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Das Comeback der Sklaverei

Das Comeback der Sklaverei

Zwangsarbeit ist in vielerlei Form wieder auf dem Vormarsch — und dies nicht nur im kriminellen Milieu oder in „illiberalen“ Staaten.

von Ingo Schmidt

Der stumme und nicht ganz so stumme Zwang der Verhältnisse

Ein früher Kritiker liberaler Selbstgerechtigkeit war Karl Marx. Dass es unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen mit der Gleichheit nicht weit her und die Freiheit fragwürdig ist, die Eckpunkte liberalen Denkens also etwas versprechen, was der Kapitalismus nicht einlösen kann, war ideologiekritischer Ausgangspunkt des Marx'schen Projekts. Die politische Schlussfolgerung: Wirkliche Freiheit und Gleichheit kann es nur in einer sozialistischen Gesellschaft geben, in denen die Produktionsmittel allen gehören und von allen zur Ausführung als notwendig erachteter Arbeiten verwendet werden.

In „Lohnarbeit und Kapital“ arbeitete Marx die Unterschiede zwischen Sklavenarbeit und Lohnarbeit heraus. Im ersten Band des „Kapital“ zeigt er, dass die Freiheit, Verträge abzuschließen, Menschen, die weder über eigene Produktionsmittel verfügen, noch Einkommen von anderen beziehen, dazu zwingt, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Und sich damit für die Zeit, in der sie arbeiten, dem Kommando des Käufers ihrer Arbeitskraft unterstellen.

Die analytische Unterscheidung von Sklavenarbeit und Lohnarbeit, die eben auch Parallelen zwischen beiden offenlegte, verstellte Marx keinesfalls den Blick für die historische Koexistenz beider Formen der Arbeit. Die Lieferkette der Baumwollindustrie, die Marx vor Augen hatte, reichte von der mit physischer Gewalt erzwungenen Sklavenarbeit auf den Plantagen der amerikanischen Südstaaten über die Lohnarbeit in englischen Textilfabriken bis nach Indien, dessen Kleinproduzenten durch den Import der mit Sklaven- und Lohnarbeit hergestellten Textilien in den Ruin getrieben wurden und die, ihrer Produktionsmittel beraubt, nun selbst zu Arbeitern wurden, die unter dem stummen Zwang der für sie neuen Verhältnisse nach Arbeit suchten. Manche wurden Lohnarbeiter, viele fanden sich in der Schuldknechtschaft wieder — eine Art Selbstversklavung auf bestimmte, oft auch unbestimmte Zeit in unzähligen britischen Kolonien.

Derweil war der stumme Zwang der Verhältnisse auch im imperialen Zentrum von der Androhung und Ausübung direkter Gewalt unterlegt. Die Schaffung eigentumsloser Proletarier ging mit dem Verbot von Landstreicherei und drakonischen Strafen für Eigentumsdelikte einher. Mundraub war nicht geduldet, wurde oft mit dem Tod bestraft, aber auch mit Zwangsdeportationen und Versklavung in den Siedlerkolonien. Nicht alle Siedler gingen freiwillig dorthin. Für die herrschenden, sich als globale Vorkämpfer des Liberalismus gerierenden Klassen Großbritanniens und Amerikas ist das eine peinliche und gern verschwiegene Geschichte. Über das Fortbestehen verschiedener Formen der Zwangsarbeit bis in die Gegenwart schweigen die herrschenden Klassen aller Länder. Zumindest sofern es dabei um ihre jeweils eigenen Herrschaftsräume geht.

Zwangsarbeit heute

Dem stummen Zwang kapitalistischer Produktionsverhältnisse ist heute ein weit größerer Teil der Weltbevölkerung ausgesetzt als zu den Zeiten von Karl Marx. Für einen, im Weltmaßstab allerdings sehr kleinen, Teil davon wird der Zwang sozialstaatlich abgemildert. Dazu bedurfte es langer Kämpfe, und liberale Ökonomen behaupten seit dem Aufkommen der ersten Mindestlöhne und Sozialversicherungen, diese würden die Freiheit der Arbeitsuchenden unzulässig einschränken, weil sie Arbeitsplätze, die in Abwesenheit solcher Kostentreiber rentabel wären, aus dem Markt drängen. Länder, in denen die Arbeiterbewegungen zu schwach zur Durchsetzung sozialer Mindeststandards waren, beweisen, dass das nicht stimmt. Trotz Hungerlöhnen gibt es dort viel mehr Arbeitsuchende als in Ländern, in denen soziale Mindeststandards durchgesetzt werden konnten und trotz jahrzehntelangem Sozialabbau weiter fortbestehen. In Ersteren gibt es auch die meisten Zwangsarbeiter. Was nicht heißt, dass es in sozialstaatlich regulierten Ländern keine Zwangsarbeit gibt.

Wie zu Marx’ Zeiten gibt es auch heute entlang einzelner Wertschöpfungsketten eine Mischung aus Zwangs- und Lohnarbeit. Genau wie damals ist Zwangsarbeit stärker in den Peripherien, Lohnarbeit in den Metropolen konzentriert.

Zu Marx’ Zeiten gehörten die USA einschließlich ihrer sklavenhaltenden Südstaaten noch zur globalen Peripherie.

In jener Zeit entwickelte sich auch das unter dem Namen „Jim Crow“ bekannte System der Ungleichheit vor dem Recht, das den stummen Zwang der Verhältnisse so weit verschärfte, dass der Unterschied zur Sklaverei immer geringer wurde. Sklaven aber galten ihren Besitzern als Vermögen, sie wurden deswegen auch dann noch durchgefüttert beziehungsweise ihnen die Nutzung von Anbauflächen zur Selbstversorgung erlaubt, wenn es infolge schlechter Konjunktur wenig zu tun gab. Trotz niedrigsten Lebensstandards und aller Qualen war Sklaverei recht kostspielig, unter anderem deshalb empfahl Adam Smith ihre Abschaffung.

Das Ende der formalen Sklaverei bei gleichzeitiger Zweitklassigkeit der mehr oder weniger freien Bürger schuf profitablere Möglichkeiten der Zwangsarbeit, die bis heute fortbestehen; sie haben in den letzten Jahren im Namen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sogar erheblich zugenommen.

Es sind Arbeiter, die keinerlei Rechte geltend machen können, weil sie illegale Einwanderer sind. Arbeiter, die mit befristeter, an ein Unternehmen gebundener Arbeitserlaubnis im Ausland arbeiten. Formal haben sie für die Zeit ihrer Beschäftigung die gleichen Rechte wie inländische Beschäftigte, können sie aber nicht geltend machen. Recht zu bekommen kostet mehr, als die meisten sich leisten können. Wer infolge einer Beschwerde mit dem Verlust der daran geknüpften Aufenthaltserlaubnis rechnen muss, wird gar nicht erst versuchen, Recht zu bekommen. Viele wissen auch gar nicht, welche Rechte sie haben.

Selbst wenn legale Diskriminierung abgeschafft wurde, finden sich die Betroffenen viel öfter in Zwangsarbeitsverhältnissen als andere Gruppen. Das gilt für die Schwarzen in den USA, für die Dalit in Indien, für Frauen überall auf der Welt. Werden Schulden aufgenommen, um sich im informellen Sektor über Wasser zu halten, zum Arzt zu gehen oder Auswanderung und Vermittlung eines Arbeitsplatzes zu finanzieren, ist es zur Schuldknechtschaft nicht weit.

Aber es geht auch mit nackter Gewalt. In manchen Teilen der Welt tolerieren staatliche Instanzen das Treiben von Menschenjägern, die in den Armenvierteln Menschen mit vorgehaltener Waffe rekrutieren, in Arbeitslager verschleppen und auf die Straße werfen, wenn sie sich kaputt geschuftet haben. Anders als die Sklaven vergangener Zeiten gelten diese Zwangsarbeiter nicht als Vermögen, sondern als billigst zu verbrauchende Arbeitskraft. Sie sind Wegwerfmenschen. Das Auslagern bestimmter Produktionsabschnitte an Subunternehmer erlaubt multinationalen — mehrheitlich in liberalen Vorzeigegesellschaften beheimateten — Konzernen die Ausbeutung dieser Billigstarbeitskräfte und zugleich, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Sie wollen gar nicht wissen, wie es am unteren Ende der Wertschöpfungskette zugeht.

Nicht ganz so unwissend sind Unternehmen, die Zwangsarbeiter in amerikanischen Gefängnissen beschäftigen. Mit der Abschaffung der Sklaverei wurde Zwangsarbeit formal verboten. Mit einer Ausnahme: Strafgefangene können zu solchen Arbeiten herangezogen werden. Gefängnisse leihen Zehntausende von Gefangenen an private Firmen aus, darunter bekannte Namen wie AT&T, Boeing, Dell und Microsoft. Viele dieser Gefängnisse sind privat und machen ein glänzendes Geschäft. Vom Staat erhalten sie fette Dollarbeträge zur Unterbringung der Gefangenen, für deren Verleih als Zwangsarbeiter kassieren sie von ihren jeweiligen Auftraggebern Dollarbeträge, zahlen den Gefangenen aber nur ein paar Cent. Kein Wunder, dass Zwangsarbeit in liberalen Gesellschaften selten ein Thema ist.


Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.


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