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Das Geschenk der Schönheit

Das Geschenk der Schönheit

Im Sommer zeigt die Natur, was in ihr steckt — wenn wir uns liebevoll auf sie einlassen, widerstehen wir der Dominanz des Seelenlosen in unserer Kultur.

Das Geschenk des ganz frühen Sommermorgenlichtes, zart noch und von ferne kommend, lässt bald den Kiefernstamm vor dem Fenster orangerot aufleuchten. Mit Frische und Leichtigkeit trägt es mich auf seinen weiten Schwingen hinaus in die Gärten der Natur in den Garten mit den alten Liliensorten, die wie verzaubert wirken in wunderlichen Farbkombinationen und der Blütentextur, die ganz feinem, hochwertigem, knittrig aufgeworfenem Papier ähnelt. Die Innenräume der Blütenhäupter wie lichtdurchflossene Gewölbe.

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Jede Pflanze in ihrem ganz eigenen Habitus scheint mir eine fast persönliche Gestalt zu sein, mit der eine wirkliche Begegnung möglich ist. Durch das Sosein der Pflanzen hindurch spüre ich die Gärtnerhand, die sie umhegt und pflegt. Ich frage mich, wer hier der Gärtner ist, weil an diesem Ort Mythen und Geschichten weben.

Da eilt die wachende Gestalt mit fliegendem langem Haar und fließendem Gewand elfenhaft herbei. Der Rosengärtnerin, inzwischen eine liebe Freundin, begegnete ich bereits im vergangenen Herbst, als ich auf der Suche nach einer der letzten Rosen für ein Pastellbild war und eine große im Abendlicht leuchtende Kletterrosenblüte hoch oben überm Scherengitterzaun entdeckte. Sie war mit 88 Jahren ebenso alt wie meine Mutter. Ihr Mann war im selben Jahr und im gleichen Alter gestorben wie mein Vater. Im Garten blühte Mutterkraut, und die Wege waren aus Gras, über das es sich weich laufen lässt.

Als ich nun durch die Gartenpforte trete, erblicke ich die Rosengärtnerin ruhend am Wasserbecken, auf dem sich hin und wieder eine Libelle niederlässt, ihren zackigen Flug unterbrechend. Sie schaut versonnen in die Rosen, die ringsum bis in die Höhen hinein blühen, duften und den Garten abschirmen. Geöffnete Blüten, umgeben von zahlreichen Knospen, wippen im Sonnenlicht vor dem satten, schattenspendenden Grün.

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Aufbrechende Rosenwogen zeigen ihre ästhetische Pracht in vielfältigen Farbschattierungen und Varianten. Die sommerliche Natur zeigt sich öffnend und freundlich. Jede Blüte wie ein seelenvolles Angesicht, eine schöner und anmutiger als die andere. Die menschliche Freude daran weist auf lange Tradition und zeigt sich in den zahlreichen Sorten und Züchtungen, bei denen sich ein erstaunlicher Kenntnisreichtum erwerben lässt.

Wenn ihren Blick, den einer Aquarell- und Porzellanmalerin, etwas in der Ordnung des Gartens stört, steht sie auf und gärtnert. Leise, wie schwebend bewegt sie sich groß und langbeinig durch den zauberhaften Garten. Eben noch habe ich ihre Stimme nah am Ohr und lausche dem Nachklang ihrer Worte, entdecke ich sie, als ich ein wenig später aufblicke, im hinteren Bereich des Gartens, ihren Schützlingen zugewandt mit leicht pflegender Hand. Es scheint mir, so wie sie ihren Garten ordnet, ordnet sie auch Worte, Gefühle und Gedanken. Und darin wiederum meine ich ihre Großmutter zu spüren, von der sie hin und wieder erzählt. Die Gärten tragen jeweils die Signatur der Menschen, die in ihnen wirken und tätig sind.

Den Gemeinschaftsgarten hat ein alter, jung gebliebener, langhaariger, meditierender und die Geige spielender Theologe begründet. Ich genieße es, das Gartentor zu öffnen und eingelassen zu werden in dies bunt getupfte Areal mit Sonnen- und Ringelblumen, Kräutern, Gemüse und in die menschliche Gemeinschaft. Von der weinumrankten Laube her dringt Geplauder herüber und Lachen. Im friedlichen Miteinander wird konzipiert, gegärtnert, gestaltet und geerntet. Zucchini, Rucola, einige Stängel Beifuß, Brennnesselsamen, grau bereifte Melde oder ein Würzelchen zum Einpflanzen; es gibt immer eine Kleinigkeit zum Mitnachhausenehmen. Ein eigener überschaubarer Raum, in dem Insekten schwirren. Das Gemurmel der menschlichen Stimmen, ein friedlicher Ort.

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Der Garten so vielfältig im Werden, dass er immer etwas unfertig wirkt und doch sprechend in all dem, was wächst, der Kürbis orangerot schwer auf der Erde des Hochbeets liegend, Blüten und behaarte Ranken an den gespannten Seilen sich emporwindend. Die dunkelviolette Holzbiene umschwirrt die Kräuterspirale. Die Kapuzinerkresse gedeiht besonders gut. Es überträgt sich eine sprühende Lebenskraft von den hier wachsenden Pflanzen, ein wohltuender Lebensraum, ein eigener kleiner Kosmos.

Die Pflanzen hören gleichsam die Worte der Menschen, ihre Sorgen und Betrachtungen. Die taumelnden Schmetterlinge schenken Freude. Wenn die Außenwelt harmonisch ist, dann harmoniert sie mit der Innenwelt. Ausdruck und Eindruck schaffen ein eigenes und immer wieder neues Ganzes. Das Gärtnersein ist eine Passion.

Ein Leben ohne Pflanzen ist wie ein Leben ohne Musik, ein Irrtum. Das Unsagbare, das heißt die Worte Übersteigende in der Musik ähnelt dem Unsagbaren in der Natur. Die Natur braucht den Menschen.

Bald brennt die Sonne auf den Schultern. Die Kräuteraromen werden gewissermaßen gesotten und erreichen in der heißen Jahreszeit ihre höchste Intensität. Insekten schwirren schnell und behend von einer Blüte zur nächsten, von hier nach dort und wieder zurück. Gründlich erfolgt die Bestäubung. Ganz vom männlichen Blütenpollen bepudert nicht nur die weibliche Narbe in der Blütenkopfmitte, sondern auch das haarige Fell der Hummel und die benachbarte Knospe gleich mit. Überfluss allenthalben, verschwenderische Fülle.

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Die Bienen tragen ihre Pollenhöschen. Es duftet, glänzt, entbirgt Schönheit, und alles bekommt einen übergeordneten Sinn. Chiffren und Muster auf den Flügeln der Schmetterlinge, Formen, Farben, Düfte – Ausschnitte, von einem größeren Ganzen kündend. Die präsente Wirklichkeit alles Mitwesenden fügt mich in dieses große umfassende Bewusstsein ein.

Die Natur arbeitet in höchster Komplexität und Effizienz. Das straffe Tätigsein im Zeitplan des Blühens und Werdens ist faszinierend. Der Zeitrhythmus lässt sozusagen kein Zaudern zu. Alles folgt seinem Sosein, wird seinem innersten Plan gerecht. Im Sommer geht es um Blühen und Werden, um Befruchtung und Bestäubung, eine feine, fast möchte ich sagen höhere Form beglückender Erotik liegt über allem. Eine Hochzeit, eine hohe Zeit. Rauschendes Fest und Arbeit gehen ineinander über. Der Fleiß der emsigen Bienen ist sprichwörtlich geworden.

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Der Blütenbiologe Christian Konrad Sprengel veröffentlichte 1793 in Berlin sein Buch, das den Zusammenhang zwischen Pflanzenbestäubung und Insekten erklärt: „Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen“. Seine Maxime war: „Man muss die Natur auf der Tat ertappen suchen.“ Den Plan der Natur könne man nicht „auf dem Studierzimmer“ entdecken, sondern nur draußen am natürlichen Standort.

Die verschwenderische Überfülle der Natur, ihre grandiose Fruchtbarkeit, das, was uns so selbstverständlich schien, muss es erst in so eine starke Bedrängnis geraten, dass wir seinen Wert und tiefe Bedeutung schätzen lernen?

Es zeigt sich ein Wunderwerk im Kleinen, das mich in seinen Bann zieht, bergend und umhüllend glücklich macht. Ich bekomme überhaupt erst eine Ahnung, welche Qualität in dem Begriff Vitalität steckt, denn ich habe das Gefühl, dass mein Leben sich sozusagen bis zum Wurzelgrund ordnet.

Alles ist im Werden. Sterbeformen sind immer auch Werdeformen, nur der Fokus des Werdens hat sich verschoben. Wo der Vegetationskegel ist, dort konzentrieren sich die Kräfte der Erneuerung, des Werdens, des sich Gestaltenwollens. Kaum ist das Blütenblatt verweht, wird unter der weiblichen Narbe der dicker werdende Fruchtknoten sichtbar. Das Werden im Sinne neuen Schaffens ist ein Maß in der Natur. Das Leben verbraucht sich, reichert sich aber immer auch an. Es überdauert, oft auf wunderliche Weise.

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In der stillen Waldeslichtung steht der Fingerhut, und wieder spüre ich die vibrierende Präsenz ringsum. Wahrnehmung und Sinne schärfen sich. Glück und Aufmerksamkeit verbinden sich. Angst löst sich aus den Schulterblättern. Mein Inneres weitet sich bis tief in den Wald hinein, in die Schichten des Adlerfarnes, in kleinste Blüten auf dem Sandboden und in raschelnde Baumwipfel. Die Natur blickt und spürt zurück. Selbst die Schwebfliege auf dem Fingerhut, verweilt sie angstfrei und scheint mich zu spüren oder anzuschauen, fühlt sich gar wahrgenommen?

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In diesem Augenblick fiel mir die kurze Sequenz aus einem Wissenschaftsreport ein, die ich am Abend zuvor angeschaut hatte. Es wurde ein metallener Roboterzeigefinger vorgeführt, der mit einer im Reagenzglas gezüchteten menschlichen Haut umkleidet war. Als dieser anfing, sich zu bewegen und sich leichenblass aufrichtete, kam er mir vor wie ein Etwas aus der Dunkelwelt. Ich bezweifle stark, dass das Ziel dieser Forschungstätigkeit, die Akzeptanz des Roboters in der Bevölkerung zu erhöhen, hierdurch eingelöst werden kann.

Der Feldzug gegen die Natur, gegen die Geschlechtlichkeit und die menschliche Seele ist, wie wir wissen, in vollem Gange. So sucht sich das Prinzip einer gierigen und geistlosen Intelligenz vollends zu etablieren, das sich gottgleich dünkt und dies auch verbalisiert, da allenthalben Materialismus und Atheismus Einzug gehalten haben.

Unser Sein wird zukünftig in einem höllischen Schmelztiegel enden, wenn diese Bedrohung nicht dazu führt, das eigentlich gemeinte Menschsein zu erhalten und zu steigern. Dies scheint zum Prüfstand für uns alle zu werden.

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Fotos: Ulrike Kirchhoff


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