sie zwar in fürchterliche Aufregung geraten und sofort alle wichtigen Termine der nächsten Tage schmeißen und Ihr Privatleben ruinieren, aber es wird höchstwahrscheinlich ein Fehlalarm sein aus folgenden, allgemein bekannten Gründen:

  1. Jeder Test hat eine gewisse Ungenauigkeit. Die derzeitigen Corona-Tests sind mit der heißen Nadel gestrickt und nicht ordnungsgemäß geprüft (validiert) und zugelassen — die Zeit dafür gab‘s nicht. Soweit mir bekannt, wird die Rate der falsch-positiven Resultate des von Professor Drosten entwickelten Tests bei nicht infizierten Proben mit 1,4 Prozent angegeben. Das ist eigentlich ein ganz guter Wert — nur: Inzwischen liegen nach den Zahlen des Robert-Koch-Instituts die Anteile der jeweils positiven Testergebnisse an der Gesamtzahl der Tests kontinuierlich sinkend bei nur noch 1,7 (20. Kalenderwoche) bis 0,8 Prozent in der letzten Woche (24. Kalenderwoche). Die Zahl der derzeitigen positiven Testergebnisse entspricht der Zahl der zufällig zu erwartenden positiven Testergebnisse unter der — hypothetischen — Voraussetzung, das Virus sei real ausgerottet. Wenn Ihnen also einer der 10 oder 20 testpositiven Schleswig-Holsteiner begegnet, handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine zufallsbedingte Falschmeldung — allerdings eben nur höchstwahrscheinlich, nicht sicher. Anders wäre das zu beurteilen bei massenhaften Ausbrüchen an bestimmten Orten, zum Beispiel in einer Schlachthofunterkunft; derlei wäre normalerweise nicht durch zufällige Fehler zu erklären.
  2. Die App warnt Sie bei Kontakten bis 14 Tage vor der nachgewiesenen Infektion beziehungsweise zufällig positiven Testung. Die betreffenden Personen befinden sich in Quarantäne und begegnen Ihnen nicht mehr. Sie könnten aber — deshalb die Warnung — schon vor der Testung und auch ohne Krankheitssymptome selber infektiös gewesen sein. Die 14 Tage sind dabei ein sehr großzügig gewähltes „Sicherheitsintervall“ — tatsächlich ist man normalerweise offenbar nur weniger als sieben Tage infektiös. Auch für den heutzutage hochgradig unwahrscheinlichen Fall, dass die App Sie nach einer Begegnung mit einer Person warnt, die tatsächlich infiziert war und nicht nur dem statistischen Testfehler zum Opfer fiel, liegt die Wahrscheinlichkeit wohl über 50 Prozent, dass diese Person zum Zeitpunkt Ihrer Begegnung noch nicht oder nicht mehr infektiös war.
  3. Noch werden die Smartphones nicht im Hirn eingebaut, sondern müssen herumgetragen werden. Die App registriert Kontakte nicht der Menschen, sondern der Telefone und warnt Sie auch dann, wenn Sie zum Beispiel nur kurz zum Essen gegangen sind und leichtsinnigerweise das Telefon auf dem Büroschreibtisch liegengelassen haben, ein Kollege auf der Suche nach Ihnen an Ihren Schreibtisch tritt, Ihre (Un-)Ordnung lächelnd besichtigt und dann wieder verschwindet, ohne daß Sie sich real begegnet wären. Wird er ein paar Tage später positiv getestet, werden Sie in Alarm versetzt, obwohl es keinen potentiell infektiösen Kontakt gab. Entsprechende Falschmeldungen gibt es zum Beispiel, wenn Sie im Geschäft das Einscannen durch die Kassiererin abwarten, beide mit Maulkorb und durch eine spucksichere Plexiglasscheibe getrennt. Wird sie oder Sie „app-positiv“, dann wird die andere Person alarmiert — dass eine Infektion praktisch ausgeschlossen war, wissen die Telefone ja nicht. Identifizieren können Sie diese Art von Falschalarm nicht. Selbst wenn die App Ihnen Zeit und Ort der Begegnung mitteilt und Sie sich auch noch erinnern, wo Sie zu dieser Zeit waren, dann weiß die App anhand ihrer Kontaktschlüsselzahlen dennoch nicht, ob der „Infektionsherd“ nun die Kassiererin in ihrem Hochsicherheitstrakt war oder der Kunde hinter Ihnen.

Zu einer kritisch-journalistischen Bearbeitung des Themas würde abschließend der Versuch einer Einschätzung gehören, in welchem Verhältnis der voraussichtliche Nutzen der App und der voraussichtliche Schaden stehen — zum Beispiel durch falsche Alarme, meinetwegen auch durch falsche Sicherheitsgefühle von Personen, die nie eine Warnung erhalten.

Ob man dann noch die Frage anschließt, ob die Regierung ihre amtliche Propaganda für die App-Nutzung wirklich selber glaubt oder was sonst dahinterstehen mag — das ist Geschmackssache beziehungsweise eine Frage der politischen Einstellung, und da soll man ja in der Lokalzeitung zurückhaltend sein.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit Ihrer neuen App.

Freundliche Grüße
Stephan Richter


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